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WIEN/ DAS OFF THEATER: TANZ IM OFF II (2/4): Soraya Leila Emery

13.12.2024 | Ballett/Performance

WIEN/ DAS OFF THEATER: TANZ IM OFF II (2/4): Soraya Leila Emery

„Vanilla Baby!“ von hot stuff

Die marokkanisch-schweizerische Tänzerin und Choreografin Soraya Leila Emery inszenierte für die in Wien lebende italienische Tänzerin Desi Bonato und den zwischen Berlin und Zürich pendelnden spanischen Tänzer Abraham Iglesias Rodriguez ein Spiel mit Verkleidungen und zwei Grappling-Dummies. Grappling ist ein in den 70ern entstandener Kampfsport, auch das Brasilianische Jiu Jitsu genannt.

Mit geschickter Lichtregie (Fredi Thiele) aus dem Dunkel das Raumes herausgearbeitete Akteure, ob warm oder kalt, erkunden die Zwischenräume einer durch Menschliches und Nicht-Menschliches flankierten Realität, die ihrerseits wiederum durch Performance, ob auf der Bühne oder außerhalb, korrumpiert wird. Zwischen Schein und Sein beginnen sie ihr Spiel, Brücken bauend in die Tribüne. Noch maskiert mit egalisierendem Outfit.

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hot stuff (Soraya Leila Emery): „Vanilla Baby!“ © Maria Cheilou

Der Tanz wechselt seine Geschwindigkeit und Intensität, angetrieben von Sound (Sinan Moses) und Stille. Martial Arts, Zeitgenössisches, Akrobatik und Performatives verwebt Emery zu einem Gewirk, in dem das Eigentliche zwischen den Fäden zu finden ist. Sie tanzen zwischen Dominanz und Unterwerfung, zwischen Gewalt und Hingabe, Privatheit und Öffentlichkeit. Vom Festen ins Flüssige wandeln sie ihr Sein, entdecken sich und uns Facetten einer verborgenen, verdrängten inneren Wirklichkeit, deren Authentizität berührt. Er lässt sie fliegen in einem erotischen Duett voller Zärtlichkeit, sie hält ihn am Boden in den Armen. Es knistert vor Spannung in der Stille.

Wie Rodriguez im schwarzen Kleid, mit High Heels und langer schwarzer Perücke vor uns steht und sich in seiner Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit zeigt im Licht der Stirnlampen von Soraya Leila Emery und Cassiel Gaube (Tänzer und Choreograf aus Brüssel), die einige Male Support performen, macht ganz weich. Er verwischt die Grenze zwischen männlich und weiblich nachhaltig. Das kurze Blenden des Publikums danach erzeugt sofort wieder Distanz. Doch nur Show?

Die Stirnlampen verfolgen ihn, als er “Back To Black” von Amy Winehouse lippensynchron mitsingt. Und Bonato entleert einen Dummy, häuft die Watte neben sich an und hält die leere Plastikhaut dann im Arm. Es ist unser Blick, der das Außen definiert. Es ist unser Blick, der von Hüllen betrogen wird. Und es ist sie, die Frau, die den Gegner seiner Macht beraubt. Sie erkennt im Dummy ihr alter ego und ebenso die Menschen um sie herum, sie durchschaut Fassaden, Selbstbetrug und fremde Täuschung. Beide entlarven die Kontinuität einer patriarchal zementierten Entfremdung, einer auf Konkurrenz basierenden Gesellschaft.

Sie hält den (sinn-) entleerten Dummy im Arm. “Wohlan denn!” scheinen sie am Ende zu rufen mit ihrem Stehen vor uns, am Anfang eines langen Weges, dessen erste Schritte, Erkenntnis und Ermächtigung, gegangen sind. Das in diesem Frühjahr in Zürich uraufgeführte Stück “Vanilla Baby!” ist ein starkes antipatriarchal-feministisches Statement, von zwei grandiosen TänzerInnen in ganz eigener, komplexer und poetischer Bildsprache auf die Bühne gestellt. Wunderbar!

 

“Atlas” von Soraya Leila Emery

Das zweite bei diesem Festival gezeigte Stück von Soraya Leila Emery ist ein vor fünf Jahren uraufgeführtes Solo, getanzt von Desi Bonato. Titelgebend war Atlas, der Bruder des Prometheus, ein Titan, der in der griechischen Mythologie als Verlierer des Titanenkampfes gegen die Olympier von Zeus bestraft das Himmelsgewölbe am westlichsten Punkt der damals bekannten Welt zu stützten hatte.

Die Metaphorik wird klar, wenn man den Saal betritt und das Bühnenbild mitsamt bereits am Tisch sitzender Tänzerin erblickt. Der Boden im schwarz-weißen Schachbrett-Muster, um dieses Areal herum hängt Wäsche zum Trocknen, an einem Tisch hinten in der Ecke, auf dem Wasserflasche, Teller und Glas stehen, sitzt eine erschöpfte Frau. Atlas trägt den Sternenhimmel, die Frau als solche einen Großteil der irdischen Lasten.

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Soraya Leila Emery: „ATLAS“, im Bild: Desi Bonato © MyO Photography

Desi Bonato brilliert ein zweites Mal mit ihrer tänzerischen und hier auch mimischen Darstellung. Die Authentizität und kraftvolle Expressivität ihres Tanzes, ihr Einfühlungsvermögen in die Psyche der unterdrückten, leidenden und sich auflehnenden (Haus-) Frau sind beeindruckend. Die Auswirkungen der physischen Belastungen bei der Bewältigung der Hausarbeit, eine permanente körperliche und mentale Erschöpfung durch nie endende und sich stetig wiederholende, ewig gleiche Verrichtungen, die Bindung an „Heim und Herd“, die Ausweglosigkeit ihrer Situation, die innere Leere und die empfundene Macht- und Hoffnungslosigkeit machen sie schier wahnsinnig.

Zum Ende hin bittet sie freundlich immer mehr Zuschauende zum Tanz mit ihr auf die Bühne und verpaart diese zu selbstständig Tanzenden. Das enge Bühnen-Zimmer füllt sich mit gut gelaunten Menschen. Das Volk amüsiert sich um sie herum, während die Tänzerin hoch oben hockt auf dem Berg von Wäsche, der auf dem Stuhl liegt, der auf dem Tisch steht, anonymisiert mit verhülltem Kopf.

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Soraya Leila Emery: „ATLAS“, im Bild: Desi Bonato © MyO Photography

Die Himmel sind eingestürzt. Sie sitzt auf den Trümmern ihrer Träume und der Mühsal dieser Welt und tront gleichzeitig als sich ihrer Kraft und Macht bewusst gewordene Frau, gekrönt mit einem Wäschestück, hoch über einer das Patriarchat dumpf fortlebenden, feiernden Menge. Es ist eine Kampf-Ansage. Sie scheint zu sagen: „Wartet nur ab!“ Dieses nur halbstündige ist ein weiteres starkes feministisches Tanzstück.

Soraya Leila Emery studierte zeitgenössischen Tanz am CFPArts in Genf, graduiert 2014, und am SEAD in Salzburg (2017). Erst im Juni dieses Jahres hat die 1993 in Marokko geborene Künstlerin von der ZHdK Zürich ihren Master in Choreografie erhalten. Sie sagt, dass sie dieses Stück eigentlich nicht mehr so recht mag. Wenn man ihre zwei hier gezeigten Arbeiten vergleicht, wird verständlich, warum. Die Bildsprache in “Atlas” ist eine weit weniger komplexe als die im fünf Jahre später entstandenen “Vanilla Baby!”. Das deutet auf eine rasante und von hohen Ansprüchen an sich selbst zeugende künstlerische und persönliche Entwicklung hin und lässt einen gespannt in die Zukunft blicken.

Soraya Leila Emery mit „Vanilla Baby!“ und „Atlas“ am 09. und 11.12.2024 im Rahmen von „TANZ IM OFF II“ im OFF THEATER Wien.

Rando Hannemann

 

 

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