WIEN/ DAS OFF THEATER: TANZ IM OFF II (1/4): orgAnic revolt und Cie. Kumquat
In seiner zweite Auflage zeigte das Festival für zeitgenössischen Tanz „TANZ IM OFF II“ an sechs Tagen zwischen dem 6. und 14. Dezember neun Arbeiten, kuratiert von der Tänzerin und Choreografin Bianca Anne Braunesberger und dem künstlerischen Leiter und Direktor des OFF THEATERs Ernst Kurt Weigel, selbst auch Autor und Schauspieler. Die tänzerische und inhaltliche Bandbreite der Stücke bildet beispielhaft Ausschnitte einer ungemein lebendigen (nicht nur) österreichischen Tanz-Szene ab. Heuer sind erstmals auch zwei schweizerische Beiträge zu sehen.
„This Is What Happened In The Telephone Booth”
orgAnic reVolt und das.bernhard.ensemble zeigen in einer Wiederaufnahme das 2019 an gleicher Stelle uraufgeführte Stück „This Is What Happened In The Telephone Booth”. Sie war erst zehn Jahre alt, als ihre Mutter nach einem Telefonat mit ihrem Geliebten völlig verändert aus einer Telefonzelle kam, von da an psychisch gestört. Die heutige Tänzerin und Choreografin Leonie Wahl begann damals zu tanzen. Sie spekuliert in diesem Tanz-Theater-Stück über das Geschehen in der Zelle, erzählt von Folgeerscheinungen und beschreibt eindrücklich die Wurzeln ihres Tänzerinnen-(Da-)Seins.
Wahl/Weigel: “Telephone“, Ensemble © Barbara Palffy
tanz.at und onlinemerker berichteten damals bereits über dieses hier partiell neu besetzte, sehr persönliche Stück. In einer Choreografie von Leonie Wahl repräsentieren fünf TänzerInnen/PerformerInnen auf der Bühne (Yvonne Brandstetterfür damals Michael Welz, Hannah Timbrell, Leonie Wahl, Kajetan Dick, Ardan Hussainfür Gerald Walsberger) fünf höchst unterschiedliche Aspekte der Persönlichkeit der Mutter, entwickeln auf diesem Fundament fünf Szenarien für die Vorgänge in der Zelle.
Tamara Stern, am Bühnenrand positioniert, karikiert brillant und amüsant mit ihrer Stimmakrobatik einen immer wieder anderen, unverständlich piepsenden, labernden, wimmernden Geliebten am Telefon. Sie zeigen fünf Resultierende einer (zumindest für dieses Stück) in fünf Anteile dissoziierten Persönlichkeit. Was könnte dieses Trauma getriggert haben? Der Boden jedoch, und das scheint sicher, war schon fruchtbar.
Die sich in der Folge entwickelnden kommunikativen Störungen, Verwicklungen, Rupturen und Verzerrungen, Ursache und Wirkung in Einem, stellen sie mit viel Witz, Ironie und der ihnen innewohnenden Tragik in den Raum, der unser aller ist.
„Ich bin wie du!“, sagen die Mütter zur Tochter. Diese flieht den Wahnsinn, erst physisch, dann in den Tanz. Die Wirkungen auf die Tochter waren immens. Kinder fühlen sich verantwortlich für Probleme der Eltern, insbesondere der Mütter. Leonie Wahl tanzt und spricht in einem Solo immer intensiver von ihrem atemlosen Streben zum Besseren hin, zur Perfektion. Sie kompensiert Schuldgefühle und die Überzeugung, nicht zu genügen. Aber sie kommt ins Fliegen, erlangt Freiheit.
Wahl/Weigel: “Telephone“, im Bild: Leonie Wahl © Barbara Palffy
Tanz, Theater, Stimme, Sprache, Bühnenbild, Licht und Sound vereinen die Choreografin Wahl und der Regisseur Weigel zu einem wahn-witzigen Bühnenereignis, das auch fünf Jahre nach seiner Uraufführung mit gleicher Intensität den Finger in unser aller Wunden steckt, in unsere ererbten Traumata. Ihre Offenheit und schonungslose, absolute Ehrlichkeit sich selbst gegenüber sind die Voraussetzung für Selbsterkenntnis und schließlich Heilung. Sie tanzt die Loslösung von den selbst-sabotierenden, transparenten Überzeugungen von sich, sie tanzt Kunst als Therapeutikum.
Cie. Kumquat: „Alter“
Die beiden ausgebildeten Akrobatinnen Verena Schneider und Charlotte Le May gründeten ihre Kompanie Kumquat mit dem Ziel, introspektiven Zirkus in Arbeiten, die Tanz und Akrobatik, Text und Sound miteinander verschmelzen, als eine Kunstform zu etablieren, die Empathie und Kommunikation verkörpern. Die Inspiration für „Alter“ waren Interviews mit den zwei in Frankreich lebenden Sozial-Arbeiterinnen Lara Peyret und Maryannick Raffault, in denen diese von ihren Lebensgeschichten und dem, was sie antreibt, berichten.
In ihrer Performance verwischen sie die Konturen der vier Frauen. Wer sich in ihren umfänglichen Textbeiträgen, deutsch, französisch und englisch vorgetragen, gerade äußert, bleibt meist unklar. Somit lernen wir vor allem Verena und Charlotte kennen über die sieben Fragen, die sie wie Kapitel-Überschriften ansagen, um über diese dann physisch und textlich zu reflektieren. Sie reißen die Genre-Grenzen zwischen Tanz und Akrobatik nieder, lassen beides ineinander fließen zu einem Tanz, der geprägt ist von faszinierenden physischen Fähigkeiten, einer imponierenden Präzision, gepaart mit großer Sensibilität und Achtsamkeit.
Cie. Kumquat: „Alter“ (c) Martina Stapf
„Ich bin stolz, ich selbst und die beste Vision von mir zu sein.“ (Wer kann das von sich sagen?) Sie sinnieren über das Altern, den Tod („Das Leben ist ewig. Der Körper nicht. Aber was ich bin, bleibt.“), das Einssein mit sich selbst und die Verbundenheit mit allem. Wir erleben Verena Schneider und Charlotte Le May als nachdenkliche, besonnene und feinsinnige Beobachterinnen, deren Wertesysteme und geistig-moralische Fundamente von beachtlicher Reife zeugen.
Ebenso ihre physische Performance. Sie entwickeln eine Ästhetik zwischen körperlich ungemein fordernder Akrobatik und diese Kraft und den erforderlichen Tonus durchsetzende Offenheit, Anteilnahme, Aufmerksamkeit und Empathie. Mit ihrem zuhören und verstehen Wollen unterscheiden sie sich von der Masse unserer Mitmenschen. Sie öffnen sich dem Anderen, was nicht nur einen anderen Menschen, sondern das im weitesten Sinne vom Eigenen Abweichende meint.
Cie. Kumquat: „Alter“ (c) Martina Stapf
Der mehrdeutige Titel ihrer Arbeit weist nicht nur auf das Lebensende und an Jahren gereifte Persönlichkeiten hin. Zudem erkennen sie im Anderen ein alter ego für ihr Ich, auch für ihre dunklen, unbewussten Seiten. Der Weg, den die beiden Künstlerinnen gewählt haben, ist unumkehrbar. Er wird sie immer weiter führen in die verborgensten Winkel der Wahrhaftigkeit. Wie weit sie auf diesem Pfad bereits vorangekommen sind, zeigen sie mit „Alter“ eindrücklich. Ihre Authentizität und Präsenz, ihre Bescheidenheit und Selbstverständlichkeit, mit der sie ohne jede Attitüde ihre beeindruckenden akrobatisch-tänzerischen Fähigkeiten präsentieren, dabei zärtlich, mitfühlend und ungeheuer empathisch miteinander agieren, nehmen gefangen und berühren.
orgAnic revolt und das.bernhard.ensemble mit „This Is What Happened In The Telephone Booth” und Cie. Kumquat mit „Alter“ am 07.12.2024 im Rahmen von „TANZ IM OFF II“ im OFF THEATER Wien.
Rando Hannemann