WIEN / Burgtheater:
KINDER DER SONNE von Maxim Gorki
Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin
16. März 2013
Das Burgtheater gastiert mit seinen Produktionen regelmäßig in deutschen Städten, und schon um das eigene Blickfeld zu erweitern, muss man über jedes Hochklasse-Gastspiel froh sein, das uns erreicht. Obzwar die „Kinder der Sonne“ nicht eben die jüngste Produktion des Deutschen Theaters in Berlin sind – die stehen schon seit Oktober 2010 (!) auf dem Programm. Immerhin, es ist eine berühmte Inszenierung mit zumindest zwei überregional bekannten Darstellern. Grund genug für das Interesse eines sehr gut gefüllten Hauses.
Ein wenig verloren irren sie umher, das stark reduzierte Personal von Maxim Gorkis Stück, sechs Hauptpersonen, von den Nebenrollen ist einzig Jegor geblieben, einst Schlosser, nun auch „Hausmeister“. Das Bühnenbild von Katja Haß besteht vordringlich aus Stäben, wer einen Sessel braucht, muss ihn sich selbst mitbringen, die Kostüme von Anja Rabes sind schlicht und schäbig heute, die Übersetzung von Ulrike Zemme und die Bearbeitung von Regisseur Stephan Kimmig haben aus dem einstigen Chemiker Protassow einen Genforscher gemacht, von einem Computer ist einmal die Rede (und Scherze über deutsche Dichter sind höchst überflüssig eingefügt): Kurz und gut – das ist hier und heute gemeint, knapp und mätzchenlos, eineinhalb pausenlose Stunden.
Die Frage ist nun, ob man wirklich alles eliminieren kann, was Maxim Gorki in seinem zwar 1905 geschriebenen, aber 1892 angesiedelten Stück nicht nur an lokalem Kolorit, sondern auch an sozialem Ambiente mitgibt. Die Konflikte der Figuren mögen zwar „Tschechow“ sein, aber in der vorrevolutionären Stimmung ist Gorki scharf und bestimmt: Wer nur mit sich selbst beschäftigt ist, sagt er den Wissenschaftlern, Künstlern, Intellektuellen, der wird untergehen, denn das Proletariat steht mit seinem ungestümen Zorn vor der Tür.
Nichts davon seltsamerweise in der Inszenierung von Stephan Kimmig, die zwar auch „irgendwie“ in Russland spielen muss, irgendwie auch die Krankheit einzubringen hat, die so wichtig ist (was einst eine Cholera-Epidemie von tödlichstem Ausmaß war, ist hier als „Grippe“ bezeichnet, und man versteht folglich nicht, warum man darum Wirbel machen sollte), so verpufft dies, und die Figur des aufrührerischen Proletariers von einst (der Rest des Personals des Stücks) wird gänzlich funktionslos: So, wie es Markus Graf laut und gefühllos vormacht, benimmt man sich heute auch nicht mehr.
Durchaus heutig sind die anderen, eher cool und zurückgenommen, Figuren, die man aus anderen Inszenierungen durchaus farbig und vital in Erinnerung hat, hier eher anämisch, vieler ihrer Wirkungen beraubt. Natürlich ist Ulrich Matthes ein wunderbarer Schauspieler, aber man könnte – schlicht gesagt – aus dem völlig weltfremden und im Grunde kommunikationsunfähigen Wissenschaftler Protassow mehr herausholen, nicht nur an theatralischer Wirkung, auch an Kritik, die dessen Lebensferne durchaus verdient. Nina Hoss, eine der überzeugendsten Protagonistinnen des gegenwärtigen deutschen Films, darf aus Protassows Gattin Jelena nur einen Bruchteil jene „schöne Unverstandene“ machen, die in dieser berühmten Rolle steckt. Und auch die Mischung aus Dummheit und Emphase in der reichen Melanija hat man schon nachdrücklicher empfunden, als Katrin Wichmann sie ausspielen darf. Nein, bei Stephan Kimmig gibt es kein „Theater“, aber die „Analyse“, die er den Gestalten angedeihen lässt, fällt etwas dürr aus.
Immerhin – da ist Alexander Khuon als der Tierarzt, der sich aus unglücklicher Liebe umbringt, Peter Jordan als zynischer Künstler und vor allem Katharina Schüttler als jene nervenkranke Schwester Lisa, die bei Gorki visionär Unheil aller Art ahnt: Das geht gelegentlich unter die Haut.
Keine Frage, es ist eine sehr gute Aufführung, die sich den Minimalismus verschrieben hat und vom Publikum sehr freundlich aufgenommen wurde. Und doch – wenn man dem Stück sein „russisches“ Ambiente lässt, seine Umbruchszeit, seine starken Figuren (wie es etwa in der unvergesslichen Achim-Benning-Inszenierung des Burgtheaters mit Heltau, Pluhar, Speiser von 1988 der Fall war), werden nicht nur die Menschen plastischer, sondern auch die politischen Implikationen, die an diesem Abend des Deutschen Theaters so gut wie gänzlich fehlten, während der angestrebte Beweis der „Heutigkeit“ nur unzureichend angetreten wurde.
Renate Wagner