Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

WIEN/ brut: Oleg Soulimenko mit „Roll over and over and over“

09.05.2025 | Ballett/Performance

WIEN/ brut: Oleg Soulimenko mit „Roll over and over and over“

Was man gerade tut, während einen Nachrichten von den Kriegen und gewaltsamen Auseinandersetzungen auf dieser Welt erreichen, spielt keine Rolle. Man kann sich ihnen nicht entziehen. Und alle, die noch nicht vollends dem Fatalismus verfielen, fragen sich unweigerlich: Woher kommt diese Gewalt in der Welt, in der Gesellschaft und letztlich, oder besser zu allererst, in uns selbst? Oleg Soulimenko stellt sich mit seiner neuesten Performance diesem Thema, voller assoziativer Anspielungen und unmissverständlicher Verweise.

Das brut Nordwest mit seinen großzügigen Außenanlagen, innen dem riesigen Foyer, der vergleichsweise ausladenden Bühne und den sie rahmenden, üblicher Weise dem Publikum nicht zugänglichen, meist technischen Bereichen und dem Anschluss an das (noch) brach liegende Areal Nordwest werden zum Schauplatz unterschiedlichster Manifestationen von Gewalt.

Es scheppert gewaltig. Frederik Marroquín zerrt Wellblechplatten über den Hof, versucht sich an der Installation von Sperren und Wänden. Aber stabil sind sie nicht. Hier schon denkt man sofort an Mauern, Zäune und Barrieren. Zwischen Staaten, Kulturen, Nachbarn, Rassen, Geschlechtern, Ideologien / Religionen, Identitäten, in Köpfen, zwischen Tälern und Kontinenten, Planeten und Universen, zwischen uns und dem, was wir nicht wissen von uns und dem, was wir nicht sein wollen und doch sind. Und die Zeit ruft herein: Nichts währt ewig! Der Verweis auf die Brüchigkeit jeder auch noch so fest gewähnten Abgrenzung ist deutlich, sei sie politisch, ökonomisch oder gesellschaftlich-sozial intendiert, physischer, geistiger oder psychischer Natur.

Dafne Moreno hingegen schiebt, legt und stellt Steine, schlägt mit Ästen auf sie und den Boden ein, wirft nach Frederik Marroquín. Die Eingriffe des Menschen in die Natur, sein zerstörerisches Wirken wie auch natürliche Prozesse selbst, Geröll-Lawinen etwa, kommen einem in den Sinn. Und aus uns selbst brechende Gewalt, Zerstörungswut und Bosheit. Dann hat das Publikum den zwei PerformerInnen ins Innere zu folgen.

Dort spielt ein großer abgeflachter Zylinder eine Hauptrolle. Der bildende Künstler Alfredo Barsuglia – Oleg Soulimento und er arbeiten seit Jahren regelmäßig zusammen – schuf einen runden, mit seinen textilen Applikationen fast heimeligen, begehbaren Hohlkörper, der rollt und rollt. Wie die Gewalt, die auf allen Ebenen, in allen Bereichen, zu allen Zeiten und an allen Orten die physische und die geistige Welt begleitet. Oder sie gar repräsentiert?

Sie rollen, kämpfen mit einander und Objekten, ziehen durch die (brut-) Welt und die Zeiten, tauchen in Kulturen, Sprachen und durchdringen die lebendige und tote Existenz. Und sie ent-decken das, was sich mit unaufhaltsamer Kontinuität als evolutionärer Grundbaustein dem Bewusstsein zur Wahrnehmung anempfiehlt: Gewalt. Das Unendliche an diesem Phänomen wird zu eben jenem ewig rollenden Zylinder.

Diese seine Beobachtung wird zur Überschrift für sein Stück und dessen Dramaturgie (beraten von Chris Standfest), die das Publikum physisch und gedanklich durch die Diversität des Unfriedens führt. Allein die performative Erschließung des gesamten Geländes und Gebäudes des brut Nordwest verweist auf die Universalität des Phänomens. Die von Zetteln abgelesenen und frei in mehreren Sprachen vorgetragenen Textbeiträge entstanden in Zusammenarbeit mit Rosemarie Poiarkov, die unter Anderem Elias Canettis „Masse und Macht“ als inspiratorische Quelle beschreibt.

Ob erinnerte, beobachtete, übermittelte, reale, metaphorische, digitale, systemische, strukturelle, historische oder rezente Gewalt, solche in der Natur oder in der Kultur und der Sprache, in Hierarchien, Architekturen oder gegen uns selbst, die Vielfalt ihrer Erscheinungs- und Ausdrucks-Formen ist unerschöpflich. Die Text-Splitter und die ausführlichen Erzählungen, allesamt ineinander verschränkt, wenn auch zuweilen schwer verständlich präsentiert, fassen uns an. Dort, wo sie mehr oder weniger tief vergraben, reflektiert oder ungeheilt in uns liegen.

Der Trompeter Franz Hautzinger, eine Größe der Jazz- und improvisatorischen Musik, stößt schneidende Töne in die Halle oder stellt geblasene Laute neben die Sprache, präzise in Timing und Artikulation. Sympathisch seine Zurückhaltung, beeindruckend seine Fabulierkunst, beispielhaft seine Empathie.

Oleg Soulimenko erscheint entfernt als in Schwarz gekleideter, fast elegant sich bewegender Geist. Unaufdringlich, immer distanziert von den physisch sich gehörig engagierenden anderen zwei PerformerInnen, kommentiert er mit seinem Tanz das offensichtlich unter den lauten Oberflächen Verborgene. Er gibt dem Sichtbaren, Bewussten, Erzählten, dem, was in Tanz und Worten einem Konzept folgend formuliert wird, einen Schatten, etwas Unnennbares, nur Spürbares. Er ist wie das durch die Szenerie spukernde in Präsenz und dann Bewegung gegossene Unbewusste.

Die Ästhetik dieser Performance ist geprägt von jener spröden, durch die seit Jahren in seinen Performances dominierende Mensch-Objekt-Beziehung erzeugten Poesie. Oleg Soulimenko konstatiert Gewalt. Allüberall. Er begibt sich weder auf die Suche nach deren Ursachen, sofern man die Existenz einer in allen natürlichen, also Natur-Beziehungen vorhandenen Gewalt nicht als generelle Ursache für auch die Gewalt im Menschen begreifen möchte, noch schlägt diese Arbeit Abhilfen, Lösungen oder Heilungen vor. Es gibt keine moralisch-ethische Instanz, keine Bewertung. Die Frage aber, woher sie kommt, die Gewalt in uns, und was sie freisetzt, welche Mechanismen sie steuern, wandert mit dem Publikum durch die Szenerie. „Er war hungrig nach Aufmerksamkeit.“

Es scheint, als sei die Botschaft dieser Arbeit, dass jeder Widerstand gegen Gewalt als solche, als sei deren Ablehnung eine Folge mangelnden Verständnisses des Wesens der unbelebten und der belebten Natur. Und mithin auch der Natur des Menschen.

Im Glitzerlicht der Discokugel drapiert der Geist so manches Grünzeug vor den Tischen mit farbigen Getränken. Auf der Leinwand läuft ein Video von fleischfressenden Pflanzen. Und die zwei Vertreter der Krone der Schöpfung entheben sich dieser Naturgewalt. Mit Spaß. Den steigern sie noch, draußen auf der Freifläche hinter dem brut zu lautem Techno und Trompeten-Melodien. Alle drei tanzen, sich langsam frei machend. Leben sie Aggression im Tanz? Oder steigen sie aus aus dem Kontinuum? Und bald, zwar nicht bestellt und doch passend in diese ungemein komplexe, feine Arbeit, erscheinen zwei PKW mit gelbem Rundumlicht. Die Security, die die zubetonierte Brache bewacht. Worum ging es doch gleich?

Oleg Soulimenko mit „Roll over and over and over“ am 08.05.2025 im brut Wien.

Rando Hannemann

 

 

Diese Seite drucken