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WIEN/ brut imagetanz: Eröffnung mit Stina Fors: „A mouthful of tongues“

16.03.2025 | Ballett/Performance

WIEN/ brut imagetanz: Eröffnung mit Stina Fors: „A mouthful of tongues“

 Das Team des brut Wien hat das vierwöchige Festival imagetanz 2025 (15.03.-12.04.) ambitioniert programmiert: Choreografien und Performances nationaler und internationaler KünstlerInnen, erste Showings in der Reihe „handle with care“, Workshop-Formate, Diskussionsrunden, Studio-Visits, Publikumsgespräche und Partys, alles in diversen Lokationen und im Rahmen mehrerer Kooperationen zu erleben. Eröffnet hat Stina Fors mit ihrem Solo „A mouthful of tongues“, wegen krankheitsbedingter Probenausfälle kurzfristig gesetzt an die Stelle der ursprünglich geplanten Uraufführung ihres Stückes „SPÖKA“.

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Stina Fors A mouthful of tongues © Franzi Kreis 

 Wie sehr die nun in Wien lebende schwedische Choreografin, Performance-Künstlerin, Schlagzeugerin und Sängerin vor allem auch das Label Stimm-Akrobatin verdient hat, zeigt sie eindrucksvoll in dieser etwa 45-minütigen, bereits in 2022 uraufgeführten Arbeit. Die Freude am Experimentieren mit Vokal-Techniken allerdings ist nicht das Eigentliche. Fors entführt uns, im Nadelstreifen-Anzug ganz allein, aber nicht verloren auf der riesigen Bühne des brut Nordwest, zu Beginn charmant und humorvoll, sie redet verschiedene und Fake-Sprachen, in die Mühen und Missverständnisse multilingualer Kommunikations-Versuche. Aus Scheidenpilz wird in ihrem (noch nicht perfekten) Italienisch ein Steinpilz im Schritt (funghi – porcini). Essen kann der Mund, ein Genuss-Werkzeug. Lecken kann die Zunge. Soweit die Einführung.

 Dann: Sie spricht lautlos. Sie lamentiert, argumentiert, erklärt, bittet, macht Vorwürfe, ist wütend, verzweifelt, will überzeugen. Mit tänzerischen Schritten quert sie die Bühne. Nachdenken, Ermächtigung, Fishing for compliments, Zweifel, Aufrichtigkeit, Offenheit. Was man aber hört, ist ein von ihr selbst parallel erzeugter hoher Dauerton. Als würden das Gesprochene, die Kommunikation, die formulierte Botschaft übertönt vom undifferenzierten, gleichförmigen, so mächtigen Klang der eigentlichen, abweichenden inneren Überzeugungen und, auf der Empfängerseite, gefiltert durch ein nichts Anderes erlaubendes fertiges Bild der (Sender-) Realität. Es ist das Pfeifen eines „psychischen Tinnitus“, der weite Teile der Wirklichkeit überschreibt mit den Kernsätzen der eigenen Glaubenssysteme.

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Stina Fors A mouthful of tongues © Franzi Kreis 

 Sie wird extremer in ihren Lauten. Sie füllt den Saal mit Stimme und Präsenz. Polyphone Laute. Gurrende Tauben. Sie biedert sich an, scheint zu buhlen um die Gunst der Außenwelt. Ein paar angedeutete Tänze, wie Gesellschaftstänze oder Line Dance. Dinosaurier brüllen aus ihr wie das kollektive Unbewusste. Und wie religiös, politisch, gesellschaftlich, sozial und individuell fest verankerte, seit vielen Generationen überlieferte Werte. Wie die Summe des Tradierten, Überkommenen. Und wie die Schmerzensschreie ihrer Macht beraubter, sterbender, urzeitlicher Götter.

 Einen skurrilen, überzeichneten Dialog entwickelt sie als Bauchrednerin mit sich selbst. Der Mund wird zum Portal zwischen Innen und Außen, zum Vermittler zwischen Anspannung und Entspannung, zwischen dem inneren Kind und der „erwachsenen“ Welt, zur metaphysischen Schnittstelle zwischen ihr und dem Leben.

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Stina Fors A mouthful of tongues © Franzi Kreis 

 Und dann erscheint eine zweite Zunge. Lustig das Spiel mit der Doppelzüngigkeit so mancher Ideologien und ihrer Apologeten. Immer mehr Zungen. Sie treibt die Aufnahmefähigkeit dieses Hohlraumes im Kopf an ihre Grenze, speit die Zungen aus. Die vielen Sprachen, ob die der Regionen dieser Welt oder die sein Inneres oder den Anderen betreffend, werden zu Potential für Verbindendes und Trennendes, für Erkenntnis oder Missdeutung. Weitere der vielen Ebenen der eigenwilligen, originellen, reichen Bildsprache des Stückes: Dass, zum Beispiel in den romanischen Sprachen, für Zunge und Sprache das selbe Wort benutzt wird, das Identitätsstiftende des Mundes und der Sprache, Einendes und Separierendes in der selben Sprache und viel mehr noch auf verschiedenen Ebenen.

 Sie würgt sich, presst leise hohe Töne hinaus. Den Hals freigegeben spielt das Handy Musik und Vogel-Gezwitscher. Das ausverkaufte Haus jubelt.

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Stina Fors A mouthful of tongues © Franzi Kreis 

 Stina Fors sagte, dass sie uns verunsichern will bis in den Kern unserer Identität. Und das gelingt ihr. „A mouthful of tongues“ ist physisch sehr fordernd, von erstaunlicher Dichte, großer bildlicher Komplexität und präsentiert mit handwerklicher Professionalität. Unter Komik, Witz und in stimmliche Effekte eingehüllt liegen jedoch tiefe Traurigkeit und konsolidierte Melancholie. Aus der heraus formuliert die Künstlerin eine Bestandsaufnahme und bissige Anklage einer mannigfaltig gestörten Kommunikation des Menschen mit sich selbst, dem Anderen und der Ganzheit der eigenen und der als „das da draußen“ empfundenen (nicht nur) menschlichen Natur. Wunderbar.

 Stina Fors mit „A Mouthful of Tongues“ am 15.03.2025 im brut Wien anlässlich der Eröffnung des imagetanz-Festivals.

Rando Hannemann

 

 

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