„Weisheit der Emotion“. Interview mit dem türkischen Pianisten Can Çakmur
Der 1997 in Ankara geborene, heute in Weimar lebende Pianist Can Çakmur verbindet analytische Durchdringung mit emotionaler Direktheit – eine Symbiose, die sein Publikum weltweit fasziniert. Mit intellektueller Tiefe verfolgt er Projekte wie seine Schubert-Gesamteinspielung.
Anlässlich der Verleihung des International Classical Music Award, den er als erster Künstler in der Geschichte dieses Preises zum zweiten Mal erhielt, trafen wir den Pianisten in der Düsseldorfer Tonhalle. (Hier ist es umgekehrt, Solo Aufnahme des Jahres für die Debüt CD, Junge Künstler des Jahres für die ganze Konzerttätigkeit und insbesondere die Schwanengesang Einspielung.) Seine erste ICMA-Auszeichnung bekam er für seine Debüt-CD als „Junger Künstler des Jahres“, die zweite für seine Aufnahme von Liszts Bearbeitung von Schuberts „Schwanengesang“ als „Soloaufnahme des Jahres“ – ein Doppelerfolg, der seine außergewöhnliche künstlerische Entwicklung dokumentiert.
Das Interview führte Stefan Pieper
Can Çakmur. Copyright: Muhsin Akgun
Ihre Vorliebe gehört dem Shigeru Kawai-Flügel. Was unterscheidet ihn vom Steinway?
Am Shigeru schätze ich die feinfühlige Modulation. Er steht den Klavieren des späten 19. Jahrhunderts näher – weicher, transparenter. Das ermöglicht besondere Pedaleffekte. Während der Steinway sehr saubere Pedalarbeit verlangt, erlaubt der Shigeru, die Grauzone zwischen sauber und unsauber zu erkunden – Nuancen, die ich bei Schubert nutze.
Eine „Grauzone zwischen sauber und unsauber“ beim Klavier – wie sollen wir uns das vorstellen?
Diese Grauzone entsteht durch Voicing – eine Illusion. Die Anordnung von Oktavierungen und ihr Verhältnis zur Obertonreihe des Grundtons prägt den Klang entscheidend.
Es geht um die Verbindung von Ton, Pedal und Gestaltung. Ein Basston und zwei nahestehende Töne klingen anders auch unter demselben Pedal, wenn sie gleichzeitig oder nacheinander unter demselben Pedal gespielt werden je nach ob sie mit crescendo oder descrescendo gespielt werden. Schnabel hat solche Balancierungen für Mozart präzise notiert.
„Voicing“ stammt aus dem Jazz…
Genau. Jazz-Musiker entscheiden, was sie spielen. In der Klassik geschieht dies nur beim Basso Continuo, wo ich Septimen, Oktavierungen oder Akkordstrukturen wählen muss.
Bei Chopin geht es um die Lautstärkeverhältnisse der Stimmen. Auch horizontale Linien bilden Harmonien. Ob etwas primär melodisch oder harmonisch zu denken ist, verrät der Notentext nicht immer im ersten Blick.
Faszinierend, dass jeder Pianist auf demselben Instrument anders klingt.
Die Modulationsmöglichkeiten des Klaviers sind erstaunlich. Nicht der einzelne Ton entscheidet, sondern die Verbindung der Elemente – der Gestus. Dadurch erhält das Instrument völlig verschiedene Charaktere. Es ist eine Illusion, die das Wesen der Musik offenbart.
Variieren die Herausforderungen mit jedem Instrument?
Minderwertige Instrumente reduzieren die Ansprüche – es funktioniert, wie es eben funktioniert. Gute Instrumente bieten größere Bandbreite, erfordern aber längere Vorbereitung. Ähnlich bei Konzertsälen: Ein akustisch hervorragender Saal verlangt zwei Stunden Anpassungszeit, ein problematischer nur 15 Minuten.
Manchmal entstehen Meisterwerke auf mittelmäßigen Instrumenten – wie Jarretts Köln-Konzert.
Dieses legendäre Konzert entstand auf einem schlecht intonierten Ballettklavier! Wäre dasselbe mit einem exzellenten Steinway entstanden? Paradoxerweise spiele ich auf minderwertigen Instrumenten manchmal inspirierter, weil ich mehr kreative Energie investieren muss. Für Aufnahmen ist ein hochwertiges Instrument jedoch unerlässlich.
Sie haben bereits erstaunlich viele CDs produziert. Wie begann diese Reise?
Der Sieg beim Hamamatsu-Wettbewerb in Japan war entscheidend. Ein Preis war eine CD für BIS Records. Mit dem Produzenten Ingo Petry verstand ich mich sofort. Noch vor Fertigstellung der ersten Aufnahme planten wir bereits Liszts Bearbeitungen von Schuberts „Schwanengesang“. Nach dem Erfolg dieser Einspielung erhielt ich freie Hand – seither entstehen jährlich ein bis zwei Platten.
Wie entstand Ihr Schubert-Projekt?
BIS hatte keine Schubert-Edition im Katalog. Gleichzeitig verband mich mit Schubert eine tiefe Beziehung seit Kindertagen – ich lernte sogar Deutsch durch seine Lieder. Für ein solches Projekt ist authentische Verbindung zum Komponisten unerlässlich. Die Beziehung zu einem Komponisten entfaltet sich organisch, nicht durch bewusste Entscheidung.
Welche Bedeutung haben Aufnahmen für Sie persönlich?
Sie besitzen eine akademische Dimension – intensive Auseinandersetzung mit Aufführungspraxis und Interpretationsphilosophie. Es ist Forschungsarbeit. Nach einer Aufnahme haben wir einen vertieften Zugang zum Werk, anders als bei der Flüchtigkeit von Konzerten.
Bei Aufnahmen leben wir monatelang mit den Stücken. Ich frage mich: „Wie werde ich diese Interpretation in sechs Monaten bewerten?“ Diese Auseinandersetzung mit verschiedenen Alternativen fördert meine musikalische Entwicklung – Aufnahmen sind Bildungsprozess.
Wie verhält es sich mit der emotionalen Seite?
Mich reizt es, dieser besonderen „Weisheit der Emotion“ auf den Grund zu gehen. Alles Historische trägt emotionale Tiefe. Die kühle, kalkulierte Musizierweise entstand erst im späten 19. Jahrhundert. Davor waren Menschen stärker von emotionaler Weisheit durchdrungen.
Musik offenbart Facetten des Menschseins. Würden mehr Menschen durch Kunst wahre Größe erfahren – etwa durch Beethovens Eroica – wären sie weniger anfällig für die Propaganda unserer Zeit.
Sie haben sich mit Volksmusik in der Türkei beschäftigt. Wie sehen Sie ihre politische Instrumentalisierung?
Was heute oft als „völkisch“ gilt, hat mit echter Volksmusik nichts gemein. In der Türkei vereinnahmt nationalistische Propaganda kulturelle Identität. Was als „unsere Kultur“ deklariert wird, ist meist reine Propaganda ohne Bezug zu authentischen Ausdrucksformen.
Das „Völkische“ bedient populistische Narrative, die primitive Instinkte ansprechen. Diese Vereinnahmung wäre unmöglich, hätten wir die emotionale Tiefe echter Musik erfahren. Das Paradoxon zeigt sich, wenn Rechtsextremisten für den „Schutz unserer Kultur“ demonstrieren, ohne ihr Lieblingsgedicht nennen zu können.
Lassen Sie uns noch mal etwas mehr über Kulturkritik philosophieren, Sie publizieren ja auch ausgiebig zu solchen Themen. Fangen wir mal direkt bei Adorno und seiner Kritik der Kulturindustrie an.
Adornos analytische Weitsicht verblüfft, aber ist auch sehr pessimistisch. Ich schlage vor, diesen Pessimismus mit eine Gewissen Optimismus z.B. von Erich Fromm zu verbinden. Fromms entscheidende Unterscheidung besteht zwischen Haben und Sein. Wenn Menschen Kulturveranstaltungen besuchen, um zu einem Milieu zu gehören – um „Kultur zu haben“ statt sie zu erleben – entstehen Phänomene wie überteuerte „Vier Jahreszeiten“-Konzerte. Dort bezahlt man für eine Illusion von „Hochkultur“. Wenn hingegen die authentische Erfahrung im Vordergrund steht, nicht ihr sozialer Distinktionswert, entfaltet sich etwas völlig anderes.
Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund Ihre künstlerische Rolle?
Kunstgeschichte ist Kampf mit dem Medium. Beethoven rang mit den Sinfoniekonventionen. Die ersten Studiomusiker kämpften mit der Zeitbegrenzung der Schallplatte. Pianisten wie Schnabel Busoni oder Rachmaninoff De Pachmann (korrigiert für Nachweisbarkeit) standen Aufnahmen skeptisch gegenüber. Heute konfrontieren uns Instagram oder Spotify mit neuen Herausforderungen – sie arbeiten gegen künstlerische Tiefe. Die Frage lautet: Wie infiltrieren wir dieses System für ästhetisch wertvolle Zwecke? Mein Ansatz besteht zum Beispiel darin, Universitätsvorlesungsinhalte für soziale Medien adaptieren. Ob dies Resonanz findet, bleibt ungewiss. Doch selbst wenn nur 1.000 Menschen erreicht werden, ist etwas gewonnen.
Dann sind diese 1000 Menschen im Idealfall für jenen Verblendungszusammenhang „verloren“, von dem Adorno spricht?
Der Verblendungszusammenhang ist heute allgegenwärtig. Überall hier in Düsseldorf prangen Plakate für „Vier Jahreszeiten“-Konzerte – als inszenierte Shows und teurer als Aufführungen in renommierten Sälen, aber künstlerisch oft minderwertiger. Dennoch sind sie ausverkauft. Diese Veranstalter inszenieren ein Bild vermeintlicher Hochkultur – etwa Mozart im roten Samtrock und die Orchester in pompösen Kostümen. Solche Inszenierungen überlagern den musikalischen Inhalt. Wüssten diese Konzertbesucher von den substanziellen Darbietungen in seriösen Konzertsälen, würden sie diese kommerzialisierten Events meiden. Doch die Event-Inszenierung generiert leider viel mehr Aufmerksamkeit.
Sehen Sie Möglichkeiten, diesen Trend zu durchbrechen?
Fazıl Say zeigt einen vielversprechenden Weg. Mit zugänglicher, aber kompromisslos hochwertiger Musik erreicht er Millionen in der Türkei. Dann präsentiert er mittendrin avantgardistische Werke in der Tradition Ligetis. Menschen kommen in seine populären Stücke und begegnen unerwartet zeitgenössischer Musik. Und sie bleiben seinen Konzerten treu, weil Fazıl Say diese Welten geschickt verknüpft. Er baut Brücken zwischen ästhetischen Sphären – und das lohnt sich Künstlersein bedeutet, gegen Konventionen und auch gegen die Ideol-Erwartung anzuarbeiten. Diese Spannung birgt kreatives Potenzial.
Was bedeutet das für die Zukunft der klassischen Musik?
Ich sehe die Chance für inklusivere Musikvermittlung jenseits bildungsbürgerlicher Abgrenzung. Klassische Musik muss nicht als „Hochkultur“ positioniert werden. Wir können sie öffnen, damit jemand Schuberts „Winterreise“ um ihrer emotionalen Tiefe willen schätzt, nicht als Bildungsnachweis. Die junge Generation nähert sich der Musik vieo unmittelbarer – für ihren Rhythmus, ihre emotionale Kraft. Ob sie die Interpretationsgeschichte kennen, ist sekundär. Selbst wenn sie die Applaus-Konventionen nicht beherrschen – ich begrüße ihre spontane Begeisterung!
Wie erleben Sie kulturelle Unterschiede in verschiedenen Ländern?
Die deutsche Musikkultur hat sich gewandelt. Die ältere Generation pflegte einen dogmatischen Ansatz – „Das darf man, das nicht.“ Heute herrscht wohltuende Offenheit. In Frankreich erlebe ich leidenschaftliche Polarisierung. Ein Kritiker nannte mich zunächst „Halbgott“, später wurden meine Aufnahmen zur „Schande“. Diese unverblümte Direktheit empfinde ich als erfrischend. Japan offenbart eine faszinierende Hobbykultur – Menschen widmen sich ihren Interessen mit außergewöhnlicher Hingabe und vertiefen sich in Leidenschaften, was letztlich auch der Musik dient.
Herr Cakmur, ich bedanke mich für dieses außerordentlich spannende Gespräch!