WEIMAR: CALIGULA von DETLEV GLANERT
6.1. 2023 (Werner Häußner)
Copyright: Candy Welz
Detlev Glanert schrieb eine 2006 uraufgeführte Oper über den römischen Kaiser Caligula, die in Wirklichkeit mit der historischen Figur wenig gemein hat, sondern ein musikalischer Essay über die Probleme des Absurden, der Freiheit und der Macht ist. Ein Ideendrama also. Keine der opernhaften Geschichten über die Liebe oder tragische Verstrickungen, kein Psychodrama und keine Ausleuchtung des Unbewussten. Bei der Uraufführung in Köln und Frankfurt (Inszenierung Christian Pade, Dirigent Markus Stenz) kam das Werk gut an und wurde auch mehrfach nachgespielt, so etwa in Hannover. Im Februar 2022 hat sich das Nationaltheater Weimar an eine Neuinszenierung gemacht. Sie bestätigt das Potenzial dieser außergewöhnlichen Schöpfung des Theaterpraktikers Glanert, der sich nicht in musikalischen Fisimatenten verzettelt, sondern konsequent Musik für die Bühne erdenkt.
„Caligula“ basiert auf einem Schauspiel von Albert Camus. Es ist Teil einer Trilogie, die der französische Philosoph und Literat „meine drei Absurden“ nennt. Dazu gehört der Essay „Der Mythos des Sisyphus“, der Roman „Der Fremde“ und das 1945 in Paris uraufgeführte Schauspiel „Caligula“. Die Erfahrung des Absurden, so Camus, lasse sich in ihrer „trostlosen Nacktheit“ an jeder Straßenecke machen – als Erfahrung der unüberwindlichen Kluft zwischen dem Streben des Menschen nach Klarheit, Wahrheit und Sinn und einer vernunftlos dem Zufall und der Irrationalität verfallenen Welt. Ein Abgrund, der in der Moderne auch durch Moral oder Metaphysik nicht mehr überwunden werden kann. Friedrich Nietzsches toter Gott lässt grüßen.
Glanerts Oper – wenn man so will, eine großartige Realisation des von Camus postulierten „absurden Kunstwerks“ – setzt an dieser existenziellen Grunderfahrung an. Zu Beginn schockiert ein brutaler Schrei das Theater: Caligulas über alles geliebte Schwester und Mätresse Drusilla stirbt, und der Kaiser macht die alles entscheidende Erfahrung des Todes. Der Akkord aus 25 Tönen, der im Orchester aufschreit, ist die musikalische Keimzelle des Werks. Er bestimmt die melancholischen Bläserakkorde, die Verdichtungen und Explosionen des Klangs, seine grellen Schnitte und Stiche, die morbiden, lasziven und lauernden Lyrismen. Glanerts Palette ist dicht, seine Farbmischungen herb – und die Staatskapelle Weimar unter Andreas Wolf meidet erfolgreich pauschale Klangballungen und übt sich in plastischer Tiefe.
Die vier Akte sind dann eine musikalisch-sinnliche Vergegenwärtigung der Revolte, mit der Camus dem Leben seinen Wert geben will, eine Exploration der Freiheit, der gegenüber alles gleichgültig – oder besser: bedeutungslos – wird. Die Willkürakte und Grausamkeiten, die Caligula seiner Umwelt zumutet, sind keine Akte der Bösartigkeit, sondern Ausdruck genau dieser Freiheit, die sich gerade dort zeigt, wo sie sich dem Rationalen bewusst entzieht. So kann Caligula verrückte Gesetze erlassen, sich selbst in einem herrlich ironischen Setting von Martina Segna als schaumgeborene Venus inszenieren und besingen lassen, den Beweis für einen Verrat vernichten, statt durch ihn die Verräter zu überführen. Auch Caligulas Morde folgen keiner Zwecklogik.
Regisseur Dirk Schmeding hat nicht so explizit wie Christian Pade 2006 den politischen Bezug des „Caligula“ betont. Die Vorlage entstand ja in einer Zeit, in der die Diktatorenwillkür eines Hitler, Stalin oder Mao die Welt mit millionenfachem Mord und unsäglichem Leid überzogen hat. Camus, obwohl andere Intentionen verfolgend, war sich der Bezüge bewusst, versuchte auch, „Caligula“ durch Bearbeitungen davor zu bewahren, als philosophische Rechtfertigung solchen Terrors verstanden zu werden. „Wenn (Caligulas) Wahrheit darin besteht, sich gegen das Schicksal aufzulehnen, dann ist es sein Fehler, die Menschen zu verleugnen“, schreibt er selbst. Dieser starke Eindruck vermittelt sich in der Regie Schmedings: Die Selbstbehauptung Caligulas und die hoffnungslose Abhängigkeit seiner Entourage von Willkür und grauenvoll pervertierter Rationalität wird in der Inszenierung zu einem der bestimmenden Momente.
Mit Oleksandr Pushniak kann sich Schmeding auf einen exzellenten Sängerdarsteller stützen, der das Profil dieser verstörenden Person musikalisch und als Bühnenmensch scharf herausarbeitet. Seine klare Artikulation, sein dramatischer Impetus, aber auch die zurückgenommenen Momente lassen diesen Caligula in vielfältigem Licht erscheinen – ob als vom Tod traumatisierter Verletzter, ob als lebensgieriger Beherrscher der Mechanismen von Machtausübung oder als „Göttlicher“, der sich in den rosaroten Bubble-Blasen der Bühne Martina Segnas als „einzigen freien Menschen des Imperiums“ inszeniert. In einer eher puristischen Inszenierung gelingen auch Momente wie der Beginn des vierten Akts, wenn rasche Herztöne aus den Lautsprechern pochen und sich Caligula aus dem Dämmer eines dunstigen Lichtrahmens schält.
Vorher greift Schmeding, ohne zu explizit zu werden, auf Chiffren der medialen Welt von heute zurück: der römische Hof als eine Meute von Journalisten, Influencern oder Instagramern; die Selbstinszenierung von Menschen für die News-Show oder das YouTube-Video, der Auftritt Caligulas nach Art des golfspielenden Donald Trump, der seinem Sklaven Helicon den Golfball vom Gesicht schlägt – so gefährlich wie einst der von Gessler angeordnete Apfelschuss für Wilhelm Tell. Schmeding stellt solche Szenen ohne Deko und virtuos verdichtet auf die Bühne. Der Sinn, den Camus in der Welt vermisst – in der Inszenierung ist er da!
Copyright: Candy Welz
Mit dem Helicon des 1994 geborenen Countertenors Gerben van der Werf steht ein weiterer Darsteller auf der Weimarer Bühne, der in allen Aspekten überzeugt. Die Stimme ist dunkel abgerundet, gleichmäßig durchgeformt, tadellos gestützt und somit im Zentrum farbig und tragend, in der Höhe ohne schrille oder bemühte Extremklänge. Ein Sänger, von dem nach diesem Eindruck noch einiges zu erwarten ist. Die weiteren Ensemblemitglieder des Nationaltheaters müssen sich keinesfalls verstecken, von Marlene Gaßner als Caesonia über Rafal Pawnuk als Caligulas klarstimmiger Gegenspieler Cerea, dem androgynen Dichterjüngling Scipio von Joanna Jaworowska, dem Mucius von Alexander Günther und dem eindrücklichen Mereia von Uwe Schenker-Primus bis hin zu Daniel Nicholsons Lepidus und Julia Gromballs Livia.
Frank Lichtenbergs Kostüme bedienen treffend die Klischees medialer Selbstdarsteller; das Licht Christian Schirmers schafft bei aller Präzision fabelhaft atmosphärische Räume. „Noch lebe ich!“, Caligulas letzte Worte, von einem furchtbaren Schrei gefolgt, lassen die Oper in Dunkelheit vieldeutig enden. Nicht zu Ende ist hoffentlich ihre Karriere auf weiteren Bühnen: Auch jenseits aller Trump-Anspielungen ist Glanert damit ein aktuelles Statement gelungen, das sich wohlgemerkt nicht in einer Polit-Parabel erschöpft, sondern die Fragen nach dem Sinn und der Absurdität der Welt aufgreift, denen sich Camus stellen wollte.
Werner Häußner