Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

Volker Kutscher „Olympia“ – Der achte Rath-Roman Noch lange nicht in der “Babylon Berlin” Falle – der beste Roman der Serie

13.12.2020 | Feuilleton

Volker Kutscher „Olympia“ – Der achte Rath-Roman

Noch lange nicht in der “Babylon Berlin” Falle – der beste Roman der Serie

“Und wie sagt der Berliner? Immer den Kopp hoch, und wenn der Hals noch schmutzig ist.”

Ccb4c0e6 48eb 4338 8f58 Cc8d30410088 Cr0,0,970,600 Pt0 Sx970 V1

Walter Morgan, Amerikaner, im Vorstand der Amateur Athletic Union und Mitglied der US-Olympia Delegation 1936 stirbt in einer dramatischen Szene im Speisesaal des Olympischen Dorfes. Im Magen findet man neben Rindfleisch, Kartoffeln und Gemüse Digitalis. Offiziell attestiert der Arzt Herzversagen. Nichts wäre den Nazis unangenehmer als jetzt während der gigantischen Propagandamaschinerie namens Olympische Spiele einen politischen Mord kommunizieren zu müssen, der alles sabotieren könnte. Niemand soll von Geschehnissen erfahren, die die heile Welt der Spiele stören könnten. Der Verdacht, dass die Untat von Kommunisten ausgeht, deren Widerstand doch angeblich gebrochen war, muss dringend untersucht werden.

Also wird unser LKA-Mann, Kriminaloberkommissar Gereon Rath, notgedrungen inoffizieller Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes vom Himmlers SS und mit den versteckten Ermittlungen betraut. Erpressbar wegen Tonaufzeichnungen mit politisch unverzeihlichen und ergo tödlichen Worten, die versteckt in Raths Wohnung aufgenommen wurden, gerät Rath in die Fänge des Obersturmbannführers Sebastian Tornow. Ein Gangster aus früheren Tagen, den der politische Umsturz nach oben gespült hatte und nun als Raths geheimer Chef die Untersuchungen lenkt. Es gilt, die Hintergründe des Giftmords aufzuklären und ohne Aufsehen der Schuldigen habhaft zu werden, bevor sie noch einmal zuschlagen können…

Den sich als Nebenschauplatz erweisenden Tod von Walter Morgan klärt die Privatdetektivin Lotte alias Charly Rath auf. Die Anstiftung zum Mord stand schwarz auf weiß in einem von den sozialistischen Gewerkschaftlern der Morgan Canning Company an die deutsche Apothekenhelferin Marie Niemann gerichteten Schreiben zu lesen. Freilich hat den Brief die skrupellose Ehefrau Morgans mit dem hübschen Vornamen “Olympia“ verfasst, um ihren Versagergatten loszuwerden.

Dann sind da aber noch vier weitere Leichen, allesamt Morde als Unfälle getarnt, deren Ursachen und Folgen neben den Fluchtplänen von Gereon und Charly in die Tschechoslowakei den Kern des Buches bilden. Und hier beginnen die Fäden plötzlich tief zurück in den siebten Rath-Roman “Marlow” zurück zu laufen. Die Rivalität zwischen dem Luftwaffenchef und Morphinisten Hermann Göring und dem von Reinhard Heydrich innerhalb der Heinrich Himmler unterstehenden Schutzstaffel geleiteten Sicherheitsdienst dient als Hintergrund für Spitzelei und politische Machtspielchen, kompromittierende Materialsuche über Konkurrenten, einen abgründigen Blick in die Berliner Unterwelt und deren Verstrickungen mit obersten Repräsentanten des Staates, und ein spektakuläres Täuschungsmanöver Raths mit durchaus tödlichen Folgen.

Der atmosphärisch dichte Roman “Olympia” stellt sich auch insoweit als Fortsetzung von “Marlow” heraus, als auch jetzt Todkranke mit Hilfe von Ärzten als Mordwerkzeuge missbraucht werden. Die arme Familie der „Täter“ findet sich nach vollzogenem Mord auf einmal materiell abgesichert wieder.

Volker Kutscher gelingt es nach einem langatmigen Start, mit einem scharfen Blick durchs Schlüsselloch auf Regime, Gefolgsleute und Gegner ein al fresco Gemälde des Jahres 1936 in Deutschland zu malen, aber damit durchaus eine heutige Leserschaft zu bedienen. Gereon und Charly Rath, zunehmend in ihre eigenen Fallen aus Täuschungen und Ungeschicklichkeiten verstrickt, bleibt nichts anders übrig, als die Flucht aus Deutschland zu planen, um dem drohenden KZ zu entgehen. Charly hatte zuvor schon mit ihrem Privatdetektei-Chef Böhm eine Art Fluchthelferagentur eingerichtet.

Gereon selbst wird als unzuverlässiger eigentlicher Verursacher (die Hintergründe erfahren wir im Roman “Marlow“, wo Hermann Göring seinem Morphiumlieferanten Johann Marlow und seinem Sohn Liang Kuen-Yao eine kugelreiche Falle gestellt hat) und Mitwisser der Abgründe der Mordserie immer mehr zu einer Bedrohung für die SS. Die Zeiten, da Gereon Rath dem Staat und der Partei mehr nutzte als schadete, sind vorbei. Sein verkorkstes Leben auf der Jagd nach etwas, von dem er nicht einmal weiß, was es ist, gerät immer mehr auf die abgleitende Bahn.

Die Figuren des Gedeon Rath und der Charly bleiben gerade deshalb, weil sie als so wild strampelnde und patscherte Antihelden im aussichtslosen Kampf gegen ein brutales Unrechtsregime konstruiert sind, greifbar. Gideon als kommunikationsunfähiger Einzelgänger Mr. Nobody, gefangen in eigenen Fesseln von Unzulänglichkeit und Erpressbarkeit, rast wie der Halbstarke auf der Maschine durch Stadt und Olympiadorf. Ohne Charly zu befragen, hat er quengelnde amerikanische Olympiatouristen, die Millers, in seine Wohnung aufgenommen. Nein-Sagen gegenüber der Obrigkeit auch gegen seine intimsten privaten Interessen ist seine Sache nicht. Wofür steht denn dieser Rath? Für einen furchtlosen Helden und Widerstandskämpfer sicher nicht. Charly wiederum ist mehr als Projektion der politischen Korrektheit der Jetztzeit konstruiert als eine im historischen Kontext fass- und begreifbare bare Persönlichkeit. Mehr Realistin als Gedeon und dennoch ihrer Linie treu, wird sie am Ende alleine zurückbleiben. Dass sie als einzige während der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele beim „Horst Wessel Lied“ sitzen bleibt, klingt zwar sympathisch, ist aber aus dem Zeitverständnis heraus unglaubwürdig. Gelegentlich nervt sie auch mit irrem Starrsinn und ihren spontan unüberlegten Aktionen, die sich als naiv und gefährlich für alle ihre Lieben erweisen.

Insgesamt gelingen Volker Kutscher überzeugende Porträts aus Fleisch und Blut. Eine wunderbare Figur, mit der sich der Roman zu einem profilierten Sittenbild entwickelt, ist Fritze Thorman. Der waschechte Berliner Straßenjunge mit dem goldenen Herzen wird vom Ehepaar Rath adoptiert, versucht in der HJ (vergeblich) stabilen Halt zu finden, und wird schlussendlich wegen politischer Unzuverlässigkeit der Raths vom Jugendamt dem pädophilen Wilhelm Rademann zugesprochen. Als Jugendehrendienstler ist er Fan des amerikanischen Läufers Jesse Owens und des Hochspringers Dave Albritton. Am liebsten liest er Romane des verpönten Erich Kästner. Sein Leben beginnt zu kippen, als er zwei Morde im Olympischen Dorf miterleben muss und so selber Zielscheibe der Gestapo wird. Schließlich werden ihn Eifersucht, Neid und eine abscheuliche Intrige wieder auf die Straße bringen….

Der immer dichter gestrickte, unausweichlich sich zuspitzende politische Plot kulminiert in einem Gartenfest beim Generaloberst Göring. Welche Rolle der US-Gangster und Heroinhändler Abraham Goldstein als Racheengel Marlows hier spielt und wie die Sache ausgeht, sei hier nicht verraten. Nur eins: Es knallt gewaltig.

Der historische Kriminalroman “Olympia” mit einer Liebeserklärung an den Genius loci Berlin ist sicherlich höchst lesenswert. Die Darstellung der Verknüpfung der damaligen politisch-wirtschaftlichen Interessen und kriminellen Aktivitäten sind auch für den heutigen Leser hoch spannend. Was für die Netflix Serie “The Crown” gilt, darf natürlich auch hier vorausgesetzt sein. “Olympia” ist primär nicht Geschichtsunterricht, sondern Fiktion und Unterhaltung. Der zeitgeschichtliche Hintergrund besteht auch als solcher für unsere drei Hauptcharaktere, deren Schicksal eben deshalb rührt und uns was angeht, weil sie um ihre ganz individuelle Wahrheit und ihr innerstes Wesen kämpfen. Bedeute es, was es wolle, auch den Untergang.

Erschienen am 2. November 2020 beim Piper Verlag

544 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag

Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken