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VINYL/CD/STAGE+: LUDWIG VAN BEETHOVEN „THE LOST TAPES“ – Sviatoslav RICHTER mit den Klaviersonaten Nr. 18, 27, 28 & 31; Deutsche Grammophon

02.06.2025 | cd

VINYL/CD/STAGE+: LUDWIG VAN BEETHOVEN „THE LOST TAPES“ – Sviatoslav RICHTER mit den Klaviersonaten Nr. 18, 27, 28 & 31; Deutsche Grammophon

Profi-Live Mitschnitte (Heinz Wildhagen) aus dem Kunsthaus Luzern vom 2.9.1965 und aus La Grange de Meslay vom 29.6.1965

los

60 Jahre in den Archiven und Gott sei Dank nicht verloren. Warum die nun in optimierter klanglicher Qualität von den Emil Berliner Studios behutsam aufbereiteten Aufnahmen aus dem Jahr 1965 bislang niemals veröffentlicht wurden, darüber kann nur spekuliert werden. War es der zu Entstehungszeiten als inadäquat metallisch empfundene Klang des Flügels in Luzern, wie Markus Kettner u.a. mutmaßt? Wir wissen es nicht genau. Bislang kursierten nur einige rein interne Pressungen, die einige der Mitarbeiter des Labels besaßen.

Wir gehen mit der Meinung von Elisabeth Leonskaja d’accord, dass es sich keinesfalls um künstlerische Kriterien gehandelt haben kann. Denn der Heinrich Neuhaus Schüler Svialoslav Richter hat sich vor allem bei den skrupulös geplanten und geprobten Auftritten die Freiheit erlaubt, seine fix vorgefertigten Konzepte betreffend die klanglichen und expressiven Proportionen eines Stücks – streng entlang des Notentexts und der Vortragsbezeichnungen (Tempo und Dynamik), versteht sich – um jene subjektiven Parforceritte und grenzwertigen Zuspitzungen zu erweitern, die aus einer exquisiten Interpretation erst eine für die Ewigkeit machen. Wenn es dazu zweier Beispiele aus dem vorliegenden Vinyl-Doppelalbum bedürfte, dann würde ich die Fuga, Allegro ma non troppo aus der Klaviersonate Nr. 31 in As-Dur, Op. 110 und das Allegro im Finale der Sonate Nr. 28 in A-Dur, Op. 101 zu aussagekräftigen Zeugen aufrufen.

Wenn man via Erich Singer erfährt, dass Richter bei seinen Auslandsauftritten in Luzern stets von Repräsentanten des sowjetischen Geheimdienstes aus dem damaligen Volkskommissariat für innere Angelegenheiten NKWD umgeben war, kann man nur annähernd ermessen, in welchem politisch gesellschaftlichen Korsett sich dieser Künstler bewegte. Dass hier die Musik, gerade diejenige von Beethoven, ein einzigartiges Ventil bot, ein Atemholen an Freiheit und Selbstbestimmung erlaubte, versteht sich von selbst.

So ist auch die Faszination verständlich, die Richter für die abseits gelegene, idyllisch-mittelalterliche „Scheune“ Grange de Meslay unweit der französischen Stadt Tours empfand, wo er 1964 ein eigenes Festival begründete, das heute noch existiert. In dieser wehrhaft befestigten Domaine aus dem 13. Jahrhundert, die der Abtei Marmoutier unterstand, spielte Richter am 29. Juni 1965 die wahrscheinlich intensivste aller dokumentierten Beethoven Sonaten Nr. 31 in As-Dur aus Richters reicher Diskografie

Grundsätzlich war Richter bei der Wahl auch der Beethovenschen Sonaten und Klavierkonzerte (das „Fünfte“ spielte er nie) immer kritisch und konnte sich daher nicht für komplette Zyklen erwärmen. Auch gegenüber der As-Dur Sonate Op. 110 pflegte Richter Vorbehalte („indezent, beinahe schlechter Geschmack“), bis ihn sein Lehrer Neuhaus davon überzeugte, dass man diese Sonate nicht ignorieren könne. Er habe sie dann ziemlich oft im Programm gehabt, weil sie „relativ leicht zu spielen sei“ und sie ihm durch eine Öffnung der Schultern und Lockerung der Hände endlich den erträumten singenden Ton erlaubte.

Bei allen Aufnahmen des Albums langt Richter klar und männlich kraftvoll zu. Der geradlinige, unsentimentale Klassismus von Richter zeitigt Interpretationen von monumentaler skulpturaler Größe ohne jegliche analytische Verkopftheit. Dazu gesellt sich ein unbedingter Wille, bei aller Transparenz den Klang stets organisch phrasiert zu kommunizieren. Der grummelnde emotionale Donner rollt, schlägt übermütige Kapriolen, befreit sich am Ende selbst in und durch eine Art hartnäckig erworbener Eigenkatharsis.

Selbstkritisch bis zur Selbstaufgabe war dieser unermüdliche Probengeist, der einmal meinte, wenn er einmal zufrieden mit sich selbst war, war eben kein Mikro an (was mich an Martha Mödl erinnert, als sie sagte, wenn sie besonders gut disponiert war, hatte sie garantiert am Abend frei). Da wollen wir dann doch dezent unseren Widerspruch einlegen. Betrachten wir das Erscheinen der Bänder nun nach dieser langen Zeit des Schubladisierens als Glücksfall. Kaum je war die Ikone Richter als Pianist wahrhaftiger, als Interpret gereifter, als Mensch verständiger zu fassen, als dies durch diese Aufnahmen im Hier und Heute erlebbar wird.  

Das Album existiert in den Formaten CD und Doppel-LP. Von besonderem Interesse sind das Interview von Kai Luehrs-Kaiser mit der auf persönliche Erinnerungen bauenden Elisabeth Leonskaja, der Essay „Operating at full capacity“ von Jed Distler sowie aufschlussreiche begleitende Informationen zur Edition von Markus Kettner.

Ein kleines Bonmot aus dem Interview mit Leonskaja? Richter liebte es, jährlich private Bälle auszurichten, bei denen er die Eröffnungspolonaise selbst am Klavier begleitete und später das Tanzbein schwang. Wer hätte das gedacht?

Fazit: Wir erleben Richter am absoluten Höhepunkt seines Könnens. Technisch glänzend, voll löwenmähnen-wehender Energie und explosiver Anschlagkraft, musikalisch visionär (Leonskaja) mit ausgewählten mittleren und späten Werken eines Komponisten, die in ihrer leuchtenden Spielfreude, in ihrer Exzentrizität und Rätselhaftigkeit, in ihrer kontrapunktischen Strenge und empfindsamen Introvertiertheit dem Naturell des Interpreten entsprochen haben dürften. Grandios beglückend ist auch die gelöste Ausgelassenheit im Allegro der „Jagd“-Sonate Nr. 18 in Es-Dur, Op. 31/3.

Dringende Empfehlung!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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