Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

VINYL/CD SHOSTAKOVICH: KLAVIERKONZERTE – YUJA WANG und das Boston Symphony Orchestra unter ANDRIS NELSONS; Deutsche Grammophon

29.04.2025 | cd

VINYL/CD SHOSTAKOVICH: KLAVIERKONZERTE – YUJA WANG und das Boston Symphony Orchestra unter ANDRIS NELSONS; Deutsche Grammophon

Im Himmelreich der Musik: Traumhaft gutes Album zum 50. Todestag des Komponisten

wanh

Dmitri Shostakovich starb am 9. August 1975 an einem Herzinfarkt. Der sowjetische Komponist „zwischen Konvention und Revolution“ verstand es wie kein Zweiter Musiker des 20. Jahrhunderts, die vielgestaltigen zeitgeschichtlichen Irrungen und Wirrungen (gesellschaftlicher Umsturz, Kriege kalt oder heiß, das erwartungsenge Leben in autoritären Regimes u.a.) für alle Menschen, ob in Ost oder West, künstlerisch aufzugreifen und in emotional sofort fassliche unerhörte Harmonien und Rhythmen umzusetzen. Da grüßen stählerne Märsche und surreale Opern, komische Ballette wie das „Goldene Zeitalter“, wo der Name einer Industriemessehalle titelgebend war, bildhafte Filmmusiken, skurrile Operetten, weltumspannende Symphonien, intime Kammermusik, Jazziges, polyphone Klaviermusik, melancholische Lieder oder dramatische Chor-Orchesterwerke.

Die zahllosen Projektionsflächen seiner Musik erscheinen durch die historischen Entwicklungen der letzten Dekade aktueller denn je. Seine am Ende so positive Botschaft lautet: Bitte nie den Humor verlieren. Der beißende Sarkasmus, den Shostakovich allerdings schon lange vor den Schwierigkeiten mit Stalin hegte und pflegte, kann auch heutigen Hörern durchaus guttun. Kein Wunder, dass etwa das symphonische Oeuvre des Komponisten zu dem derzeit in den Konzertsälen am häufigsten programmierten überhaupt gehört.

Auf dem neuen Jubiläumsalbum der Deutschen Grammophon sind die beiden Klavierkonzerte (Nr. 1 in c-Moll, Op. 35, für Klavier, Trompete und Streichorchester; Nr. 2 in F-Dur, Op. 102) in Neuinterpretationen mit der chinesischen, in den USA lebenden Pianistin Yuja Wang, dem Boston Symphony Orchestra unter der musikalischen Leitung des Chefdirigenten Andris Nelsons zu hören. Die bereits 2022 eingespielten Konzerte werden durch sechs 2024 im Studio nachgereichte Préludes und Fugen (aus Op. 87 und Op. 34) ergänzt.  

Shostakovich war ja nicht nur bloßer Komponist, sondern ein universeller Musiker. Als am Petrograder Konservatorium ausgebildeter Konzertpianist bevorzugte Shostakovich einen kraftvoll sachlichen, rhythmisch akkuraten Stil ohne jegliche Sentimentalitäten. Legendär soll seine Gabe der Improvisation und des Blattspielens gewesen sein. Da der Jungspund in den 20-er Jahren als Live-Begleiter in Leningrader Kinos für Stummfilme auftrat (die Einnahmen daraus sollten in der schwierigen Bürgerkriegszeit Shostakovich‘ Überleben sichern), wird dieses Talent sicherlich auf fruchtbaren Boden gefallen sein. Shostakovich verfolgte die pianistische Karriere auf professionelle Art und Weise, bis zu seinem Scheitern beim Chopin-Wettbewerb 1927, der sich in der Zuerkennung lediglich eines „Ehrendiploms“ manifestierte.

Das Erste Klavierkonzert mit Solotrompete aus dem Jahr 1933, kurze Zeit nach seiner Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ finalisiert, charakterisierte der 27-jährige Shostakovich als „spöttische Herausforderung an den konservativ-seriösen Charakter des klassischen Konzert-Gestus“. Damit ist eigentlich schon alles gesagt über das viersätzige, polystilistisch-neoklassische Pasticcio, das sich unterhaltsam, komisch und parodistisch (Haydn und Beethoven werden liebevoll auf die Schaufel genommen, auch das Volkslied „O du lieber Augustin“ gibt seinen Senf dazu) zugleich geriert. Die vier Sätze spiegeln in ihrer stupenden Leichtfüßigkeit je nach Sichtweise stummfilmartig grimassierende Tonbilder oder einen bunt-gespannten zirkusähnlichen Topos.

Andris Nelsons ist mit seinem Shostakovich-Zyklus wieder einen bedeutenden Schritt vorangerückt. Die Wahl der Solisten mit Yuja Wang und Thomas Rolfs (erster Trompeter des Boston Symphony Orchestra und der Boston Pops) kann nicht anders als Top of the top bezeichnet werden. Die für ihre unnachahmliche Virtuosität und spektakulären Roben zugleich berühmte Pianistin exekutiert die rasanten Rhythmen, die frenetischen Kasperliaden des ersten Satzes in der ihr eigenen Intensität. Mikroskopische Präzision, ein glasklarer Anschlag und sagenhafter Spielwitz verbünden sich unter den Händen Wangs zu einem Ausbund an jugendlichem Überschwang, launiger Klangrede und kecker Anarchie. Im melancholischen Lento zeitigt Wang, dass sie auch mit lyrischer Sensitivität punkten kann.  

Für dieses aberwitzige Repertoire der gemäßigten Moderne braucht Yuja Wang derzeit gemeinsam mit ihrem Gelblabel-Kollegen Daniil Trifonov keine Konkurrenz zu scheuen, weder spieltechnisch, noch von der Expressivität oder den satirisch wie selbstverständlichen Sidesteps her.

Das Zweite Klavierkonzert in F-Dur aus dem Jahr 1957, begeistert entsprechend der sicher beabsichtigten Wirkung auf den Widmungsträger, dem zum Zeitpunkt der Uraufführung 19.- jährigen Sohn Maxim, vor allem im berühmten Allegro mit Rossini-Ulk, überbordend ausgelassener Energie, Tastenfunkensprühregen und schunkelndem Jauchzen. Das zarte Andante, so tröstlich in den seelenumarmenden Kantilenen, gehört in seiner Intimität zu den einschmeichelndsten Eingebungen des Komponisten überhaupt. Kein Wunder, dass Themen aus diesen beiden Sätzen Eingang in die Welt des Films gefunden haben. Darauf folgt in wilden tänzerischen Figuren das übermütige Finale, in dem Yuja Wang mit Bravour und fliegender Unbekümmertheit dem rasanten Tempo Andris Nelsons im Zusammenspiel mit dem mehr als brillanten Boston Symphony Orchestra noch eins draufsetzt.

Wieder einmal habe ich Vinyl gewählt, wieder einmal um bestätigt zu haben, dass kein digitaler Tonträger es klangtechnisch und von der organischen Wirkung der Musik mit den LPs der Deutschen Grammophon aufnehmen kann.

Hinweis: Shostakovich Festival 2025: Vom 15. Mai bis zum 1. Juni 2025 veranstaltet das Gewandhaus Leipzig ein umfangreiches Programm von Dmitri Shostakovich aus Anlass von dessen 50. Todestag. Unter der Leitung von Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons und Anna Rakitina interpretieren das Gewandhausorchester, das Boston Symphony Orchestra und das eigens für das Festival gegründete Festivalorchester – bestehend aus Mitgliedern der Mendelssohn-Orchesterakademie, des Tanglewood Music Center Orchestra und aus Studierenden der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig – alle Symphonien und Solo-Konzerte. Unter den Solisten firmieren Daniil Trifonov, Nikolaj Szeps-ZnaiderGautier Capuçon oder Baiba Skride. Zwei Aufführungen der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ an der Oper Leipzig unter Leitung von Andris Nelsons sowie ein Liederabend am 26.5. mit Elena Stikhina Sopran, Marina Prudenskaya Alt, Bogdan Volkov Tenor, Günther Groissböck Bass und Elena Bashkirova Klavier runden das Festivalprogramm ab.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken