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VINYL/CD JOHANN SEBASTIAN BACH: GOLDBERG VARIATIONEN mit VIKINGUR ÓLAFSSON; Deutsche Grammophon

06.11.2023 | cd

VINYL/CD JOHANN SEBASTIAN BACH: GOLDBERG VARIATIONEN mit VIKINGUR ÓLAFSSON; Deutsche Grammophon

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Legendenumrankt, angeblich zur Aufheiterung schlafloser Nächte gramvoller gräflich-russischer Gesandter geschrieben und vom umtriebigen Bach-Schüler Johann Gottlieb Goldberg mondscheinerhellt exekutiert oder doch „nur“ banal ein vierter und letzter Teil der Clavier-Übung bestehend aus einer Aria mit verschiedenen Veränderungen vors Clavicembal mit 2 Manualen. Denen Liebhabern zur Gemüthsergetzung von Johann Sebastian Bach, 1731 bis 1741 publiziert?

Die Interpretationshistorie der Goldberg-Variationen ist nicht minder als die Entstehungsüberlieferung, die maßgeblich – weil die Geschicht‘ halt auch zu schön ist – vom Biografen Forkel geprägt war, mythisch ins Halleluja eines kollektiven Bewusstseins gehoben durch die beiden extremen Pole Glenn Gould und Rosalyn Tureck. Spulte der mitsingende Jungluftikus Gould seinen Parforceritt durch das wachträumende Variationenwerk 1955 in 38 Minuten 30 Sekunden ab (beim Remake 1981 waren es dann schon 51‘15), so bot die berühmte amerikanische Bach-Pianistin 1998 bei der Deutschen Grammophon auf 2 CDs mit knapp über 91 Minuten dazu ein unerhörtes, dynamisch wie musikalisches Kontrastprogramm.

Gerade bei einem solchen Wunderwerk an formaler Strenge wie ausgelassener Erkundungsfreude und nicht zu vergessen Humor einmal unbefangener ohne Weihrauch, aber künstlerisch nicht weniger ambitioniert vom Anspruch her an die Sache zu gehen, tut gut. Vikingur Ólafsson gibt uns für seinen aktuellen Interpretations- wie Verständnisansatz folgendes Bild mit auf den Weg: das einer „mächtigen Eiche, imposant aber organisch, lebendig und dynamisch, mit flexiblen, erneuerbaren Formen, mit Blättern, die sich ständig entfalten, um durch eine metaphysische, die Zeit manipulierende Photosynthese musikalischen Sauerstoff in ihre Bewunderer zu produzieren“ weiß.

Klingt ein wenig kompliziert, aber nicht so das musikalische Ergebnis, das nicht nur einer imaginären Linie gehorchend, besonders rasant oder meditativ langsam sein will. Ólafsson lässt in atemberaubenden Kontrasten die schöpferische Freiheit nacherleben, die Bach offenbar angetrieben hat. Von der Idee, das System der Dreiergruppen (Charakterstück, virtuose Toccata, Kanon) mittels mathematischer Präzision mit metronomisch vorbestimmten Tempi für jede Variation anzugehen, verabschiedete sich Ólafsson gedanklich rasch, ohne in der Praxis ganz darauf verzichten zu können.

Seine Zauberworte lauten: interpretative Improvisation, reizvolle Überraschungen (kulminieren in der 30. Variation, diesem Quodlibet/Potpourri als musikalischem Spaß, der „am Ende einer langen musikalischen Reise Erhebung, Erlösung und jubelnden Triumpf bringt.“) Entdeckungsfreude, Immersion in die spezifische Dramatik und Emotion, in den kleinen wundervollen Mikrokosmos jeder einzelnen Variation.

„Ich bin so lange nicht bei dir g‘west, ruck her, ruck her“ diese witzig erotische Textzeile aus einem Gassenhauer, der in der 30. Variation verarbeitet worden sein soll – oder war es doch der Choral „Was Gott tut, das ist wohlgetan“, die Dichotomie an Möglichkeiten zeigt uns den gesamten Kosmos auf, den Ólafsson vor dem Hörer ausbreitet und ihn einlädt, den so vielgestaltigen Ausdrucksweisen der Variationen ohne „ideologische“ Festlegung zu folgen. Das Gefühl dabei ähnelt einer schwindelerregenden Achterbahn in dämmerndem Licht.

So folgt der in bedächtig poetischer Tureck-Manier in 4’08 Minuten zelebrierten ‚Aria‘ als totaler Schock die in heftigem Kontrast aberwitzig drängend angegangene ‚Variation 1‘ (1’30). Übertrifft Ólafsson bei der in geheimnisvoller Ruhe und kaleidoskopartigen Pianoschattierungen vorgetragenen‘ Variation 25‘ mit 9’48 Minuten Spieldauer noch Tureck (7’22), so braucht Ólafsson für die ‚Aria da capo‘ 2’35 (Wiedersehen oder Erinnerung?) und damit wesentlich weniger an Zeit als Gould 1981 (3’45).

Natürlich beschäftigen uns bei jeder Lesart nicht nur Zeitfragen, sondern auch Stilistik, Anschlag, Dynamik. Was den Umgang mit Rubati und den gläsernen, non-legato perlenden Anschlag betrifft, scheint Ólafsson näher an Gould zu liegen. In Wirklichkeit geht es jedoch um die vielen kleinen und allerkleinsten Details der Phrasierung und Artikulation, in denen Ólafsson sein ganz ureigenes Verständnis präsentiert. So fasziniert etwa die Variation Nr. 30 in der Art einer wahnwitzig gewordenen Spieluhr, die das lang gespannte Accelerando auf die Spitze treibt.

Alles ist in steter Bewegung bei Ólafsson, will man eine Regelmäßigkeit vernommen haben, so ist sie schon in der nächsten Sekunde Makulatur. Die streng bis (un)gehörig übermütigen Stimmungen und deren Wechsel fliegen dem Hörer um die Ohren, wie die unendlich fließenden Noten zwischen formaler Sachlichkeit und nebstbei bewirkter Emotion es tun. Am Ende ist die Überwältigung groß. Genauso die Freude, es mit einer Neuerscheinung zu tun zu haben, die der Erhabenheit, Magie und fingerbrechenden Virtuosität der singulären musikalischen Schöpfung genauso gerecht wird, wie dem zärtlichen Abschied, der ein baldiges weiteres Stelldichein erwarten lässt.  

Hinweis: Die Goldberg-Variationen BWV 988 gibt es in den Formaten schwarzes Vinyl 180g oder Crystal Clear Vinyl 180g / limitierte Auflage, CD oder Ultimate High Quality CD.

Ich habe mir Vinyl angehört. Von Natürlichkeit, Unmittelbarkeit, räumlicher Staffelung des Klangs als auch der Pressqualität top. 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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