Vinyl/CD: CHRISTIAN LÖFFLER „PARALLELS: SHELLAC REWORKS“ – Gelungenes Experiment: Historische Aufnahme der Deutschen Grammophon verwandelt in elektronische Klanglandschaften
„Da war natürlich die Idee, nicht den gleichen Sound zu wiederholen, sondern zu experimentieren. Ich habe ja vorher schon ganz oft eher ambient komponiert oder Piano-Sachen gemacht, wo auch Beats mal komplett außen vor bleiben. Das war die Idee: noch mehr in Richtung Hören gehen und elektronische Elemente sehr reduziert einsetzen.“ Christian Löffler
Das „Schellac Projekt“ basiert auf dem gigantischen Tonarchiv der Deutschen Grammophon. Archiviert wurde schon ab 1898. In einer Gemeinschaftsanstrengung mit Google Arts & Culture wurden Schellackplatten, das Sammlern bestens vertraute Aufnahmeformat mit Stahlnadel und Trichter, bis hinein in die 30-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts digitalisiert und die Aufnahmen in ihrer bestmöglichen Qualität restauriert. Aber: Würden etwa alle Geräusche entfernt werden, würde dies schnell zu einem künstlichen und unangenehmen Hörerlebnis führen. Der Toningenieur entscheidet auf Basis seiner Erfahrung und seines Instinkts daher, inwiefern er den Lärmpegel reduzieren wird. Der Klang wird erneut vom Toningenieur überprüft und poliert, bevor der Remaster freigegeben wird.
Aufbauend auf dem richtigen Gedanken, dass die Mission dieser musikalischen Wunder nicht erfüllt werden kann, es sei denn, diese Aufnahmen werden wieder zum Leben erweckt, hatte Universal Music die zündende Idee und den Mut, den deutschen Konzeptkünstler und Schöpfer atmosphärisch dichter Sounds Christian Löffler einzuladen, um unter Zugrundelegung des historischen Materials eigenständige elektronische Kompositionen zu erschaffen. Nach seinem „Electronica-Tribut an Beethoven“ stellen die klanglichen Parallelwelten basierend auf klassischer Musik von Bach bis Wagner, von Chopin über Smetana und Bizet das zweite Album an solchen Reworks dar.
Das in beachtlichen Teilen vollkommen vom Original abweichende Ergebnis ist überwältigend in der Macht der Verfremdung, der von den vielfältigen und widerstrebenden Emotionen her ganz modernen Textur, den wie post-apokalyptisch wirkenden transzendenten Ballungen und behutsam rhythmisierten Dehnungen.
Vergangenes verbindet sich mit einem in allen Fasern erspürten Augenblick zu einer Vision eines möglichen Morgens, in Rillen gestanzt wie ein zeitgemäßes Frühlingsopfer von Vorahnungen, Ängsten und der rauschhaft archaischen Freude am Neuanfang.
In den zehn seine Persönlichkeit und Vorlieben spiegelnden Tracks agiert Löffler ähnlich einem DJ in einem Berliner Club. Es ist auf der Basis eines großen Könnens enorm viel an frei Improvisiertem, instinktiv Gemaltem und Gestalteten spürbar. Elektronische Musik eröffnet so ihrem eigenen Gesetz folgend Brücken, aber nicht zwischen, sondern auf etwas zu, zu etwas hin. Nebelig verborgen, verschwommen, in der Konturwerdung chamäleongleich unerwartbar die Farben abrupt dem Untergrund angepasst. Das Knistern der Vorlagen etwa weckt Assoziationen zu einem Raumfahrtsimulator (für die die diese Erfahrungen gemacht haben).
Den gravierenden Unterschied zwischen Electronics und Klassik sieht Christian Löffler so: „Elektro-Tracks drehen sich oftmals mehrere Minuten lang um ein musikalisches Thema. Insofern sind in nur einem Beethoven-Stück Themen für mindestens ein ganzes Elektronik-Album enthalten. Wo Elektronik durch Redundanz eine Art Trancezustand ertanzbar macht, setzen klassische Stücke auf Entwicklung.“
Der Künstler hat einen Wunsch, bei dem wir ihm gerne helfen, dass er in Erfüllung geht: „Ich hoffe, meine Interpretationen erreichen so auch Menschen, die sich normalerweise die alten Meister nicht anhören. Es ist so viel Kraft, Jugend und Wildheit in dieser zeitlosen Musik.“
Ich möchte den unglaublichen, den hingebungsvollen Hörer in eine Art Trance versetzenden Effekt der Aufnahmen betonen, und das ganz ohne Alkohol, der sich beim Hören der wie Reminiszenzen aus einem anderen Leben bzw. aus dem Nirwana kommenden Klangmix einstellt. Die LPs sind ein Seelentröster jenseits ausgetretener Pfade, ein Lebenselixir in unserer aufgebrachten und viel Wut erzeugenden Zeit, eine Liebeserklärung an Musik und ihrer Möglichkeiten in einem endzeitlichen Umfeld.
Die Aufnahmen, meist mit der Staatskapelle Berlin, auf die Christian Löffler zurückgreifen durfte, wurden von Max von Schillings (Parsifal), Erich Kleiber (Die Moldau), Hans Pfitzner (Beethoven „Pastorale“; Symphonie Nr. 3, Marcia funebre), Richard Strauss (Beethoven Symphony Nr. 5, 2. Satz) bzw. Otto Klemperer (Beethoven „Egmont“) dirigiert. Außerdem hören wir den Thomanerchor Leipzig und Helmut Walcha (Orgel) bei Bachs „Jehova will ich singen“, Alfred Grünfeld (Klavier) bei Bachs „Gavotte“ aus der Englischen Suite Nr. 6, BWV 811, oder Koloman van Pataky Bizets Arie des Nadir aus „Les pêcheurs de perles“ singen.
„Parallels“ erscheint bei Deutsche Grammophon am 12. Februar 2021 und ist sowohl digital als auch auf CD und Vinyl erhältlich.
Dr. Ingobert Waltenberger