VINYL/CD BRUCE LIU „WAVES“ – Musik für Klavier solo von Rameau, Alkan, Ravel und Satie; Deutsche Grammophon
„Rameau klingt viel trockener, direkter und gewissermaßen federnder als Ravel, der stimmungsvoller und nebelverhangener ist, während der Klang von Alkan eine Mischung aus beiden darstellt.“ Liu
In seinem zweiten Solo Album für das Gelblabel stellt der durch seinen ersten Platz beim 18. Internationalen Chopin-Klavierwettbewerb vom Oktober 2021 spontan in die Weltöffentlichkeit der klassischen Musik katapultierte kanadische Pianist Bruce Liu drei französische Komponisten aus drei Jahrhunderten einander gegenüber. Originelle Invention in den Diensten musikalischer Programme verbindet die meisten der hier vorgestellten Werke von Jean-Philippe Rameau, Charles-Valentin Alkan und Maurice Ravel.
„So veränderlich wie das Meer“, diese Zuschreibung bezieht sich nicht nur auf Ravels ‘Une barque sur l’oceéan‘ aus dem fünfteiligen Zyklus „Miroirs“, den Liu zur Gänze für das Album eingespielt hat, sondern auch auf das musikalische Wesen Lius, der stets eine spontan improvisatorische Note in sein Spiel einzubringen weiß. Impressionistische Naturschilderungen, lautmalerisches Changieren, virtuose Tastenspielereien, blitzender musikalischer Humor: Nachtfalter, traurige Vögel, eine Barke auf dem Ozean, ein Narr und ein Gruß aus dem Tal der widerhallenden Glocken, die Stimmungen lässt Liu wechseln wie das Licht an einem wolkendurchsetzten Sommersonnenhimmel.
Was an diesem Album neben der stupenden Technik, Anschlagskultur und Musikalität des Pianisten fasziniert, ist, dass Bruce Liu und der Klaviertechniker Michel Brandjes alle Möglichkeiten des Studios genutzt haben, um verschiedene „Klangbilder“ zu generieren, die den Komponisten und ihren Werken ein ganz spezifisches Flair, zuschreiben.
So gehen in den Ausschnitten aus den fantastischen „Pièces de clavessin“ und den „Nouvelles suites de pièces de clavecin“ des Rameau (Gavotte et six doubles, Les sauvages, Les tendres plaintes, Les cyclopes, Menuet I&II, La Poule) das perlende Glitzern eines Cembalos mit den reichen Klangmöglichkeiten eines modernen Konzertflügels eine galvanische, ungemein spannende Verbindung ein. Schon Vikingur Olafsson hat in seinem 2020 bei der Deutschen Grammophon erschienenen Album erfolgreich Cembalowerke Rameaus in Korrelation zu Klavierstücken von Claude Debussy gestellt.
Es ist sehr erfreulich, dass sich junge Pianisten vermehrt mit dem Schaffen für Tasteninstrumente des mehr für seine musiktheatralischen Werke bekannten französisch-exzentrischen Tonsetzers Rameau abseits von Cembalisten wie Blandine Rannou, Gilbert Rowland, Trevor Pinnock oder Justin Taylor, um nur einige zu nennen, auseinandersetzen. Mir bereiten diese originellen Stücke auf jeden ebenso viel Freude wie die Spitzenwerke für Cembalo eines J. S. Bach, Domenico Scarlatti oder François Couperin.
Mich überzeugt auch der Ansatz des Bruce Liu, im Studio etwas anderes als bei einem Live-Konzert kreieren zu wollen. „Im Studio kann man wirklich sein eigenes Puzzle zusammenbasteln. Man erschafft ein Kunstwerk, indem man alle Teile passend zusammenfügt – und dazu gehört insbesondere, einen spezifischen Klang zu erzeugen.“
Welch Unterschied zu den extremen Gegensätzen Rameau und Ravel (barocke Klarheit versus impressionistisches Schwelgen in flüchtig hingetupften Klangfarben und onomatopoetische Launerei), wenn Bruce Liu die ‚Barcarolle‘ in g-Moll (aus dem „Recueil de chants“) und „Le festin d’Ésope“ von Alkan spielt. Alkan, ein typischer Vertreter der romantisch-französischen Klavierschule des 19. Jahrhunderts, ein zeitweiliger Nachbar von und befreundet mit Chopin in Paris, hat durch spieltechnische Innovation die expressiven Möglichkeiten des Klaviers geweitet. In welchem Maße Alkan – ähnlich wie Franz Liszt – berühmt-berüchtigt im Hinblick auf die technischen Schwierigkeiten einiger seiner Werke gewesen war, ist anhand der „beängstigend virtuosen“ Etüde ‚Le festin d’Ésope‘ (die finale der „Douze études dans tous les tons mineurs“) gut nachzuvollziehen. Es war zu erwarten, dass Bruce Liu keine Probleme mit den bizarr komplexen 25 Variationen haben wird. Aber wie er die rasanten Oktavüberschneidungen, Sprünge, flitzenden Akkorde, Tremoli, Doppeloktaven und Triller hinbekommt und noch dazu mit so manch Löwenbrüllen und Hühnergackern durchsetzt, die humorvoll auf die Fauna der Fabeln Äsops humorvoll verweisen, ist spektakulär und mitreißend zugleich.
Als „Bonus Tracks“ hat Bruce Liu noch die six Gnossiennes von Erik Satie (vierte Seite der 2 LPs) aufgenommen. Bei diesen Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen, erst im 20. Jahrhundert zusammen veröffentlichten, mythisch-mystischen Stücken ist Langsamkeit und Bedacht angesagt. Wer Liu auf einen bloßen Virtuosen festlegen will, wird spätestens hier eines Besseren belehrt.
Als Formate stehen Vinyl, CD oder das Streaming Service STAGE+ zur Verfügung. Ich habe mich wieder einmal mehr wegen der Natürlichkeit und Brillanz des Klangs für Vinyl entschieden.
Fazit: Eines der pianistisch bemerkenswertesten und konzeptuell klügsten Klavieralben des zu Ende gehenden Jahres!
Dr. Ingobert Waltenberger