VINYL/CD BACH „THE ART OF LIFE“ – DANIIL TRIFONOV; Deutsche Grammophon
Musik für Klavier solo von Johann Sebastian Bach, Johann Christian Bach, Wilhelm Friedemann Bach, Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Christoph Friedrich Bach
Ein weltberühmter Russe, der in New York lebt, spielt J. S. Bach und Werke seiner Söhne. Er lässt sich in lässiger Pose bei Bäumen und in der Wiese am Bach ablichten. Trifonov versucht, die Musik zu entmystifizieren, ohne ihr das Geheimnis zu nehmen, und die Menschen dahinter sichtbar zu machen, mit all ihren Familiengeschichten und Liebschaften, mit ihrem wirbelnden Rad an Gefühlen, ihrer Trauer und ihrem Humor, ihrer Melancholie und ihrer festen Verankerung im Glauben.
Aber natürlich stand beim Komponieren nicht das persönliche Erleben und momentane Befindlichkeiten im Vordergrund. Das Individuum ist zwar als Handschrift und Marke in Konturen erkennbar, aber zumindest ebenso wichtig darf der Zusammenhang zwischen Musik, Kontrapunkt und Mathematik, zwischen den Naturwissenschaften und dem konkreten Begreifen eines gottgeschaffenen Universums dienen. Trifonov: „Komplexe strukturelle Bezüge in der Musik, insbesondere solche, die in einem Stimmengeflecht ausgedrückt werden, betrachtetet man als Wunder und als ein Mittel, das einem dabei half, die Welt besser zu verstehen. Die Musik hatte so das gleiche Ziel wie die Religion: die geheimnisvolle, göttliche Ordnung der Natur zu erklären und zu preisen.“
Mechanik und Natur einmal beiseite, vor allem der Haufen lärmender und lachender Kinder musst den Alltag im Hause Bach bestimmt haben. 20 Sprösslinge im Abstand von 34 Jahren sollten es insgesamt werden, von denen einige höchst erfolgreich und mit erstaunlichen Nachwirkungen für die Musikgeschichte in die Fußstapfen des Vaters traten. Ob Mädel oder Bursch, alle erhielten eine profunde musikalische Ausbildung. Als maßgeschneidertes Unterrichtsmaterial komponierte der sorgsame Vater in der Rolle als geschickter Lehrer sogar Teile des Notenbüchleins für Bachs zweite Frau Anna Magdalena.
Trifonov beginnt seine „Kunst des Lebens“ betitelte Erkundung mit der Musik von vier Söhnen Bachs. Besonders das wundersam entrückte bis exzentrisch plappernde Rondo in C-Dur von Carl Philipp Emanuel Bach sowie die Funken schlagenden, vor Schabernack und Witz sprühenden, stets volksliedhaften 18 Variationen auf das Allegretto „Ah, vous dirai-je, maman“ des Johann Christoph Friedrich Bach zeigen, auf wie unterschiedliche Pfade der wohl frei die Einzelbegabung fördernde Unterricht die genialen Söhne Bachs geführt hat.
Trifonovs kristallklarer Anschlag ist zwar nichts weniger als romantisierend, in Dynamik und Tempozuspitzungen hingegen gewinnen vor allem die Variationen ihre ganz spezifische Mimik. Bisweilen könnte der Hörer den Eindruck gewinnen, der Komponist hätte diese bis als schwäbisch bezeichneten Abwandlungen mit herausgestreckter Zunge geschrieben, wären da nicht ein doch fein höfischer Noten-Zierrat, der ein solch freches Vorgehen wohl nicht beförderte.
Nach den zwölf, je nach Tanzart animiert bis feierlich vorgetragenen Ausschnitten aus dem besagten Notenbüchlein – drei davon stammen nicht von Johann Sebastian, sondern von Christian Petzold, Carl Philipp Emanuel Bach und Gottfried Heinrich Stölzel – ist der Großteil der LPs 2 und 3 der gebirgigen „Kunst der Fuge“ gewidmet. Aber zuvor legt Trifonov noch eine widerborstige und dennoch tief berührende Lesart der berühmten Chaconne in d-Moll für die linke Hand (Transkription des letzten Satzes der „Partita Nr. 2“ in d-Moll für Violine solo, BWV 1004) vor. Für Trifonov handelt es sich um eines der ergreifendsten, traurigsten und tragischsten Stücke der Musikgeschichte, legt es doch ein klingendes Zeugnis der Trauer Bachs um seine erste Frau Maria Barbara ab, die in dieses „polyphone Gebet“ mündete. Und genau so spielt Trifonov diese Musik, mit kraftvoller Klarheit, in gestrenger Form kristallisierter Emotion, das unfassbar Ewige dem zeitgebundenen Schmerz als mächtiger Tröster dienend.
Die „Kunst der Fuge“ stellt eine Sammlung aus 14 Fugen und vier zugehöriger Kanons dar, allesamt in der gleichen Tonart gehalten und auf dem gleichen viertaktigen Thema basierend. „Als Beschreibung von Zeit durch Raum zeigt das Werk eine außerordentliche Weitsicht und visionäre Kraft. Die Kanons lassen sich als meisterhafte Illustration einer Quantenverschränkung sehen, die Spiegelfiguren sind eine musikalische Beschreibung der Theorie von Materie und Antimaterie, die diminuierten Fugen stehen in Analogie zur gravitativen Zeitdehnung und so weiter.“ Aber keine Furcht, Sie brauchen als Zuhörer nicht Physik oder Mathematik studiert haben, um dieser so symbolträchtigen Musik etwas abgewinnen oder sie mit anschaulicher Bedeutung füllen zu können. Es gibt verschiedene Narrative bzw. Erklärungsversuche zum erzählerischen Strang der Fugen: Aus Sicht des Solisten verweisen die ersten sieben Fugen auf die sieben Tage der Schöpfung, in der achten kommt der Teufel persönlich zu Wort, die neunte erzählt von der Vertreibung aus dem Garten Eden.
Daniil Trifonov hat sich mit diesem Album Bach und seinen Söhnen in höchst persönlicher, unverwechselbarer Art genähert. Mit solch einer geduldig erarbeiteten musikalischen „Kunst des Lebens“ verwandelt Trifonov selbst die vertracktesten und komplexesten Fugen in fassbare Gefühlswelten. Die unbeschreibliche Tiefe der Interpretation, ihre schillernde Vielschichtigkeit und im Letzten Bescheidenheit machen aus Trifonov den bedeutendsten Pianisten der Jetztzeit.
Dr. Ingobert Waltenberger