INTERVIEW VINCENZO MILLETARÌ
Vincenzo Milletari. Copyright: Marco Borggreve
Der junge italienische Dirigent Vincenzo Milletarì leitet dieses Wochenende (25./26.3.2023) und am Montag das Tonkünstler-Orchester in drei Konzerten mit Musik von Puccini, Mendelssohn und Nielsen. Am Freitag gab der Künstler sein Österreich Debüt in einem Konzert in Baden, am Samstag und Montag folgen Konzerte in der Wiener Neustadt und in St. Pölten. Obwohl er für Opernrepertoire bereits stark gefragt ist, etwa im November große internationale Aufmerksamkeit für sein Dirigat von Donizettis selten gespielter Buffo-Oper „L‘aio nell‘imbarazzo“ in Bergamo erhielt und dieses Jahr seine erste „Bohème“ in Göteborg und seine erste „Tosca“ in Aarhus dirigiert, nehmen Symphoniekonzerte einen gleichermaßen wichtigen Stellenwert im Kalender des Maestros ein. Mit dem Merker sprach Vincenzo Milletarì über die Konzerte mit dem Tonkünstler-Orchester, Vorbilder, Lieblingskomponisten und was er von Riccardo Muti gelernt hat.
Erzählen Sie uns bitte etwas über Ihre Herkunft, Ihre Familie: Sind Sie in einem musikalischen Umfeld aufgewachsen? Haben Sie Ihre Eltern in Ihrem Wunsch, Musiker zu werden gefördert?
Ich wurde in Apulien geboren, einer wunderschönen Region Süditaliens, wo ich bis zum Ende des Gymnasiums lebte. Mein Vater ist Gastronom und meine Mutter Angestellte im öffentlichen Dienst, eine Arbeiterfamilie, die nie eine besondere Leidenschaft für Kunst hatte. Ich bin in den ersten Jahren meiner Jugend eher zufällig zur Musik gekommen und habe mich sehr in Jazz und ins Saxophon verliebt. Dann beschäftigte mich die Liebe zum Komponieren und später zur klassischen Musik mehr und mehr und ließ mich meinen Wunsch, Maschinenbauingenieur zu werden, beiseite legen. Zuerst wurde das nicht akzeptiert, wahrscheinlich weil meine Eltern keinen Musiker kannten. Sie hatten einfach Angst, dass ich eine riskante und ungewisse Zukunft wählte, aber als sie dann merkten, wie tief die Liebe war, die ich zur Musik empfand, beschlossen sie, mich durchgehend während meines Studiums zu unterstützen.
Vincenzo Milletari. Copyright: Marco Borggreve
Wie verlief Ihre musikalische Ausbildung und Ihr Studium?
Ich habe erst Komposition in Süditalien bis zum Abitur und dann zwei Jahre in Mailand studiert und ging nach meinem ersten italienischen Dirigierdiplom zunächst nach Deutschland, nach Würzburg zu Ari Rasilainen und dann nach Kopenhagen, an die Königliche Akademie, wo ich mich ganz dem Dirigieren widmete. Während meiner Jahre in Dänemark hatte ich das Glück, das Opernrepertoire bei Riccardo Muti zuerst in Ravenna und dann in ganz Europa und den Vereinigten Staaten und bei Piergiorgio Morandi studieren zu können.
Welche Dirigenten waren Ihr Vorbild während Sie aufwuchsen, und warum?
Als Junge habe ich Herbert von Karajan total verehrt, er ist bis heute eine meiner künstlerischen und menschlichen Referenzen.
Er hat es geschafft, diesen Beruf auf eine ganz neue Ebene zu heben. In nur wenigen Jahrzehnten gelang es ihm, innovative und unvorstellbare ästhetische, künstlerische und qualitative Konzepte allgemein gültig zu machen, die vorher nicht vorstellbar waren. Er hat klassische Musik populär gemacht, kaum jemand hat das bisher so geschafft wie er. Und die Tatsache, dass wir seine Aufnahmen noch heute in fast jedem Plattenladen der Welt finden können, beweist das. Ich liebe auch beispielsweise Georg Solti. Es gibt etwas an der Art, wie er den Klang kreierte, die Art, wie er die musikalischen Phrasen konstruierte, und dieses immer brennende Feuer, dieses dramatische Geschichtenerzählen, das mich nie ermüdet.
Können Sie uns etwas über Ihre Studienzeit bei Riccardo Muti erzählen? Worauf haben Sie sich besonders konzentriert?
Das waren sehr wichtige Jahre für mich mit Maestro Muti, durch die ich wirklich verstanden habe, um was es beim Dirigieren geht und was unsere Aufgabe als Interpreten und Dirigenten ist.
Ich habe gelernt, dass Studium, Hingabe und Arbeit an einer Partitur nie genug sind. Wie sehr dieser Beruf seine Zeit braucht, manchmal Jahrzehnte, wie viel wichtiger es ist, etwas abzulehnen, wofür man sich noch nicht bereit fühlt, als etwas zu machen, ohne den richtigen Fokus und die richtige Reife zu haben. Einmal umarmte mich der Maestro, sah mir in die Augen und vertraute mir drei Titel an, die man besser nicht vor 50 dirigieren sollte. Für einen davon habe ich Einladungen bereits mehrfach abgelehnt. Natürlich konzentrierte sich die Arbeit mit dem Maestro hauptsächlich auf die italienische Oper, insbesondere auf Giuseppe Verdi, und ich trage das, was er mich gelehrt hat immer in meinem Herzen… Und in meinen Armen!
Vincenzo Milletari. Copyright: Marco Borggreve
Beim Lesen Ihres Lebenslaufs fällt auf, dass Sie Oper und Symphoniekonzerte in in etwa gleicher Menge dirigieren. Ist das nicht ziemlich ungewöhnlich für italienische Dirigenten, die sich oft mehr auf die Oper konzentrieren? Ist das eine bewusste Entscheidung, Ihren Kalender so zu strukturieren oder einfach Zufall?
Das italienische Repertoire ist im Grunde Opernrepertoire, ein Repertoire, vom Barock bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, mit sehr seltenen Fällen, in denen italienische Komponisten Symphonien geschrieben haben. Die Tatsache, dass die italienische Oper so untrennbar mit Text und Wort verbunden ist, insbesondere bei Verdi und Puccini, führt natürlich dazu, dass italienischen Dirigenten einfach weil wir Muttersprachler sind dieses Repertoire leichter fällt. Ich glaube jedoch, dass die Geschichte auch die Vielseitigkeit der Italiener gezeigt hat. Toscanini, Abbado und Muti waren und sind großartige Operndirigenten, aber wir alle erinnern uns an ihre meisterhaften Interpretationen im symphonischen Repertoire und ausländische Komponisten wie Solti und Karajan waren wiederum Ikonen des italienischen Repertoires.
Ein Lieblingsopernkomponist? Und Ihr liebster Nicht-Opernkomponist?
Auf jeden Fall Giuseppe Verdi. Er war der Opernkomponist, der es geschafft hat, auf die effektivste und universellste Weise über die tiefsten Konzepte unserer Existenz zu schreiben.
Was den Nicht-Opernkomponisten angeht bin ich immer zutiefst unentschlossen zwischen Beethoven, der für mich das Äquivalent dessen ist, was ich vorhin über Verdi gesagt habe, aber in der symphonischen Musik, und Tschaikowski, den ich grenzenlos liebe.
Opera Seria oder Opera Buffa?
Immer die Tragödie!
Wenn Sie eine Zeitmaschine hätten, gibt es ein musikalisches Ereignis aus der Vergangenheit, bei dem Sie gerne dabei gewesen wären?
Ich hätte gerne Herbert von Karajans Konzert mit Jessye Norman und den Wiener Philharmonikern in Salzburg besucht, bei dem die beiden ein komplettes Wagnerprogramm aufgeführt haben. Ich kenne mehrere Leute, die damals im Publikum waren und die es als eines der bedeutendsten Konzerte des Jahrhunderts bezeichnen.
Können Sie uns etwas über das Programm erzählen, das Sie mit dem Tonküstler Orchester spielen? Wie wurde es ausgewählt?
Wir entschieden uns, ein Programm zusammenzustellen, das nicht viel Einführung erfordert: Mendelssohns Violinkonzert, ein Meisterwerk an Symmetrie, kompositorischer Qualität und instrumentaler Virtuosität, und zwei Stücke, die dem Publikum vielleicht weniger bekannt sind, die aber im Schaffen dieser beiden Komponisten, Puccini und Nielsen, sehr wichtig sind. Beide haben sich in den entsprechenden Lebensabschnitten mit dem großen deutschen und österreichischen symphonischen Repertoire befasst und sich davon inspirieren lassen.
Das „Preludio sinfonico“ ist das erste vollständige Stück, das der toskanische Komponist für ein großes Sinfonieorchester geschrieben hat. Es hat klare Wagner-Anklänge, auch wenn die melodische Inspiration von Puccini klar und ausgereift ist. Sicher, die Schönheit von Puccinis Melodien muss sich noch voll entfalten, aber ich denke, es ist ein kleines Juwel, das das Publikum öfter hören sollte. Das Konzert endet mit einer sehr interessanten Sinfonie, die außerhalb Skandinaviens selten aufgeführt wird, „Die vier Temperamente“ von Carl Nielsen. Nielsen ist vielleicht zusammen mit Sibelius und Grieg einer der interessantesten und berühmtesten nordeuropäischen Komponisten, aber im Gegensatz zu den Finnen und Norwegern hat Nielsen auf eine zutiefst europäische Art und Weise gedacht und ist stark von den künstlerischen und sozialen Veränderungen dieser Jahrzehnte beeinflusst. Diese Sinfonie ist äußerst speziell, weil sie von einem noch jungen Komponisten geschrieben wurde, der vom großen internationalen Publikum noch nicht vollständig anerkannt war und daher voller Enthusiasmus und Elemente ist, die darauf abzielen, den Zuhörer zu verblüffen und zu beeindrucken. Es ist fast so konstruiert, als wäre es Programmmusik, aber in Wirklichkeit sind die vier Bilder, die mit den vier Sätzen verbunden sind, nur der Ausgangspunkt, um der Fantasie des Dänen freien Lauf zu lassen.
Erzählen Sie uns bitte mehr über ihre nächsten Engagements.
Nach diesen Konzerten mit dem Tonkünstler-Orchester bin ich wieder in Göteborg für eine weitere Serie von „La bohème“. Mit Puccini beende ich diese Spielzeit auch, und zwar mit einer Neuproduktion von „Tosca“ in Aarhus. Dazwischen dirigiere ich Konzerte mit dem Orchestra Sinfonica di Milano in Bad Kissingen (das Eröffnungskonzert des Kissinger Sommers, eine Operngala mit Carmela Remigio und Freddie De Tommaso) und mit dem Orchestra della Toscana.
Das Gespräch führte Mag. Isolde Cupak im März 2023