Auf Zeitreise: Die Pianistin Uta Weyand ließ sich von der Jahreszahl 1892 inspirieren
Die Pianistin Uta Weyand hat einen etwas ungewöhnlichen „Aufhänger“ für das Programm ihrer aktuellen CD gefunden: In einem alten, restaurierten Steinway inspirierte die Jahreszahl „1892“ auf dem Herstellerschild zu einer historischen Momentaufnahme aus diesem Jahr. Was für Musik wurde im Jahr 1892 komponiert? Wie ging es überhaupt in den europäischen Nationen zu? Viele Jahre lebte und arbeitete Uta Weyand in Madrid und hat die spanische Kultur lieben gelernt. Deswegen rückt sie auf der CD Stücke von Isaac Albéniz in den Fokus. „Umrahmt“ werden sie von Debussy, Grieg und Brahms. Das Jahr 1892 steht für zarte Aufbrüche, aber auch für eine ungebrochene Verwurzelung in der nationalen Kultur. Das alles bot viel Stoff für ein Gespräch…
Ihre neue CD soll eine Zeitreise ins Jahr 1892 sein. Ist dieses Projekt unmittelbar von diesem Instrument ausgegangen?
Absolut! Ich wäre sonst nicht auf die Idee gekommen, mich in ein einziges Jahr der Musikgeschichte zu versetzen. Wenn man sich auf ein einziges Jahr fokussiert, wird klar, wie unglaublich viel dort passiert. Aber da war zunächst dieser Flügel auf Schloss Fasanerie. Ich habe mich für die Restauration des Flügels eingesetzt. In diesem Schloss ist ein tolles Ambiente. Jetzt hat der Steinway von 1892 seine alte Seele wiedererlangt und hat trotz neuer Mechanik seine Weichheit nicht verloren. Das hat er vielen neuen Steinway-Flügeln voraus, denn diese müssen sich meistens erst einmal anpassen.
Als Pianistin können Sie ja nicht auf Ihr eigenes Instrument vertrauen, das immer überall hin mitreist, sondern Sie müssen sich bei jedem Auftritt auf ein neues Instrument einstellen. Sehen Sie das als Benachteiligung oder als Chance?
Ich finde das wunderbar und es ist sogar einer der spannendsten Aspekte des Pianisten-Berufes. Vor jedem Konzert möchte ich erst einmal alleine sein mit dem für mich neuen Instrument. Man braucht Ruhe, um ihm zu begegnen und etwas zusammen entstehen zu lassen. Nach wenigen Minuten stellt sich heraus: Ist das auf Anhieb mein Freund oder ist es jemand, den ich erst überzeugen muss, mein Freund zu werden? Das Instrument und ich sind ein Team, genauso wie es etwa Lehrer und Schüler sind. Der dritte im Bunde ist dann der Saal und als viertes kommt das Publikum hinzu.
Wie hat sich das Projekt mit dieser CD weiter entwickelt?
Wir haben die CD im Raum neben dem großen Saal aufgenommen, der große Konzertsaal ist ohne Publikum zu überakustisch. Die Faszination für die Symbolik dieser Jahreszahl bildete immer den roten Faden, natürlich auch bei der Auswahl der Kompositionen. Ich fand heraus, dass in Bergen im Grieg-Museum der eigene Flügel dieses Komponisten steht, der ebenfalls von 1892 stammt. Das rief eine große Euphorie in mir hervor und es hat mich besonders berührt, dort auch ein Konzert zu geben. Der Spieleindruck auf Griegs Flügel in Bergen war ganz anders. Er hat sich schwer getan mit Albéniz, diese typische spanische Härte passte irgendwie nicht auf ihn. Hingegen mochte er Brahms und Debussy und Grieg funktionierte natürlich perfekt. Interessant wäre es jetzt, noch einen 1892-Flügel in Spanien zu finden.
Warum haben Sie gerade Spanien und Norwegen in einen Bezug gesetzt?
Ich wollte betrachten, was im Jahr 1892 sonst noch alles passiert ist – nicht nur in der Musik, sondern auch politisch, technisch und gesundheitlich und es sollte eine Reise durch Europa werden. Ich fing mit Grieg an. Dazu fand ich Albéniz als Gegenpol sehr spannend. Vor allem die Ausgelassenheit des Südens der Intimität des Nordens gegenüber zu stellen, faszinierte mich. Auch der Umstand, dass viele Dinge gleichzeitig existieren können und hier die eine Gleichzeitigkeit erst einmal nichts von der anderen weiß.
Die Welt war ja zu dem Zeitpunkt noch nicht so globalisiert und vernetzt.
Genau darum geht es. Ich wollte das Europa, das noch nicht „Europa“ ist, abbilden. Das fand ich sehr faszinierend. Betrachtet man außerdem die verschiedenen Lebenssituationen der einzelnen Komponisten im Jahr 1892, so befindet sich jeder in einem anderen Lebensjahrzehnt. Brahms ist hier schon in einem reifen Lebensabschnitt, Debussy ist zugleich sehr jung. Letzterer hat ja erst mit knapp 30 Jahren mit dem Komponieren angefangen. Grieg hingegen fühlte sich Zeit seines Lebens etwas verkannt. Heute erfreut er sich eines Weltruhms.
Wollten Sie, vor allem mit Griegs Lyrischen Stücken opus 57 ganz bewusst etwas unbekanntere Dinge aus der Versenkung holen?
Mir war eine ausgewogene Mischung von bekannten und unbekannteren Werken wichtig, um damit die Unterschiede der verschiedenen Ansätze zeigen zu können. Debussys frühes „Nocturne“ hört man zum Beispiel eher selten. Debussy steht schon 1892 mit einer Offenheit da, mit der er später in ganz andere Sphären abdriftet. Seine Aussage, Tonalität sei etwas für Feiglinge, hört man hier schon heraus.
Brahms wirkt in seinen Fantasie opus 116 schon eher wie ein Vorbild für Schönberg und weniger wie das Erbe von Beethoven…
Er ruht in sich selbst in diesen Stücken, aber ist trotz allem ein Wegweiser. Das Publikum kann oft mit dem fünften Klavierstück nichts anfangen, da dort nur eine sehr zerrissene Melodielinie zu finden ist. Dennoch finde ich, dass gerade in seinem opus 116 sehr viel aus seinem ganzen Leben zu hören ist. Die Stücke wirken auf mich wie ein Tagebuch voller Erinnerungen und nicht erfüllten Wünschen.
1892 war ein vergleichsweise friedliches Jahr, verglichen mit den Revolutionen des 19. Jahrhunderts vorher und den riesigen, auch verheerenden Umwälzungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Was ist Ihnen neben der Musik noch aufgefallen?
Man hat 400 Jahre Columbus gefeiert. Es existierten erste Telefonleitungen. Man las zum ersten Mal Sherlock Holmes und erfand den ersten selbstzündenden Motor. Das sind nur einige Beispiele vieler Erfindungen in diesem Jahr. In Hamburg wütete die letzte Cholera, was jetzt in Corona-Zeiten wieder ein aktuelles Thema ist. 1892 zeigt uns auch, dass die Epidemie letztlich überwunden wurde und dass es so etwas schon immer gab. Wenn man ein Jahr nacherlebt, wird klar, dass man auch heute immer weit um sich schauen sollte.
Was sagt die Musik Ihrer CD über nationale Identitäten im Jahr 1892 aus?
Es finden noch kaum irgendwelche Vermischungen statt, etwa zwischen Spanien und Frankreich. Spanien sehnt sich ab der Jahrhundertwende stark nach Mitteleuropa, dort befanden sich die großen Zentren für Künstler aller Künste. In den letzten zehn Jahren des 19. Jahrhunderts ist die Zeit noch nicht so weit. Auch wenn Brahms und Debussy schon deutlich experimentierten, ruhte doch alles noch in sich selbst.
Was hat Sie selbst nach Spanien gezogen?
Ich kannte Spanien nicht, bevor es mich wegen einem Lehrer dorthin verschlug. Vitaly Margulis musste in Pension, zuvor war ich von Leon Fleisher aus den USA zurückgekehrt. Jetzt wollte ich ein anderes Land kennen lernen. Joaquín Soriano interessierte mich als neuer Lehrer, da er mir als Vlado-Perlemuter- und Alfred-Brendel-Schüler ganz neue Welten eröffnen konnte. Ich schaute mir immer schon gerne den Background meiner Lehrer an und überlegte, was mir noch im Spektrum fehlte. Spanien kannte ich überhaupt noch nicht. Joaquín Soriano ist heute mein engster Begleiter geworden. Es begeistert mich bis heute, wie er Schüler und Studenten dazu erzieht, selbständig zu werden und ihnen beibringt, sich selbst zu erkennen. Was mache ich besser als andere? Was könnten andere besser als ich? Und ganz nebenbei hat mich dann die spanische Kultur und Mentalität auch noch erobert. Vor allem diese kommunikative Geselligkeit ist meine Sache.
Das spanische Musikleben ist im Rest von Europa eher wenig präsent. Was haben Sie im Land erfahren?
Mich hat die überaus lebendige Komponistenszene überrascht. Überhaupt hat Spanien eine ganz spezielle Musikgeschichte. Das, was wir als „Romantik“ bezeichnen, fehlt oder setzt einfach viel später erst ein. Spanien beschäftigt sich mit der Musik am Hof, mit der Operette „Zarzuela“, mit der Folklore „Flamenco“. Es ist eine komplett andere Welt. Wenn man außerdem zum Beispiel die maurische Architektur betrachtet, empfindet man Spanien weniger als den Süden Europas, als den Norden Afrikas. Zugleich fällt auf, dass nicht viel Spanisches exportiert wird. Warum isst man keine Tortilla, sondern überall Pizza? Die Spanier sind bis heute stolz auf das, was sie haben.
Wie haben Sie Ihren Wechsel zu Ihrer neuen osthessischen Wahlheimat bei Fulda erlebt?
Ich habe gewissermaßen eine europäische Großstadt gegen eine deutsche Kleinstadt getauscht. Aber ich genieße es sehr, zu wechseln. Das Leben wird reicher, wenn neue Dinge dazu kommen. Beweglich bleiben ist doch das Allerwichtigste.
Ihr Umzug hat mit der PIANALE International Academy and Competition ja auch ein pädagogisches Projekt aus der Taufe gehoben.
Ich unterrichte leidenschaftlich gern. Ich fühle mich als halber Mensch, wenn ich nichts weitergeben kann. Hier schien mir der richtige Ort, um in einer Kombination von Meisterkurs und Wettbewerb eine eigene Vision von musikalischer Bildung zu verwirklichen. Ich habe mir immer schon mehr Flexibilität in Hinsicht der Lehrerauswahl bei Meisterkursen und ein neuartiges Wettbewerbskonzept gewünscht. Daher habe ich die Pianale ganz anders konzipiert: Bei den Meisterkursen erhält jeder Student von jedem der bis zu acht Professoren Unterricht. Der Wettbewerb funktioniert als reale Konzertreihe an verschiedenen Konzertorten. Schließlich erhalten acht Halbfinalisten und vier Finalisten unter ca. 30 Studenten ihre Kursgebühr zurück und gewinnen nebenbei Konzertengagements.
Bestandteil der Pianale sind auch Sprachkurse. Zu einem internationalen Beruf wie dem Musikerdasein gehört es unbedingt, in den verschiedenen Sprachen der Länder kommunizieren zu können. Da liegt bei einigen Studierenden manches im Argen. Im nächsten Jahr wird die Pianale etwas kleiner, diesmal dann direkt in Fulda im Kloster Frauenberg stattfinden. Also wieder ein kleiner Ortswechsel. Ich bin sehr gespannt, auf diese Neuerung. Wie gesagt: beweglich bleiben und um sich schauen bietet immer wieder neue Chancen!
Stefan Pieper
Aktuelle CD
Uta Weyand
1892
ARS Produktion