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USEDOM / MUSIKFESTIVAL: „AUF NEUEN WEGEN“

28.09.2016 | Konzert/Liederabende

Usedomer Musikfestival 2016 auf neuen Wegen

von Ursula Wiegand

Immer am Wasser entlang zu laufen anstatt im Strandkorb zu sitzen – das ist das Herbstvergnügen auf der Ostseeinsel Usedom.

Einige im Standkorb, andere als Strandläufer,   Foto Ursula Wiegand

Einige im Standkorb, andere als Strandläufer, Foto Ursula Wiegand

Unaufhörlich klatschen die Wellen an den Strand. Die größeren liefern, gleichmäßig wie ein Metronom, den basso continuo. Die kleineren hüpfen im Pizzicato, oft übertönt vom blechbläserhaften Möwengeschrei, und als Kontrast das Rieseln des weichen Sandes im Pianissimo unter den nackten Füßen. Ohren auf, hier spielt ein ganzes Orchester!

Flügel am Strand von Ahlbeck, Foto Ursula Wiegand
Flügel am Strand von Ahlbeck, Foto Ursula Wiegand

Dirigent ist die Natur, die seit 1994 den genau passenden Background für das Usedomer Musikfestival bereitstellt. Wer es noch nicht kennt, stutzt sicherlich über den schwarzen Flügel, der in Ahlbeck unweit der Seebrücke im Sand steht. Usedomer Musikfestival 24.09. – 14.10. verkündet das mit einem Schwedenfähnchen verzierte Plakat auf seinem Deckel.

Doch wer kurz vor Beginn noch ein Ticket fürs Eröffnungskonzert erwerben wollte, war zu spät dran. Schon längst war die Riesenhalle in Peenemünde, im 2. Weltkrieg das Kraftwerk der Heeresversuchsanstalt, wo einst die V 2 produziert wurde, ausverkauft. Für 1.300 Zuhörer hat man Platz geschaffen. „Das ist ein neuer Rekord,“ freut sich Intendant Thomas Hummel.

KristjanJaervi&BalticSeaPhilharmonic (c) Peter Adamik - BMEF
Kristjan Järvi & Baltic Sea Philharmonic (c) Peter Adamik – BMEF

 Ein Magnet ist zweifellos Kristjan Järvi, Temperamentsbündel und Vollblutmusiker ohne Scheuklappen. Der kann junge Instrumentalisten begeistern und ihnen mit genauer Zeichengebung und aufmunterndem Lächeln Höchstleistungen abverlangen. Ein „Kumpel“ mit Visionen, die weit übers rein Musikalische hinausreichen.

Als Gründungsdirigent des Baltic Sea Youth Philharmonic (BYP) im Jahre 2008 hat er mit jungen Künstlern aus den Ostsee-Anrainerstaaten zukunftsweisende Wegmarken gesetzt. 2015 wurde das BYP mit dem Europäischen Kulturpreis geehrt.

Baltic Sea Philharmonic heißt nun das Orchester. Das ist keine simple Umbenennung, sondern ein neuartiges Projektorchester, gebildet aus den Alumni und Mitgliedern des BYP. Ein „stehendes Heer auf Abruf“ sozusagen, jedoch ein Musik-Botschafter für Frieden, Völkerverständigung und Umweltschutz.

Kristjan Järvi erklärt seine Vision, Foto Ursula Wiegand

 Kristjan Järvi erklärt seine Vision, Foto Ursula Wiegand

„Wir erschaffen eine beispiellose Einheit: einen Mikrokosmos der Harmonie, der in einem nördlichen Europa zwischen 10 Ländern bestehen kann. Wir sind stark, wenn wir es sein wollen. Und diese Stärke erwächst aus der Erde, der Natur, der Kultur und den Menschen dieser unglaublichen Region,“ so Krisjan Järvi über sein neues Orchester.

Ihre Stärke konnten die jungen Musikerinnen und Musiker bereits im April bei der Tour „Baltic Sea Landscapes“ durch Litauen, Lettland, Estland, Finnland und Russland beweisen. Der Qualitätssprung nach diesem Training ist unüberhörbar. Im September reisten sie erneut mit Järvi durch Nordeuropa, dann auch nach Danzig und Kopenhagen, begleitet vom berühmten Violinvirtuosen Gidon Kremer.

Gidon Kremer 2 © Geert Maciejewski - Usedomer Musikfestival
Gidon Kremer © Geert Maciejewski

 24. September: Auch beim Eröffnungskonzert des Usedomer Musikfestivals ist Gidon Kremer mit der von ihm 1997 gegründeten KremerataBaltica an Bord. Sein Geigenspiel und Järvis mal zurückhaltend sensibles, mal anfeuerndes Dirigat erfassen sogleich Herz und Hirn der Zuhörerinnen und Zuhörer .

Wie schon angedeutet, ist Schweden diesmal Partnerland, eines mit historischem Hintergrund. 1630 ging Schwedens König Gustav II Adolf in Peenemünde (!) an Land und beteiligte sich verspätet, aber erfolgreich am Dreißigjährigen Krieg, der unzählige Opfer forderte. Von 1630 – 1815 stand der größte Teil Pommerns unter schwedischer Herrschaft, die Insel Usedom angeblich von 1648-1720.

Greifenwappen am Schloss Pudagla, das Königin Christina versorgte
Greifenwappen am Schloss Pudagla, das Schwedens Königin Christina versorgte

Das ist Vergangenheit, heutzutage setzt man auf gutes Einvernehmen. Die deutsch-schwedischen Verbindungen werden in rund 30 Konzerten, Lesungen und Ausstellungen aufgezeigt. Eine Notwendigkeit, ist doch Schwedens Musik im übrigen Europa bislang wenig bekannt. Wie das Usedomer Musikfestival lehrt, lohnt es sich sie zu entdecken mitsamt den schwedischen Künstlern jenseits von ABBA.

Den Anfang beim Eröffnungskonzert macht Wilhelm Stenhammar (1871-1927) mit „Mellanspel“ aus der sinfonischen Kantate Sången (Gesang), eine romantische, an Bruckner erinnernde Hymne an die Natur. – Fast choralartige Klänge unter Führung des Englischhorns charakterisieren danach den „Swansong“ des tief religiösen Esten Arvo Pärt, der die Rückkehr der sterbenden Vögel und der Menschen zu Gott berührend thematisiert.

Dass auch an Polen und die Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages vor 25 Jahren gedacht wird, zeigt das „Violinkonzert g-Moll“ op.67 des gebürtigen Polen Mieczysław Weinberg. Erst allmählich werden seine Werke der Vergessenheit entrissen und lassen erkennen, welch großartiger Komponist er – stets im Schatten seines Freundes Schostakowitsch stehend – war.

Dieses Violinkonzert erlebte 2014 seine Deutschland-Premiere. Der Dank gilt nun Kristjan Järvi, der es mit ins Programm genommen hat, und Gidon Kremer, der es – zusammen mit seiner Kremerata Baltica und der Baltic Sea Philharmonic – eindringlich verwirklicht.

Beim perfekten Zusammenspiel von Kremer und den beiden Orchestern werden die schlimmen Kriegserlebnisse Weinbergs ebenso erfassbar wie die Trauer um seine ermordeten jüdischen Verwandten oder eigene Ängste. Märsche, Geschützdonner, Wehmut sind zu vernehmen und schließlich das tapfere „Dennoch“ zum Leben eines Einsamgewordenen. Kremer realisiert das atemberaubend bis hinauf ins finale Pianissimo. Langes Warten, ehe das Publikum intensiv applaudiert.

Nach der Pause ist erneut Schwanenzeit, aber wie!. In Bearbeitung von Kristjan Järvi erklingt Peter TschaikowskysSchwanensee“-Konzertsuite op. 20. Die aber entpuppt sich, zumindest für mich – trotz der wunderbaren Hauptmelodie und trotz der Tragik um die Schwanenprinzessin und ihren Prinzen – nach dem Weinberg-Stück als – pardon – reichlich oberflächlich.

Die stete Abwechslung von Theaterdonner und Lyrismen, diese perfekt komponierte „Programm-Musik“ wird mir – entkleidet von allem Tanzzauber – auf Dauer langweilig, obwohl nun Järvi auf dem Podium tanzt. Selbstverständlich legen sich auch die Musikerinnen und Musiker ins Zeug, selbstverständlich schweifen die satten Klänge wirkungsvoll durch die Halle. Lang ist diese Suite und reich an Ähnlichkeiten. Doch vermutlich wird sie ein Renner, denn kaum ist der letzte Ton verklungen, springt das Publikum begeistert und Bravo rufend auf.

Tanzende Musikerinnen des BalticSeaPhilharmonic (c) Peter Adamik - BMEF
Tanzende Geigerinnen der Baltic Sea Philharmonic (c) Peter Adamik – BMEF

Noch eins drauf setzen wie immer die Zugaben, vor allem die fetzig dargebotene estnische Volksmusik. Järvi strahlt, verlässt das Podium und tanzt mit den Gästen, Musikerinnen swingen geigend vor der ersten Reihe. Ein mitreißender Auftakt für das Usedomer Musikfestival.

Krummin, Kirche St. Michaelis, Foto Ursula Wiegand
Krummin, Kirche St. Michaelis, Foto Ursula Wiegand

25.09.Bach in Schweden“ heißt es in der Evangelischen Kirche St. Michaelis in Krummin am Achterwasser. In dieser einstigen Klosterkirche von 1270 mit dem spätgotischen Chor geht es weniger turbulent zu. Bei sinkender Sonne über dem kleinen Hafen ertönt zunächst Bachs doppelchörige Motette „Komm Jesu, komm“, sehr gut gesungen vom NDR Chor unter Leitung von Philipp Ahmann. Barbara Messmer (Violine), Christoph Harer (Cello) und Jörn Jacobi (Truheorgel) tun gekonnt das Ihre für den richtigen Bach-Klang.

Krummin, Hafen bei Sonnenuntergang, Foto Ursula Wiegand
Krummin, Hafen bei Sonnenuntergang, Foto Ursula Wiegand

 Doch Johann Sebastian Bach, nach seinem Tod auch ein fast Vergessener, reizt seit seiner Wiederentdeckung durch Mendelssohn und dessen Aufführung der Matthäus Passion im Jahr 1829  immer wieder zu Experimenten. Auch den Schweden Sven-David Sandström (geb. 1942), der die Motette „Fürchte dich nicht“ modern interpretiert mit mehrfacher Wiederholung des ihm offenbar wichtigen Satzes „Fürchte dich nicht“.

NDR Chor © Geert Maciejewski - Usedomer Musikfestival
NDR-Chor. Copyright: Geert Maciejewski – Usedomer Musikfestival

Bei „Jesu, meine Freude“ wechseln sich originale Bach-Weisen und Sandströms Nachschöpfungen. Interessante Klangvarianten sind es, und sie werden versiert gesungen und gespielt. Doch ihnen fehlt der Bachsche Rhythmus, das Tänzerische.

„Bach muss man tanzen“ – das weiß nicht nur Sir Eliot Gardiner. Nach dieser Devise arbeitet seit vielen Jahren das Bachhaus Eisenach. „Darf ich bitten?“: Bach und der Tanz, heißt ein  dortiges Schülerprogramm. John Neumeier, der bekannte Choreograf, ließ/lässt nach Bachs h-Moll-Messe und dem Weihnachtsoratorium tanzen, und er ist beileibe nicht der einzige, der nach Bachwerken tanzen lässt.

Ann Hallenberg ©Geert Maciejewski - Usedomer Musikfestival 
Ann Hallenberg © Geert Maciejewski – Usedomer Musikfestival

27.09.Hofkonzert bei Schwedens Königin“ nennt sich eine Darbietung von Ann Hallenberg mit dem Ensemble „Il pomo d’oro“, dreimaliger Echo-Preisträger 2016. Als Konzertpatin fungiert die Krimi-Autorin Donna Leon, denn sie kennen sich gut und haben im Mai in Göttingen mit einer „Agrippina-Hommage“ Aufsehen erregt. Nein, Comissario Brunetti hat Donna Leon nicht in die Kirche von Zinnowitz mitgebracht. Sie ist nur Begleiterin und feiert – top secret – nach dem Konzert ihren Geburtstag.

Donna Leon feiert in Zinnowitz Geburtstag, Foto Ursula Wiegand, II
Donna Leon feiert in Zinnowitz Geburtstag, Foto Ursula Wiegand

Das Ständchen bringt die schwedische Nachtigall Ann Hallenberg mit ihrem meisterhaften Mezzo. Einige der nun zu hörenden Barock-Komponisten gehörten zu denjenigen, die Königin Christina von Schweden, die nach ihrer Abdankung (1654) in Rom lebte, dort von 1655 bis zu ihrem Tod (1689) förderte. Finanziert wurde all’ das durch die Erträgnisse des Gutes Pudagla auf Usedom. Polnische Bauern ermöglichten ihr diesen Lebensstandard plus Sponsoring.

Die Königin dieses Abends ist zweifellos Ann Hallenberg, die sich vor allem Agrippina, der Mutter Neros widmet, deren Schicksal mehrere Herren zum Vertonen reizte. Porporas Agrippina-Arie klingt eher melancholisch, die von Sammartini deutlich dramatischer. Orlandini hat seine Oper „Nerone“ genannt. Den Wutausbruch dieser Dame gestaltet die Powerfrau Hallenberg mit Furor und rollenden Augen. Dass Händel in einer anderen Liga komponierte, kommt bei ihr jedoch ebenso zum Ausdruck.

Ann Hallenberg nach dem Konzert, Foto Ursula Wiegand

Bild: Ann Hallenberg nach dem Konzert, Foto Ursula Wiegand

 Den Koloraturen-Olymp erklimmt sie mit Leichtigkeit bei Carl Heinrich Grauns Aria aus Britannica“. Die poliert sie ebenso auf Hochglanz wie Graun es seinerzeit bei der Königlichen Hofoper Unter den Linden in Berlin getan hat. Und welch ein Hochbegabter Johann Adolf Hasse war, spielen die Instrumentalisten von Il pomo d’oro überzeugend in die Publikumsohren. Eigentlich hätten auch sie dafür einen goldenen Apfel verdient und Ann Hallenberg sowieso. „Meine Stimme ist nach zahlreichen Auftritten jetzt gut geölt,“ antwortet sie lachend auf die Frage, wie lange sie täglich übe.

Vielleicht möchte man ihn später auch dem Cellisten David Geringas für seinen zweiteiligen Beethoven-Zyklus, dem Eric Ericsons Kamarkör für glasklares Singen oder dem 21jährigen Piano-Player Jan Lisiecki überreichen, dem Solisten beim Abschlusskonzert in Peenemünde am 14. Oktober. Thomas Hengelbrock leitet dann das NDR Elbphilharmonie Orchester.

Villa Irmgard mit Kurt Masur Ausstellung. Foto Ursula Wiegand
Villa Irmgard mit Kurt Masur Ausstellung. Foto Ursula Wiegand

Eine stille Ehrung erfährt ein Großer: der am 19. Dezember 2015 verstorbene Kurt Masur. Eine kleine Ausstellung in in Heringsdorfs Villa Irmgard, wo 1922 Maxim Gorki gewohnt hatte, bedankt sich bei dem weltweit anerkannten Dirigenten, der oft von der Schönheit der Insel schwärmte.

Ahlbeck Seebrücke, 1994 Start des Usedomer Musikfestivals, Foto Ursula Wiegand
 Ahlbecks Seebrücke, 1994 Start des Usedomer Musikfestivals, Foto Ursula Wiegand

1994, als seine Frau Tomoko Sakurai-Masur als erste Künstlerin des Usedomer Musikfestivals auf der Ahlbecker Seebrücke sang, wurde er Schirmherr des Festivals. Seine Meisterkurse 2012 und 2013 bleiben ebenso in Erinnerung wie sein überraschender letzter Besuch 2014. Bei der Ausstellungseröffnung am 25. September war auch Frau Masur zugegen.

Weitere Infos unter www.usedomer-musikfestival.de – Das nächste Usedomer Musikfestival startet am 23. September 2017 (U.W.)

 

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