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TTT: Stefan Zweig – Schriftsteller, Exhibitionist, Suizident, Librettist – Literarisches Sentiment versus blasser Theaterseele Nr. 8 a

09.08.2023 | Themen Kultur

TTT: Stefan Zweig – Schriftsteller, Exhibitionist, Suizident, Librettist – Literarisches Sentiment versus blasser Theaterseele Nr. 8 a

Alternativen zur fehlenden Gefühlstiefe der Inszenierungsmiseren im Musiktheater!

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Generisches Maskulinum gilt elementar geschlechtsneutral, ohne Diskriminierung Abinärer.

Thema „Librettist“ folgt in den nächsten Tagen (z. B. „Die schweigsame Frau“, Richard Strauss). Über Stefan Zweig hinaus wird es um werkorientierte elementare Bedeutungen namhafter Literaten bei Adaption derer Werke als Librettist oder Vorlage im Musiktheater gehen.

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und starb am 23. Februar 1942 in Petrópolis, Brasilien.

Der österreichische Schriftsteller kam aus großbürgerlich-jüdischer Familie. Er studierte in Wien und Berlin Philosophie, Germanistik und Romanistik. 1904 promovierte er zum Dr. phil. Nach der Promotion bereiste er Europa, Amerika, Afrika und Indien. Während des 1. Weltkriegs war er zuerst propagandistisch im Wiener Kriegsarchiv, dann in offiziösen Missionen in der Schweiz tätig. Er engagierte sich für Frieden. Nach Kriegsende lebte er bis 1933 mit seiner Frau Friderike in Salzburg. Von ihr löste er sich im Zug einer Übersiedlung nach England, 1941 zog er weiter nach Brasilien, nach Petropolis im Bundesstaat Rio de Janeiro. Unter Depression leidend, nahm er sich dort gemeinsam mit seiner zweiten Frau Lotte das Leben. https://de.wikipedia.org/wiki/Stefan_Zweig

Zu Bild 3 v. li.  Abschiedsbrief: Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht. Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus!“ Stefan Zweig  an seine Freunde, 22. Februar 1942

 „Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gegeben. Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und [Streichung] meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet. Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die [Streichung] langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschließen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen“.                                                                                                                                            

Letztes Gedicht – Der Sechzigjährige dankt

Linder schwebt der Stunden Reigen
Über schon ergrautem Haar,
Denn erst an des Bechers Neige
Wird der Grund, der gold’ne klar.

Vorgefühl des nahen Nachtens,
Es verstört nicht — es entschwert!
Reine Lust des Weltbetrachtens
Kennt nur, wer nichts mehr begehrt,

Nicht mehr fragt, was er erreichte,
Nicht mehr klagt, was er gemißt,
Und dem Altern nur der leichte
Anfang seines Abschieds ist.

Niemals glänzt der Ausblick freier
Als im Glast des Scheidelichts,
Nie liebt man das Leben treuer
Als im Schatten des Verzichts.

Stefan Zweig – Ein Europäer von Welt (2015)

https://www.youtube.com/watch?v=ckSzsztJPA4    50 Min.

Die Dokumentation aus dem Jahr 2017 nähert sich dem Literaten mit Hilfe seiner Novellen und Romane. Unterlegt mit Originalaufnahmen wechseln sich Textpassagen mit der biografischen Geschichte Zweigs ab. So erhalten wir nicht nur einen spannenden Blick auf Stefan Zweigs Leben und Werk, sondern auch in die blühende Hochkultur Europas bis Anfang der 30er Jahre (arte 2015).                                                                                                           

Stefan Zweig – Die Welt von Gestern: Eine brillante Autobiographie mit vielen aktuellen Parallelen

Beim Lesen des autobiographischen Werks „Die Welt von Gestern“, welches Stefan Zweig zwischen 1939 und 1941, also kurz vor seinem Freitod verfasste, lief mir nicht nur einmal ein kalter Schauer über den Rücken. Einige der Geschehnisse und psychologisch interessanten Massenphänomene von „Gestern“ können dabei nach wie vor aufs „Heute“ übertragen werden – freilich mit anderslautenden Etiketten. (hochinteressant, angenehmer Schreibstil)

https://philippantonmende.com/2018/05/07/buchrezension-stefan-zweig-die-welt-von-gestern-eine-brillante-autobiographie-mit-vielen-aktuellen-parallelen/

 

Stefan Zweig war ein Exhibitionist  Lesedauer: 9 Minuten

Unter Exhibitionismus versteht man das Entblößen der Genitalien, um sexuell erregt zu werden, oder das starke Verlangen, von anderen Leuten während der sexuellen Aktivität beobachtet zu werden. Wikipedia

„Ich pendle zwischen äußerster Scham und äußerster Schamlosigkeit. Ich bin extrem in diesem einem“  Stefan Zweig

https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article146574143/Stefan-Zweig-war-ein-Exhibitionist.html

„… Zweig zu seiner Novelle „Verwirrung der Gefühle“ … Allerdings nur dergestalt, dass Zweig auch dem Schwulen zeigen wollte, dass er ihn im literarischen Schwanzvergleich um Längen überragte. Das Urteil der Zeitgenossen fiel erwartbar schmeichelhaft aus: „Es ist kaum zu viel gesagt, das Zweig die meisterhafteste homosexuelle Novelle schrieb, die existiert. … wenn er seine Frauen jung und knabenhaft schlank bevorzugte … Das „brennende Geheimnis“, Gegenstand lebenslanger Scham, sei allein der Drang zum „Schauprangertum“ gewesen. So notierte Zweig in sein Diarium, wenn er mal wieder durch eine Grünanlage gecruist war. Die erste erhaltene Eintragung datiert auf den 10. September 1912: „Dann spazieren, Liechtenstein, schauprangern. Das Object zu jung noch, ohne tieferes Interesse, mehr frappiert als schon an richtiger psychologischer Stelle erfasst. Dies eigentlich weniger aufreizend, aber mehr gefährlich und wäre zu meiden.“

 Nackt – War Stefan Zweig Exhibitionist?

 Eine neue Monografie will das „brennende Geheimnis“ des diskreten Schriftstellers enthüllen.

https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/138749283

 Exhibitionismus eines Schriftstellers, das ist ja beinahe eine Berufskrankheit. Die Selbstenthüllung in der Kunst, unterdrückte Leidenschaften, geheime, tief verborgene Kräfte im Schreiben enthüllen, produktiv machen, zum Ausdruck bringen, nutzen, intensivieren, wie viele Werke der Weltliteratur sind so entstanden„Schauprangertum“.Zweig Exhibitionist . Er habe sich immer wieder zwanghaft im Park vor anderen Menschen entblößt.

Das Gerücht hingegen gab es schon lange. Thomas Mann schrieb 1954 in einem Brief an den Berliner Arzt Paul Orlowski: „Die Welt ist voll von aus dem Bürgerlichen fallenden und genialisch-merkwürdigen Begabungen, deren kulturelle oder auch nur amüsante Darbietungen die Bürgerlichkeit naiv genießt und applaudiert, während sie aus sexueller ,Abwegigkeit‘ kommen. Der weltberühmteste deutsche Schriftsteller der jüngst vergangenen Zeit, Stefan Zweig, soll Exhibitionist gewesen sein. Mir hat er es nicht gestanden, aber in der Intimität weiß man es, und er soll auch schwere Unannehmlichkeiten davongehabt haben.“ Und wer meint, der heimliche Homoerotiker Mann rede hier aus einer brüderlichen Perspektive, sieht sich getäuscht: „Ich gestehe, dass gerade vor dieser Passion mein Verständnis halt macht, während es sonst ziemlich weit reicht.“

Am deutlichsten hatte der österreichische Kunsthändler und zeitweilige Freund Stefan Zweigs, Benno Geiger, in seinem nur auf Italienisch erschienenen Erinnerungsbuch „Memorie di un Veneziano“ im Jahr 1958 auf den Fall hingewiesen: „Er selbst hat mir dies erzählt. Er litt an der Sucht des Exhibitionismus, das heißt an dem unwiderstehlichen Drang, sich in Anwesenheit eines

einsamen jungen Mädchens zu entblößen. Diese Lappalie bezeichnete er mit dem von ihm erfundenen Begriff: ,Schauprangertum‘. Beliebte Plätze waren die Wege im Park von Schönbrunn; besonders das alte Affenhaus.“                                                                                                                 

 Junge Glut

Tiefe Nacht. –
Aus sinneheißem Traum bin ich erwacht.
Ich träumte von schimmernder Glieder Pracht
Von Frauen, die mit liebesfrohen und verständnisstillen
Verschwiegnen Blicken Wunsch und Sucht erfüllen,
Ich träumte von glühenden brennenden Küssen
Von trunkener Geigen laut jubelndem Klang,
Von wilden, berauschenden Glutgenüssen
Von Mädchen, die ich als Sieger bezwang…
Und jede Sehnsucht fand im Traum ihr Ende
Doch nun bin ich erwacht!
Allein! . . . . . . . . . . . . . Allein!! . . . . . .
. . . Und sinnetrunken tappen meine Hände
In schweigende Dunkelheiten hinein
Hinein in die leere, nichtssagende Nacht! . . .                                                                                              

 

Zitate:                                                                                                                                                                                            

 Es ist vielleicht das einzige Stück Freiheit, das man sein ganzes Leben ununterbrochen besitzt: Die Freiheit, das Leben wegzuwerfen.

Die halbe Wahrheit ist nichts wert.                                                                                                                                   

(Freud) als Denker (war) keineswegs verwundert über diesen fürchterlichen Ausbruch der Bestialität (unter Hitler) – seine Meinung, dass das Barbarische, dass der elementare Vernichtungstrieb in der menschlichen Seele unausrottbar sei, seien auf das Entsetzlichste bestätigt.

Die einen wollen Frieden und die anderen keinen Krieg. So was erzeugt natürlich Spannungen.

Einer muß den Frieden beginnen wie den Krieg.

Wahrheit und Politik wohnen selten unter einem Dach.

Früher hatte der Mensch nur einen Körper und eine Seele. Heute braucht er noch einen Pass dazu, sonst wird er nicht wie ein Mensch behandelt.

Wie sollte ein so rascher Ruhm nicht einen so leeren Kopf beduseln?

Stefan Zweig – „nur wer auch die Tiefen kennt, hat wirklich gelebt“

Stefan Zweig – „nur wer auch die Tiefen kennt, hat wirklich gelebt“

https://www.fischundfleisch.com/ebgraz/stefan-zweig-nur-wer-auch-die-tiefen-kennt-hat-wirklich-gelebt-135-geburtstag-28510

Was würde Zweig zu Hofer, Le Pen, Trump, Wilders, Erdogan, etc.. sagen? …  „Ich glaube an ein freies Europa. Ich glaube, dass Grenzen und Pässe eines Tages der Vergangenheit angehören werden.“  Ein womöglich brüchiger Glaube angesichte jüngster, politischer Entwicklungen auf der Welt:BREXIT, Renationalisierung, Wiedererstarken des Rechtspopulismus, Trump, degenerierter Raubtierkapitalismus, Flüchtlingskrise, etc. Wir erleben jetzt, dass Zweigs Utopie inzwischen wahr geworden ist und inzwischen mehren sich wiederum die Anzeichen eines Verfalles.

„Wie sollen wir das nur aushalten?“ fragt sich Zweig. Er findet darauf keine Antwort tausende Kilometer von seiner Heimat entfernt, wohl wissend, dass in seiner Heimat seinen Verwandten und vielen Freunden der Tod droht und welche Zerstörung ihrer Kultur widerfährt. Stefan Zweigs Novellen und Romanbiografien beschreiben minutiös das Denken und die Gefühle der handelnden Personen in den Romanen und er taucht immer wieder in die untergegangene Welt der Habsburger Monarchie ein, der er nachtrauerte und mit dem Untergang dieser Welt kam er für sich nicht mehr klar. (Hinweise zum literarischen Schaffen.

Tim Theo Tinn 10. August 2023 

 

Anhang: Phantastische Nacht – Novelle von 1922

Kurzinfo: Weder schöne Frauen noch andere sinnliche Genüsse berühren den durch Erbe reichen Baron von R. Teilnahmslos zieht sein Leben an ihm vorüber, bis ihm in einer ebenfalls innerlich kalten, spielerischen Frau eine ebenbürtige Gegner entgegentritt und angesichts eines ergaunerten Gewinns auf der Pferderennbahn seine von einer übermäßig normierten, leidenschaftslosen Gesellschaft unterdrückten Gefühle hervorbrechen. 37-jährig fällt der österreichische  Reserveoberleutnant 1914. Die Familie übergibt den im Oktober 1913 verfassten Text aus dem Nachlass einem fiktiven Erzähler, der quasi als Herausgeber fungiert. Zitat  „Vor ihm schäme ich mich nicht, denn er versteht mich nicht. Wer aber um das Verbundene weiß, der richtet nicht und hat keinen Stolz.“ https://austria-forum.org/af/AustriaWiki/Phantastische_Nacht#cite_note-1

Die nachfolgenden Aufzeichnungen fanden sich als versiegeltes Paket im Schreibtisch des Barons Friedrich Michael von R…, nachdem er im Herbst 1914 als österreichischer Reserveoberleutnant bei einem Dragonerregiment in der Schlacht bei Rawaruska gefallen war. Da die Familie nach der Titelüberschrift und bloß flüchtigem Einblick in diesen Blättern nur eine literarische Arbeit ihres Verwandten vermutete, übergaben sie mir die Aufzeichnungen zur Prüfung und stellten mir ihre Veröffentlichung anheim. Ich persönlich halte diese Blätter nun durchaus nicht für eine erfundene Erzählung, sondern für ein wirkliches, in allen Einzelheiten tatsächliches Erlebnis des Gefallenen und veröffentliche unter Unterdrückung des Namens seine seelische Selbstenthüllung ohne jede Änderung und Beifügung.

Heute morgens überkam mich plötzlich der Gedanke, ich sollte das Erlebnis jener phantastischen Nacht für mich niederschreiben, um die ganze Begebenheit in ihrer natürlichen Reihenfolge einmal geordnet zu überblicken. Und seit dieser jähen Sekunde fühle ich einen unerklärlichen Zwang, mir im geschriebenen Wort jenes Abenteuer darzustellen, obzwar ich bezweifle, auch nur annähernd die Sonderbarkeit der Vorgänge schildern zu können. Mir fehlt jede sogenannte künstlerische Begabung, ich habe keinerlei Übung in literarischen Dingen, und abgesehen von einigen mehr scherzhaften Produkten im Theresianum habe ich mich nie im Schriftstellerischen versucht. Ich weiß zum Beispiel nicht einmal, ob es eine besonders erlernbare Technik gibt, um die Aufeinanderfolge von äußern Dingen und ihre gleichzeitige innere Spiegelung zu ordnen, frage mich auch, ob ich es vermag, dem Sinn immer das rechte Wort, dem Wort den rechten Sinn zu geben und so jene Balance zu gewinnen, die ich von je bei jedem rechten Erzähler im Lesen unbewußt spürte. Aber ich schreibe diese Zeilen ja nur für mich, und sie sind keineswegs bestimmt, etwas, was ich kaum mir selber zu erklären vermag, andern verständlich zu machen. Sie sind nur ein Versuch, mit irgendeinem Geschehnis, das mich ununterbrochen beschäftigt und in schmerzhaft quellender Gärung bewegt, in einem gewissen Sinne endlich einmal fertig zu werden, es festzulegen, vor mich hinzustellen und von allen Seiten zu umfassen.

Ich habe von dieser Begebenheit keinem meiner Freunde erzählt, eben aus jenem Gefühl, ich könnte ihnen das Wesentliche daran nicht verständlich machen, und dann auch aus einer gewissen Scham, von einer so zufälligen Angelegenheit dermaßen erschüttert und umgewühlt worden zu sein. Denn das Ganze ist eigentlich nur ein kleines Erlebnis. Aber wie ich dies Wort jetzt hinschreibe, beginne ich schon zu bemerken, wie schwer es für einen Ungeübten wird, beim Schreiben die Worte in ihrem rechten Gewicht zu wählen, und welche Zweideutigkeit, welche Mißverständnismöglichkeit sich an das einfachste Vokabel knüpft. Denn wenn ich mein Erlebnis ein »kleines« nenne, so meine ich dies natürlich nur im relativen Sinn, im Gegensatz zu den gewaltigen dramatischen Geschehnissen, von denen ganze Völker und Schicksale mitgerissen werden, und meine es andererseits im zeitlichen Sinne, weil der ganze Vorgang keinen größeren Raum umspannt als knappe sechs Stunden. Für mich aber war dies – im allgemeinen Sinn also kleine, unbedeutsame und unwichtige – Erlebnis so ungeheuer viel, daß ich heute – vier Monate nach jener phantastischen Nacht – noch davon glühe und alle meine geistigen Kräfte anspannen muß, um es in meiner Brust zu bewahren. Täglich, stündlich wiederhole ich mir alle seine Einzelheiten, denn es ist gewissermaßen der Drehpunkt meiner ganzen Existenz geworden, alles, was ich tue und rede, ist unbewußt von ihm bestimmt, meine Gedanken beschäftigen sich einzig damit, sein plötzliches Geschehen immer und immer wieder zu wiederholen und durch dieses Wiederholen mir als Besitz zu bestätigen. Und jetzt weiß ich auch mit einemmal, was ich vor zehn Minuten, da ich die Feder ansetzte, bewußt noch nicht ahnte: daß ich mir dies Erlebnis nur deshalb jetzt hinschreibe, um es ganz sicher und gleichsam sachlich fixiert vor mir zu haben, es noch einmal nachzugenießen im Gefühl und gleichzeitig geistig zu erfassen. Es ist ganz falsch, ganz unwahr, wenn ich vorhin sagte, ich wollte damit fertig werden, indem ich es niederschreibe, im Gegenteil, ich will das zu rasch Gelebte nur noch lebendiger haben, es neben mich warm und atmend stellen, um es immer und immer umfangen zu können. Oh, ich habe keine Angst, auch nur eine Sekunde jenes schwülen Nachmittags, jener phantastischen Nacht zu vergessen, ich brauche kein Merkzeichen, keine Meilensteine, um in der Erinnerung den Weg jener Stunden Schritt für Schritt zurückzugehen: wie ein Traumwandler finde ich jederzeit mitten im Tage, mitten in der Nacht in seine Sphäre zurück, und jede Einzelheit sehe ich darin mit jener Hellsichtigkeit, die nur das Herz kennt und nicht das weiche Gedächtnis. Ich könnte hier ebensogut auf das Papier die Umrisse jedes einzelnen Blattes in der frühlingshaft ergrünten Landschaft hinzeichnen, ich spüre jetzt im Herbst noch ganz lind das weiche staubige Qualmen der Kastanienblüten; wenn ich also noch einmal diese Stunden beschreibe, so geschieht es nicht aus Furcht, sie zu verlieren, sondern aus Freude, sie wiederzufinden. Und wenn ich jetzt in der genauen Aufeinanderfolge mir die Wandlungen jener Nacht darstelle, so werde ich um der Ordnung willen an mich halten müssen, denn immer schwillt, kaum daß ich an die Einzelheiten denke, eine Ekstase aus meinem Gefühl empor, eine Art Trunkenheit faßt mich, und ich muß die Bilder der Erinnerung stauen, daß sie nicht, ein farbiger Rausch, ineinanderstürzen. Noch immer erlebe ich mit leidenschaftlicher Feurigkeit das Erlebte, jenen Tag, jenen 7. Juni 1913, da ich mir mittags einen Fiaker nahm …

Aber noch einmal, spüre ich, muß ich innehalten, denn schon wieder werde ich erschreckt der Zweischneidigkeit, der Vieldeutigkeit eines einzelnen Wortes gewahr. Jetzt, da ich zum ersten Male im Zusammenhange etwas erzählen soll, merke ich erst, wie schwer es ist, jenes Gleitende, das doch alles Lebendige bedeutet, in einer geballten Form zufassen. Eben habe ich »ich« hingeschrieben, habe gesagt, daß ich am 7. Juni 1913 mir mittags einen Fiaker nahm. Aber dies Wort wäre schon eine Undeutlichkeit, denn jenes »Ich« von damals, von jenem 7. Juni, bin ich längst nicht mehr, obwohl erst vier Monate seitdem vergangen sind, obwohl ich in der Wohnung dieses damaligen »Ich« wohne und an seinem Schreibtisch mit seiner Feder und seiner eigenen Hand schreibe. Von diesem damaligen Menschen bin ich, und gerade durch jenes Erlebnis ganz abgelöst, ich sehe ihn jetzt von außen, ganz fremd und kühl, und kann ihn schildern wie einen Spielgenossen, einen Kameraden, einen Freund, von dem ich vieles und Wesentliches weiß, der ich aber doch selbst durchaus nicht mehr bin. Ich könnte über ihn sprechen, ihn tadeln oder verurteilen, ohne überhaupt zu empfinden, daß er mir einst zugehört hat.

Der Mensch, der ich damals war, unterschied sich in Wenigem äußerlich und innerlich von den meisten seiner Gesellschaftsklasse, die man besonders bei uns in Wien die »gute Gesellschaft« ohne besonderen Stolz, sondern ganz als selbstverständlich zu bezeichnen pflegt. Ich ging in das sechsunddreißigste Jahr, meine Eltern waren früh gestorben und hatten mir knapp vor meiner Mündigkeit ein Vermögen hinterlassen, das sich als reichlich genug erwies, um von nun ab den Gedanken an Erwerb und Karriere gänzlich mir zu erübrigen. So wurde mir unvermutet eine Entscheidung abgenommen, die mich damals sehr beunruhigte. Ich hatte nämlich gerade meine Universitätsstudien vollendet und stand vor der Wahl meines zukünftigen Berufes, der wahrscheinlich dank unserer Familienbeziehungen und meiner schon früh vortretenden Neigung zu einer ruhig ansteigenden und kontemplativen Existenz auf den Staatsdienst gefallen wäre, als dies elterliche Vermögen an mich als einzigen Erben fiel und mir eine plötzliche arbeitslose Unabhängigkeit zusicherte, selbst im Rahmen weitgespannter und sogar luxuriöser Wünsche. Ehrgeiz hatte mich nie bedrängt, so beschloß ich, einmal dem Leben erst ein paar Jahre zuzusehen und zu warten, bis es mich schließlich verlocken würde, mir selbst einen Wirkungskreis zu finden. Es blieb aber bei diesem Zuschauen und Warten, denn da ich nichts Sonderliches begehrte, erreichte ich alles im engen Kreis meiner Wünsche; die weiche und wollüstige Stadt Wien, die wie keine andere das Spazierengehen, das nichtstuerische Betrachten, das Elegantsein zu einer geradezu künstlerischen Vollendung, zu einem Lebenszweck heranbildet, ließ mich die Absicht einer wirklichen Betätigung ganz vergessen. Ich hatte alle Befriedigung eines eleganten, adeligen, vermögenden, hübschen und dazu noch ehrgeizlosen jungen Mannes, die ungefährlichen Spannungen des Spiels, der Jagd, die regelmäßigen Auffrischungen der Reisen und Ausflüge, und bald begann ich diese beschauliche Existenz immer mehr mit wissender Sorgfalt und künstlerischer Neigung auszubauen. Ich sammelte seltene Gläser, weniger aus einer inneren Leidenschaft als aus der Freude, innerhalb einer anstrengungslosen Betätigung Geschlossenheit und Kenntnis zu erreichen, ich schmückte meine Wohnung mit einer besonderen Art italienischer Barockstiche und mit Landschaftsbildern in der Art des Canaletto, die bei Trödlern zusammenzufinden oder bei Auktionen zu erstehen voll einer jagdmäßigen und doch nicht gefährlichen Spannung war, ich trieb mancherlei mit Neigung und immer mit Geschmack, fehlte selten bei guter Musik und in den Ateliers unserer Maler. Bei Frauen mangelte es mir nicht an Erfolg, auch hier hatte ich mit dem geheimen sammlerischen Trieb, der irgendwie auf innere Unbeschäftigtkeit deutet, mir vielerlei erinnerungswerte und kostbare Stunden des Erlebens aufgehäuft, und hier allmählich vom bloßen Genießer mich zum wissenden Kenner steigernd. Im ganzen hatte ich viel erlebt, was mir angenehm den Tag füllte und meine Existenz mich als eine reiche empfinden ließ, und immer mehr begann ich diese laue, wohlige Atmosphäre einer gleichzeitig belebten und doch nie erschütterten Jugend zu lieben, fast ohne neue Wünsche schon, denn ganz geringe Dinge vermochten sich schon in der windstillen Luft meiner Tage zu einer Freude zu entfalten. Eine gutgewählte Krawatte konnte mich fast schon froh machen, ein schönes Buch, ein Automobilausflug oder eine Stunde mit einer Frau mich restlos beglücken. Ganz besonders wohl tat mir in dieser meiner Daseinsform, daß sie in keiner Weise, ganz wie ein tadellos korrekter englischer Anzug, in keiner Weise der Gesellschaft auffiel. Ich glaube, man empfand mich als eine angenehme Erscheinung, ich war beliebt und gerne gesehen, und die meisten, die mich kannten, nannten mich einen glücklichen Menschen.

Ich weiß jetzt nicht mehr zu sagen, ob jener Mensch von damals, den ich mir zu vergegenwärtigen bemühe, sich selbst so wie jene anderen als einen Glücklichen empfand; denn nun, wo ich aus jenem Erlebnis für jedes Gefühl einen viel volleren und erfüllteren Sinn fordere, scheint mir jede rückerinnernde Wertung fast unmöglich. Doch vermag ich mit Gewißheit zu sagen, daß ich mich zu jener Zeit keineswegs als unglücklich empfand, blieben doch fast nie meine Wünsche unerfüllt und meine Anforderungen an das Leben unerwidert. Aber gerade dies, daß ich mich daran gewöhnt hatte, alles Geforderte vom Schicksal zu empfangen und darüber hinaus nichts mehr ihm abzufordern, gerade dies zeitigte allmählich einen gewissen Mangel an Spannung, eine Unlebendigkeit im Leben selbst. Was sich damals unbewußt in manchen Augenblicken der Halberkenntnis in mir sehnsüchtig regte: es waren nicht eigentlich Wünsche, sondern nur der Wunsch nach Wünschen, das Verlangen, stärker, unbändiger, ehrgeiziger, unbefriedigter zu begehren, mehr zu leben und vielleicht auch zu leiden. Ich hatte aus meiner Existenz durch eine allzu vernünftige Technik alle Widerstände ausgeschaltet, und an diesem Fehlen der Widerstände erschlaffte meine Vitalität. Ich merkte, daß ich immer weniger, immer schwächer begehrte, daß eine Art Erstarrung in mein Gefühl gekommen war, daß ich – vielleicht ist es am besten so ausgedrückt – an einer seelischen Impotenz, einer Unfähigkeit zur leidenschaftlichen Besitznahme des Lebens litt. An kleinen Zeichen erkannte ich dieses Manko zuerst. Es fiel mir auf, daß ich im Theater und in der Gesellschaft bei gewissen sensationellen Veranstaltungen öfter und öfter fehlte, daß ich Bücher bestellte, die mir gerühmt worden waren und sie dann unaufgeschnitten wochenlang auf dem Schreibtisch liegen ließ, daß ich zwar mechanisch weiter meine Liebhabereien sammelte, Gläser und Antiken kaufte, ohne sie aber dann einzuordnen und mich eines seltenen und langgesuchten Stückes bei unvermutetem Erwerb sonderlich zu freuen.

Wirklich bewußt aber wurde mir diese übergangshafte und leise Verminderung meiner seelischen Spannkraft erst bei einer bestimmten Gelegenheit, der ich mich noch deutlich entsinne. Ich war im Sommer – auch schon aus jener merkwürdigen Trägheit heraus, die von nichts Neuem sich lebhaft angelockt fühlte – in Wien geblieben, als ich plötzlich aus einem Kurorte den Brief einer Frau erhielt, mit der mich seit drei Jahren eine intime Beziehung verband und von der ich sogar aufrichtig meinte, daß ich sie liebe. Sie schrieb mir in vierzehn aufgeregten Seiten, sie habe in diesen Wochen dort einen Mann kennengelernt, der ihr viel, ja alles geworden sei, sie werde ihn im Herbst heiraten, und zwischen uns müsse jene Beziehung zu Ende sein. Sie denke ohne Reue, ja mit Glück an die mit mir gemeinsam verlebte Zeit zurück, der Gedanke an mich begleite sie in ihre neue Ehe als das Liebste ihres vergangenen Lebens, und sie hoffe, ich werde ihr den plötzlichen Entschluß verzeihen. Nach dieser sachlichen Mitteilung überbot sich der aufgeregte Brief dann in wirklich ergreifenden Beschwörungen, ich möge ihr nicht zürnen und nicht zuviel an dieser plötzlichen Absage leiden, ich solle keinen Versuch machen, sie gewaltsam zurückzuhalten oder eine Torheit gegen mich begehen. Immer hitziger jagten die Zeilen hin: ich solle doch bei einer Besseren Trost finden, ich solle ihr sofort schreiben, denn sie sei in Angst, wie ich diese Mitteilung aufnehmen würde. Und als Nachsatz, mit Bleistift, war dann noch eilig hingeschrieben: »Tue nichts Unvernünftiges, verstehe mich, verzeihe mir!« Ich las diesen Brief, zuerst überrascht von der Nachricht und dann, als ich ihn durchblättert, noch ein zweites Mal und nun mit einer gewissen Beschämung, die sich bewußt werdend rasch zu einem inneren Erschrecken steigerte. Denn nichts von allen den starken und doch natürlichen Empfindungen, die meine Geliebte als selbstverständlich voraussetzte, hatte sich auch nur andeutungshaft in mir geregt. Ich hatte nicht gelitten bei ihrer Mitteilung, hatte ihr nicht gezürnt und schon gar nicht eine Sekunde an eine Gewalttätigkeit gegen sie oder gegen mich gedacht, und diese Kälte des Gefühls in mir war nun doch zu sonderbar, als daß sie mich nicht selbst erschreckt hätte. Da fiel eine Frau von mir ab, die Jahre meines Lebens begleitet hatte, deren warmer Leib sich elastisch dem meinen aufgetan, deren Atem in langen Nächten in meinen vergangen war, und nichts rührte sich in mir, wehrte sich dagegen, nichts suchte sie zurückzuerobern, nichts von all dem geschah in meinem Gefühl von dem, was der reine Instinkt dieser Frau als selbstverständlich bei einem wirklichen Menschen voraussetzen mußte. In diesem Augenblicke war mir zum ersten Male ganz bewußt, wie weit der Erstarrungsprozeß in mir fortgeschritten war – ich glitt eben durch wie auf fließendem, spiegelndem Wasser, ohne irgend verhaftet, verwurzelt zu sein, und ich wußte ganz genau, daß diese Kälte etwas Totes, Leichenhaftes war, noch nicht umwittert zwar vom faulen Hauch der Verwesung, aber doch schon rettungslose Starre, grausam-kalte Fühllosigkeit, die Minute also, die dem wahren, dem körperlichen Sterben, dem auch äußerlich sichtbaren Verfall vorangeht. Seit jener Episode begann ich mich und diese merkwürdige Gefühlsstarre in mir aufmerksam zu beobachten wie ein Kranker seine Krankheit. Als kurz darauf ein Freund von mir starb und ich hinter seinem Sarge ging, horchte ich in mich hinein, ob sich nicht eine Trauer in mir rühre, irgendein Gefühl sich in dem Bewußtsein spanne, dieser mir seit Kindheitstagen nahe Mensch sei nun für immer verloren. Aber es regte sich nichts, ich kam mir selbst wie etwas Gläsernes vor, durch das die Dinge hindurchleuchteten, ohne jemals innen zu sein, und so sehr ich mich bei diesem Anlaß und manchen ähnlichen auch anstrengte, etwas zu fühlen, ja mich mit Verstandesgründen zu Gefühlen überreden wollte, es kam keine Antwort aus jener inneren Starre zurück. Menschen verließen mich, Frauen gingen und kamen, ich spürte es kaum anders wie einer, der im Zimmer sitzt, den Regen an den Scheiben, zwischen mir und dem Unmittelbaren war irgendeine gläserne Wand, die ich mit dem Willen zu zerstoßen nicht die Kraft hatte.

Obzwar ich dies nun klar empfand, so schuf mir diese Erkenntnis doch keine rechte Beunruhigung, denn ich sagte es ja schon, daß ich auch Dinge, die mich selbst betrafen, mit Gleichgültigkeit hinnahm. Auch zum Leiden hatte ich nicht mehr genug Gefühl. Es genügte mir, daß dieser seelische Defekt außen so wenig wahrnehmbar war, wie etwa die körperliche Impotenz eines Mannes nicht anders als in der intimen Sekunde offenbar wird, und ich setzte oft in Gesellschaft durch eine künstliche Leidenschaftlichkeit im Bewundern, durch spontane Übertreibungen von Ergriffenheit eine gewisse Ostentation daran, zu verbergen, wie sehr ich mich innerlich anteilslos und abgestorben wußte. Äußerlich lebte ich mein altes behagliches, hemmungsloses Leben weiter, ohne seine Richtung zu ändern; Wochen, Monate glitten leicht vorüber und füllten sich langsam dunkel zu Jahren. Eines Morgens sah ich im Spiegel einen grauen Streif an meiner Schläfe und spürte, daß meine Jugend langsam hinüber wollte in eine andere Welt. Aber was andere Jugend nannten, war in mir längst vorbei. So tat das Abschiednehmen nicht sonderlich weh, denn ich liebte auch meine eigene Jugend nicht genug. Auch zu mir selbst schwieg mein trotziges Gefühl.

Durch diese innere Unbewegtheit wurden meine Tage immer mehr gleichförmig trotz aller Verschiedenheit der Beschäftigungen und Begebenheiten, sie reihten sich unbetont einer an den anderen, wuchsen und gilbten hin wie die Blätter eines Baumes. Und ganz gewöhnlich, ohne jede Absonderlichkeit, ohne jedes innere Vorzeichen, begann auch jener einzige Tag, den ich mir wieder selbst schildern will. Ich war damals am 7. Juni 1913 später aufgestanden, aus dem noch von der Kindheit, von den Schuljahren her unbewußt nachklingenden Sonntagsgefühl, hatte mein Bad genommen, die Zeitung gelesen und in Büchern geblättert, war dann, verlockt von dem warmen sommerlichen Tag, der teilnehmend in mein Zimmer drang, spazierengegangen, hatte in gewohnter Weise den Grabenkorso überquert, zwischen Gruß und Gruß bekannter und befreundeter Menschen mit irgendeinem von ihnen ein flüchtiges Gespräch geführt und dann bei Freunden zu Mittag gespeist. Für den Nachmittag war ich jeder Vereinbarung ausgewichen, denn ich liebte es insbesondere, am Sonntag ein paar unaufgeteilte freie Stunden zu haben, die dann ganz dem Zufall meiner Laune, meiner Bequemlichkeit oder irgendeiner spontanen Entschließung gehörten. Als ich dann, von meinen Freunden kommend, die Ringstraße querte, empfand ich wohltuend die Schönheit der besonnten Stadt und ward froh an ihrer frühsommerlichen Geschmücktheit. Die Menschen schienen alle heiter und irgendwie verliebt in die Sonntäglichkeit der bunten Straße, vieles einzelne fiel mir auf und vor allem, wie breitumbuscht mit ihrem neuen Grün die Bäume mitten aus dem Asphalt sich aufhoben. Obwohl ich doch fast täglich hier vorüberging, wurde ich dieses sonntäglichen Menschengewühls plötzlich wie eines Wunders gewahr, und unwillkürlich bekam ich Sehnsucht nach viel Grün, nach Helligkeit und Buntheit. Ich erinnerte mich mit ein wenig Neugier des Praters, wo jetzt zu Frühlingsende, zu Sommersanfang, die schweren Bäume wie riesige grüne Lakaien rechts und links der von Wagen durchflitzten Hauptallee stehen und reglos den vielen geputzten eleganten Menschen ihre weißen Blütenherzen hinhalten. Gewohnt, auch dem flüchtigsten meiner Wünsche sofort nachzugeben, rief ich den ersten Fiaker an, der mir in den Weg kam, und bedeutete ihm auf seine Frage den Prater als Ziel. »Zum Rennen, Herr Baron, nicht wahr?« antwortete er mit devoter Selbstverständlichkeit. Da erinnerte ich mich erst, daß heute ein sehr fashionabler Renntag war, eine Derbyvorschau, wo die ganze gute Wiener Gesellschaft sich Rendezvous gab. Seltsam, dachte ich mir, während ich in den Wagen stieg, wie wäre es noch vor ein paar Jahren möglich gewesen, daß ich einen solchen Tag versäumt oder vergessen hätte! Wieder spürte ich, so wie ein Kranker bei einer Bewegung seine Wunde, an dieser Vergeßlichkeit die ganze Starre der Gleichgültigkeit, der ich verfallen war.

Die Hauptallee war schon ziemlich leer, als wir hinkamen, das Rennen mußte längst begonnen haben, denn die sonst so prunkvolle Auffahrt der Wagen fehlte, nur ein paar vereinzelte Fiaker hetzten mit knatternden Hufen wie hinter einem unsichtbaren Versäumnis her. Der Kutscher wandte sich am Bock und fragte, ob er scharf traben solle; aber ich hieß ihn, die Pferde ruhig gehen zu lassen, denn mir lag nichts an einem Zuspätkommen. Ich hatte zu viel Rennen gesehen und zu oft die Menschen bei ihnen, als daß mir ein Zurechtkommen noch wichtig gewesen wäre, und es entsprach besser meinem lässigen Gefühl, im weichen Schaukeln des Wagens die blaue Luft wie Meer vom Bord eines Schiffes lindrauschend zu fühlen und ruhiger die schönen, breitgebuschten Kastanienbäume anzusehen, die manchmal dem schmeichlerisch warmen Wind ein paar Blütenflocken zum Spiele hingaben, die er dann leicht aufhob und wirbelte, ehe er sie auf die Allee weiß hinflocken ließ. Es war wohlig, sich so wiegen zu lassen, Frühling zu ahnen mit geschlossenen Augen, ohne jede Anstrengung beschwingt und fortgetragen sich zu empfinden: eigentlich tat es mir leid, als in der Freudenau der Wagen vor der Einfahrt hielt. Am liebsten wäre ich noch umgekehrt, mich weiter wiegen zu lassen von dem weichen, frühsommerlichen Tag. Aber es war schon zu spät, der Wagen hielt vor dem Rennplatz. Ein dumpfes Brausen schlug mir entgegen. Wie ein Meer scholl es dumpf und hohl hinter den aufgestuften Tribünen, ohne daß ich die bewegte Menge sah, von der dieses geballte Geräusch ausging, und unwillkürlich erinnerte ich mich an Ostende, wenn man von der niederen Stadt die kleinen Seitengassen zur Strandpromenade emporsteigt, schon den Wind salzig und scharf über sich sausen fühlt und ein dumpfes Dröhnen hört, ehe dann der Blick hingreift über die weite grauschäumige Fläche mit ihren donnernden Wellen. Ein Rennen mußte gerade in Gang sein, aber zwischen mir und dem Rasen, auf dem jetzt wohl die Pferde hinflitzten, stand ein farbiger dröhnender, wie von einem inneren Sturm hin und her geschüttelter Qualm, die Menge der Zuschauer und Spieler. Ich konnte die Bahn nicht sehen, spürte aber im Reflex der gesteigerten Erregung jede sportliche Phase. Die Reiter mußten längst gestartet, der Knäuel sich geteilt haben und ein paar gemeinsam um die Führung streiten, denn schon lösten sich hier aus den Menschen, die geheimnisvoll die für mich unsichtbaren Bewegungen des Laufes mitlebten, Schreie los und aufgeregte Zurufe. An der Richtung ihrer Köpfe spürte ich die Biegung, an der die Reiter und Pferde jetzt auf dem länglichen Rasenoval angelangt sein mußten, denn immer einheitlicher, immer zusammengefaßter drängte sich, wie ein einziger aufgereckter Hals, das ganze Menschenchaos einem mir unsichtbaren Blickpunkt entgegen, und aus diesem einen ausgespannten Hals grölte und gurgelte mit tausenden zerriebenen Einzellauten eine immer höher gischtende Brandung. Und diese Brandung stieg und schwoll, schon füllte sie den ganzen Raum bis zum gleichgültig blauen Himmel. Ich sah in ein paar Gesichter hinein. Sie waren verzerrt wie von einem inneren Krampf, die Augen starr und funkelnd, die Lippen verbissen, das Kinn gierig vorgestoßen, die Nüstern pferdhaft gebläht. Spaßig und grauenhaft war mirs, nüchtern diese unbeherrschten Trunkenen zu betrachten. Neben mir stand auf einem Sessel ein Mann, elegant gekleidet, mit einem sonst wohl guten Gesicht, jetzt aber tobte er, von einem unsichtbaren Dämon beteufelt, er fuchtelte mit dem Stock in die leere Luft hinein, als peitschte er etwas vorwärts, sein ganzer Körper machte – unsagbar lächerlich für einen Zuschauer – die Bewegung des Raschreitens leidenschaftlich mit. Wie auf Steigbügeln wippte er mit den Fersen unablässig auf und nieder über dem Sessel, die rechte Hand jagte den Stock immer wieder als Gerte ins Leere, die linke knüllte krampfig einen weißen Zettel. Und immer mehr dieser weißen Zettel flatterten herum, wie Schaumspritzer gischteten sie über dieser graudurchstürmten Flut, die lärmend schwoll. Jetzt mußten an der Kurve ein paar Pferde ganz knapp beieinander sein, denn mit einem Male ballte sich das Gedröhn in zwei, drei, vier einzelne Namen, die immer wieder einzelne Gruppen wie Schlachtrufe schrien und tobten, und diese Schreie schienen wie ein Ventil für ihre delirierende Besessenheit.

Ich stand inmitten dieser dröhnenden Tobsucht kalt wie ein Felsen im donnernden Meer und weiß noch heute genau zu sagen, was ich in jener Minute empfand.

Das Lächerliche vorerst all dieser fratzenhaften Gebärden, eine ironische Verachtung für das Pöbelhafte des Ausbruches, aber doch noch etwas anderes, das ich mir ungern eingestand – irgendeinen leisen Neid nach solcher Erregung, solcher Brunst der Leidenschaft, nach dem Leben, das in diesem Fanatismus war. Was müßte, dachte ich, geschehen, um mich dermaßen zu erregen, mich dermaßen ins Fieber zu spannen, daß mein Körper so brennend, meine Stimme mir wider Willen aus dem Munde brechen würde? Keine Summe konnte ich mir denken, deren Besitz mich so anfeuern könnte, keine Frau, die mich dermaßen reizte, nichts, nichts gab es, was aus der Starre meines Gefühls mich zu solcher Feurigkeit entfachen könnte! Vor einer plötzlich gespannten Pistole würde mein Herz, eine Sekunde vor dem Erstarren, nicht so wild hämmern, wie das in den tausend, zehntausend Menschen rings um mich für eine Handvoll Geld. Aber jetzt mußte ein Pferd dem Start ganz nahe sein, denn zu einem einzigen, immer schriller werdenden Schrei von tausenden Stimmen gellte jetzt wie eine hochgespannte Saite ein bestimmter Name empor aus dem Tumult, um dann schrill mit einem Male zu zerreißen. Die Musik begann zu spielen, plötzlich zerbrach die Menge. Eine Runde war zu Ende, ein Kampf entschieden, die Spannung löste sich in eine quirlende, nur noch schlaff nachschwingende Bewegtheit. Die Masse, eben noch ein brennendes Bündel Leidenschaft, fiel auseinander in viele einzelne laufende, lachende, sprechende Menschen, ruhige Gesichter tauchten wieder auf hinter der mänadischen Maske der Erregung; aus dem Chaos des Spiels, das für Sekunden diese Tausende in einen einzigen glühenden Klumpen geschmolzen hatte, schichteten sich wieder gesellschaftliche Gruppen, die zusammentraten, sich lösten, Menschen, die ich kannte und die mich grüßten, fremde, die sich gegenseitig kühl-höflich musterten und betrachteten. Die Frauen prüften sich gegenseitig in ihren neuen Toiletten, die Männer warfen begehrliche Blicke, jene mondäne Neugier, die der Teilnahmslosen eigentliche Beschäftigung ist, begann sich zu entfalten, man suchte, zählte, kontrollierte sich auf Anwesenheit und Eleganz. Schon wußten, kaum aus dem Taumel erwacht, all diese Menschen nicht mehr, ob dies promenierende Zwischenspiel oder das Spiel selbst der Zweck ihrer gesellschaftlichen Vereinigung war.

Ich ging mitten durch dies laue Gewühl, grüßte und dankte, atmete wohlig – war es doch die Atmosphäre meiner Existenz – den Duft von Parfüm und Eleganz, der dies kaleidoskopische Durcheinander umschwebte, und noch freudiger die leise Brise, die von drüben aus den Praterauen, aus dem sommerlich durchwärmten Walde manchmal ihre Welle zwischen die Menschen warf und den weißen Musselin der Frauen wie wollüstig-spielend betastete. Ein paar Bekannte wollten mich ansprechen, Diane, die schöne Schauspielerin, nickte einladend aus einer Loge herüber, aber ich ging keinem zu. Es interessierte mich nicht, mit einem dieser mondänen Menschen heute zu sprechen, es langweilte mich, in ihrem Spiegel mich selbst zu sehen, nur das Schauspiel wollte ich umfassen, die knisternd-sinnliche Erregung, die durch die aufgesteigerte Stunde ging (denn der anderen Erregtheit ist gerade dem Teilnahmslosen das angenehmste Schauspiel). Ein paar schöne Frauen gingen vorbei, ich sah ihnen frech, aber ohne innerliches Begehren auf die Brüste, die unter der dünnen Gaze bei jedem Schritt bebten und lächelte innerlich über ihre halb peinliche, halb wohlige Verlegenheit, wenn sie sich so sinnlich abgeschätzt und frech entkleidet fühlten. In Wirklichkeit reizte mich keine, es machte mir nur ein gewisses Vergnügen, vor ihnen so zu tun, das Spiel mit dem Gedanken, mit ihren Gedanken machte mir Freude, die Lust, sie körperlich zu berühren, das magnetische Zucken im Auge zu fühlen; denn wie jedem innerlich kühlen Menschen war es mein eigentlichster erotischer Genuß, in anderen Wärme und Unruhe zu erregen, statt mich selbst zu erhitzen. Nur den Flaum von Wärme, den die Gegenwart von Frauen um die Sinnlichkeit legt, liebte ich zu fühlen, nicht eine wirkliche Erhitzung, Anregung bloß und nicht Erregung. So ging ich auch diesmal durch die Promenade, nahm Blicke, gab sie leicht wie Federball zurück, genoß ohne zu greifen, befühlte Frauen ohne zu fühlen, nur leicht angewärmt von der lauen Wollust des Spiels.

Aber auch das langweilte mich bald. Immer dieselben Menschen kamen vorüber, ich kannte ihre Gesichter schon auswendig und ihre Gesten. Ein Sessel stand in der Nähe. Ich setzte mich hin. Ringsum begann in den Gruppen eine neue wirblige Bewegung, unruhiger schüttelten und stießen sich die Vorübergehenden durcheinander; offenbar sollte ein neues Rennen wieder anheben. Ich kümmerte mich nicht darum, saß weich und irgendwie versunken unter dem Kringel meiner Zigarette, der sich weißgekräuselt gegen den Himmel hob, wo er heller und heller wie eine kleine Wolke im Frühlingsblau verging. In dieser Sekunde begann das Unerhörte, jenes einzige Erlebnis, das noch heute mein Leben bestimmt. Ich kann ganz genau den Augenblick feststellen, denn zufällig hatte ich gerade auf die Uhr gesehen: die Zeiger kreuzten sich, und ich sah ihnen mit jener unbeschäftigten Neugier zu, wie sie sich eine Sekunde lang überdeckten. Es war drei Minuten nach drei Uhr an jenem Nachmittag des 7. Juni 1913. Ich blickte also, die Zigarette in der Hand, auf das weiße Zifferblatt, ganz beschäftigt mit dieser kindischen und lächerlichen Betrachtung, als ich knapp hinter meinem Rücken eine Frau laut lachen hörte, mit jenem scharfen, erregten Lachen, wie ich es bei Frauen liebe, jenem Lachen, das ganz warm und aufgeschreckt aus dem heißen Gebüsch der Sinnlichkeit vorspringt. Unwillkürlich bog es mir den Kopf zurück, schon wollte ich die Frau anschauen, deren laute Sinnlichkeit so frech in meine sorglose Träumerei schlug wie ein funkelnder weißer Stein in einen dumpfen, schlammigen Teich – da bezwang ich mich. Eine merkwürdige Lust am geistigen Spiel, am kleinen ungefährlichen psychologischen Experiment, wie sie mich oft befiel, ließ mich innehalten. Ich wollte die Lachende noch nicht ansehen, es reizte mich, zuerst in einer Art Vorlust, meine Phantasie mit dieser Frau zu beschäftigen, mir sie vorzustellen, mir ein Gesicht, einen Mund, eine Kehle, einen Nacken, eine Brust, eine ganze lebendige atmende Frau um dieses Lachen zu legen.

Sie stand jetzt offenbar knapp hinter mir. Aus dem Lachen war wieder Gespräch geworden. Ich hörte gespannt zu. Sie sprach mit leichtem ungarischen Akzent, sehr rasch und beweglich, die Vokale breit ausschwingend wie im Gesang. Es machte mir nun Spaß, dieser Rede nun die Gestalt zuzudichten und dies Phantasiebild möglichst üppig auszugestalten. Ich gab ihr dunkle Haare, dunkle Augen, einen breiten, sinnlich gewölbten Mund mit ganz weißen starken Zähnen, eine ganz schmale kleine Nase, aber mit steil aufspringenden zitternden Nüstern. Auf die linke Wange legte ich ihr ein Schönheitspflästerchen, in die Hand gab ich ihr einen Reitstock, mit dem sie sich beim Lachen leicht an den Schenkel schlug. Sie sprach weiter und weiter. Und jedes ihrer Worte fügte meiner blitzschnell gebildeten Phantasievorstellung ein neues Detail hinzu: eine schmale mädchenhafte Brust, ein dunkelgrünes Kleid mit einer schief gesteckten Brillantspange, einen hellen Hut mit einem weißen Reiher. Immer deutlicher ward das Bild, und schon spürte ich diese fremde Frau, die unsichtbar hinter meinem Rücken stand, wie auf einer belichteten Platte in meiner Pupille. Aber ich wollte mich nicht umwenden, dieses Spiel der Phantasie noch weiter steigern, irgendein leises Rieseln von Wollust mengte sich in die verwegene Träumerei, ich schloß beide Augen, gewiß, daß, wenn ich die Lider auftäte und mich ihr zuwendete, das innere Bild ganz mit dem äußeren sich decken würde.

In diesem Augenblick trat sie vor. Unwillkürlich tat ich die Augen auf – und ärgerte mich. Ich hatte vollkommen daneben geraten, alles war anders, ja in boshaftester Weise gegensätzlich zu meinem Phantasiebild. Sie trug kein grünes, sondern ein weißes Kleid, war nicht schlank, sondern üppig und breitgehüftet, nirgends aus der vollen Wange tupfte sich das erträumte Schönheitspflästerchen, die Haare leuchteten rötlichblond statt schwarz unter dem helmförmigen Hut. Keines meiner Merkmale stimmte zu ihrem Bilde, aber diese Frau war schön, herausfordernd schön, obwohl ich mich, gekränkt im törichten Ehrgeiz meiner psychologischen Eitelkeit, diese Schönheit anzuerkennen wehrte. Fast feindlich sah ich zu ihr empor, aber auch der Widerstand in mir spürte den starken sinnlichen Reiz, der von dieser Frau ausging, das Begehrliche, Animalische, das in ihrer festen und gleichzeitig weichen Fülle fordernd lockte. Jetzt lachte sie wieder laut, ihre festen weißen Zähne wurden sichtbar, und ich mußte mir sagen, daß dieses heiße sinnliche Lachen zu dem Üppigen ihres Wesens wohl im Einklang stand, alles an ihr war so vehement und herausfordernd, der gewölbte Busen, das im Lachen vorgestoßene Kinn, der scharfe Blick, die geschwungene Nase, die Hand, die den Schirm fest gegen den Boden stemmt. Hier war das weibliche Element, Urkraft, bewußte, penetrante Lockung, ein fleischgewordenes Wollustfanal. Neben ihr stand ein eleganter, etwas fanierter Offizier und sprach eindringlich auf sie ein. Sie hörte ihm zu, lächelte, lachte, widersprach, aber all das nur nebenbei, denn gleichzeitig glitt ihr Blick, zitterten ihre Nüstern überall hin, gleichsam allen zu: sie sog Aufmerksamkeit, Lächeln, Anblick von jedem, der vorüberging und gleichsam von der ganzen Masse des Männlichen ringsum ein. Ihr Blick war ununterbrochen wanderhaft, bald suchte er die Tribünen entlang, um dann plötzlich, freudigen Erkennens, einen Gruß zu erwidern, bald streifte er – während sie dem Offizier immer lächelnd und eitel zuhörte – nach rechts, bald nach links. Nur mich, der ich, von ihrem Begleiter gedeckt, unter ihrem Blickfeld lag, hatte er noch nicht angerührt. Das ärgerte mich. Ich stand auf – sie sah mich nicht. Ich drängte mich näher – nun blickte sie wieder zu den Tribünen hinauf. Da trat ich entschlossen zu ihr hin, lüftete den Hut gegen ihren Begleiter und bot ihr meinen Sessel an. Sie blickte mir erstaunt entgegen, ein lächelnder Glanz überflog ihre Augen, schmeichlerisch bog sie die Lippe zu einem Lächeln. Aber dann dankte sie nur kurz und nahm den Sessel, ohne sich zu setzen. Bloß den üppigen, bis zum Ellbogen entblößten Arm stützte sie weich an die Lehne und nützte die leichte Biegung ihres Körpers, um seine Formen sichtbarer zu zeigen.

Der Ärger über meine falsche Psychologie war längst vergessen, mich reizte nur das Spiel mit dieser Frau. Ich trat etwas zurück an die Wand der Tribüne, wo ich sie frei und doch unauffällig fixieren konnte, stemmte mich auf meinen Stock und suchte mit den Augen die ihren. Sie merkte es, drehte sich ein wenig meinem Beobachtungsplatze zu, aber doch so, daß diese Bewegung eine ganz zufällige schien, wehrte mir nicht, antwortete mir gelegentlich und doch unverpflichtend. Unablässig gingen ihre Augen im Kreise, alles rührten sie an, nichts hielten sie fest – war ich es allein, dem sie begegnend ein schwarzes Lächeln zustrahlten oder gab sie es an jeden? Das war nicht zu unterscheiden, und eben diese Ungewißheit irritierte mich. In den Intervallen, wo wie ein Blinkfeuer ihr Blick mich anstrahlte, schien er voll Verheißung, aber mit der gleichen stahlglänzenden Pupille parierte sie auch ohne jede Wahl jeden anderen Blick, der ihr zuflog, ganz nur aus koketter Freude am Spiel, vor allem aber, ohne dabei für eine Sekunde scheinbar interessiert das Gespräch ihres Begleiters zu verabsäumen. Etwas blendend Freches war in diesen leidenschaftlichen Paraden, eine Virtuosität der Koketterie oder ein ausbrechender Überschuß an Sinnlichkeit. Unwillkürlich trat ich einen Schritt näher: ihre kalte Frechheit war in mich übergegangen. Ich sah ihr nicht mehr in die Augen, sondern griff sie fachmännisch von oben bis unten ab, riß ihr mit dem Blick die Kleider auf und spürte sie nackt. Sie folgte meinem Blick, ohne irgendwie beleidigt zu sein, lächelte mit den Mundwinkeln zu dem plaudernden Offizier, aber ich merkte, daß dies wissende Lächeln meine Absicht quittierte. Und wie ich jetzt auf ihren Fuß sah, der klein und zart unter dem weißen Kleide vorlugte, streifte sie mit dem Blick lässig nachprüfend ihr Kleid hinab. Dann, im nächsten Augenblick hob sie wie zufällig den Fuß und stellte ihn auf die erste Sprosse des dargebotenen Sessels, so daß ich durch das durchbrochene Kleid die Strümpfe bis zum Knieansatz sah, gleichzeitig schien aber ihr Lächeln zu dem Begleiter hin irgendwie ironisch oder maliziös zu werden. Offenbar spielte sie mit mir ebenso anteillos wie ich mit ihr, und ich mußte die raffinierte Technik ihrer Verwegenheit haßvoll bewundern; denn während sie mir mit falscher Heimlichkeit das Sinnliche ihres Körpers darbot, drückte sie sich gleichzeitig in das Flüstern ihres Begleiters geschmeichelt hinein, gab und nahm in einem und beides nur im Spiel. Eigentlich war ich erbittert, denn ich haßte gerade an anderen diese Art kalter und boshaft berechnender Sinnlichkeit, weil ich sie meiner eigenen wissenden Fühllosigkeit so blutschänderisch nahe verschwistert fühlte. Aber doch, ich war erregt, vielleicht mehr im Haß wie in Begehrlichkeit. Frech trat ich näher und griff sie brutal an mit den Blicken. »Ich will dich, du schönes Tier«, sagte ihr meine unverhohlene Geste, und unwillkürlich mußten meine Lippen sich bewegt haben, denn sie lächelte mit leiser Verächtlichkeit, den Kopf von mir wegwendend, und schlug die Robe über den entblößten Fuß. Aber im nächsten Augenblick wanderte die schwarze Pupille wieder funkelnd her und wieder hinüber. Es war ganz deutlich, daß sie ebenso kalt wie ich selbst und mir gewachsen war, daß wir beide kühl mit einer fremden Hitze spielten, die selber wieder nur gemaltes Feuer war, aber doch schön anzusehen und heiter zu spielen inmitten eines dumpfen Tags.

Plötzlich erlosch die Gespanntheit in ihrem Gesicht, der funkelnde Glanz glomm aus, eine kleine ärgerliche Falte krümmte sich um den eben noch lächelnden Mund. Ich folgte der Richtung ihres Blicks: ein kleiner, dicker Herr, den die Kleider faltig umplusterten, steuerte eilig auf sie zu, das Gesicht und die Stirn, die er nervös mit dem Taschentuch abtrocknete, von Erregung feucht. Der Hut, in der Eile schief auf den Kopf gedrückt, ließ seitlich eine tief heruntergezogene Glatze sehen (unwillkürlich empfand ich, es müßten, wenn er den Hut abnehme, dicke Schweißperlen auf ihr brüten, und der Mensch war mir widerlich). In der beringten Hand hielt er ein ganzes Bündel Ticketts. Er prustete förmlich vor Aufregung und sprach gleich, ohne seine Frau zu beachten, in lautem Ungarisch auf den Offizier ein. Ich erkannte sofort einen Fanatiker des Rennsportes, irgendeinen Pferdehändler besserer Kategorie, für den das Spiel die einzige Ekstase war, das erlauchte Surrogat des Sublimen. Seine Frau mußte ihm offenbar jetzt etwas Ermahnendes gesagt haben (sie war sichtlich geniert von seiner Gegenwart und gestört in ihrer elementaren Sicherheit), denn er richtete sich, anscheinend auf ihr Geheiß, den Hut zurecht, lachte sie dann jovial an und klopfte ihr mit gutmütiger Zärtlichkeit auf die Schulter. Wütend zog sie die Brauen hoch, abgestoßen von der ehelichen Vertraulichkeit, die ihr in Gegenwart des Offiziers und vielleicht mehr noch der meinen peinlich wurde. Er schien sich zu entschuldigen, sagte auf ungarisch wieder ein paar Worte zu dem Offizier, die jener mit einem gefälligen Lächeln erwiderte, nahm aber dann zärtlich und ein wenig unterwürfig ihren Arm. Ich spürte, daß sie sich seiner Intimität vor uns schämte und genoß ihre Erniedrigung mit einem gemischten Gefühl von Spott und Ekel. Aber schon hatte sie sich wieder gefaßt, und während sie sich weich an seinen Arm drückte, glitt ein Blick ironisch zu mir hinüber, als sagte er: »Siehst du, der hat mich, und nicht du.« Ich war wütend und degoutiert zugleich. Eigentlich wollte ich ihr den Rücken kehren und weitergehen, um ihr zu zeigen, daß die Gattin eines solchen ordinären Dicklings mich nicht mehr interessiere. Aber der Reiz war doch zu stark. Ich blieb.

Schrill gellte in dieser Sekunde das Signal des Starts, und mit einemmal war die ganze plaudernde, trübe, stockende Masse wie umgeschüttelt, floß wieder von allen Seiten in jähem Durcheinander nach vorn zur Barriere. Ich hatte eine gewisse Gewaltsamkeit nötig, nicht mitgerissen zu werden, denn ich wollte gerade im Tumult in ihrer Nähe bleiben, vielleicht bot sich da Gelegenheit zu einem entscheidenden Blick, einem Griff, irgendeiner spontanen Frechheit, die ich jetzt noch nicht wußte, und so stieß ich mich zwischen den eilenden Leuten beharrlich zu ihr vor. In diesem Augenblick drängte der dicke Gatte gerade herüber, offenbar um einen guten Platz an der Tribüne zu ergattern, und so stießen wir beide, jeder von einem andern Ungestüm geschleudert, mit so viel Heftigkeit gegeneinander, daß sein lockerer Hut zu Boden flog und die Ticketts, die daran lose befestigt waren, in weitem Bogen wegspritzten und wie rote, blaue, gelbe und weiße Schmetterlinge auf den Boden staubten. Einen Augenblick starrte er mich an. Mechanisch wollte ich mich entschuldigen, aber irgendein böser Wille verschloß mir die Lippen, im Gegenteil: ich sah ihn kühl mit einer leisen, frechen und beleidigenden Provokation an. Sein Blick flackerte eine Sekunde lang unsicher auf von rot aufsteigender, aber ängstlich sich drückender Wut hochgeschnellt, brach aber feige zusammen vor dem meinen. Mit einer unvergeßlichen, fast rührenden Ängstlichkeit sah er mir eine Sekunde in die Augen, dann bog er sich weg, schien sich plötzlich seiner Ticketts zu besinnen und bückte sich, um sie und den Hut vom Boden aufzulesen. Mit unverhohlenem Zorn, rot im Gesicht vor Erregung, blitzte die Frau, die seinen Arm gelassen hatte, mich an: ich sah mit einer Art Wollust, daß sie mich am liebsten geschlagen hätte. Aber ich blieb ganz kühl und nonchalant stehen, sah lächelnd ohne zu helfen zu, wie der überdicke Gemahl sich keuchend bückte und vor meinen Füßen herumkroch, um seine Ticketts aufzulesen. Der Kragen stand ihm beim Bücken weit ab wie die Federn einer aufgeplusterten Henne, eine breite Speckfalte schob sich den roten Nacken hinauf, asthmatisch keuchte er bei jeder Beugung. Unwillkürlich kam mir, wie ich ihn so keuchen sah, ein unanständiger und unappetitlicher Gedanke, ich stellte ihn mir in ehelichem Alleinsein mit seiner Gattin vor, und übermütig geworden an dieser Vorstellung, lächelte ich geradeaus in ihrem kaum mehr beherrschten Zorn. Sie stand da, jetzt wieder blaß und ungeduldig und kaum mehr sich beherrschen könnend, – endlich hatte ich doch ein wahres, ein wirkliches Gefühl ihr entrissen: Haß, unbändigen Zorn! Ich hätte mir diese boshafte Szene am liebsten ins Unendliche verlängert; mit kalter Wollust sah ich zu, wie er sich quälte, um Stück für Stück seiner Ticketts zusammenzuklauben. Mir saß irgendein schnurriger Teufel in der Kehle, der immer kicherte und ein Lachen herauskollern wollte – am liebsten hätte ich ihn herausgelacht oder diese weiche krabbelnde Fleischmasse ein wenig mit dem Stock gekitzelt: ich konnte mich eigentlich nicht erinnern, jemals so von Bosheit besessen gewesen zu sein, wie in diesem funkelnden Triumph der Erniedrigung über diese frechspielende Frau.

Aber jetzt schien der Unglückselige endlich alle seine Ticketts zusammengerafft zu haben, nur eines, ein blaues, war weiter fortgeflogen und lag knapp vor mir auf dem Boden. Er drehte sich keuchend herum, suchte mit seinen kurzsichtigen Augen – der Zwicker saß ihm ganz vorne auf der schweißbenetzten Nase –, und diese Sekunde benützte meine spitzbübisch aufgeregte Bosheit zur Verlängerung seiner lächerlichen Anstrengung: ich schob, einem schuljungenhaften Übermut willenlos gehorchend, den Fuß rasch vor und setzte die Sohle auf das Tickett, so daß er es bei bester Bemühung nicht finden konnte, so lange mirs beliebte, ihn suchen zu lassen. Und er suchte und suchte unentwegt, überzählte dazwischen verschnaufend immer wieder die farbigen Pappendeckelzettel: es war sichtlich, daß einer – meiner! – ihm noch fehlte, und schon wollte er inmitten des anbrausenden Getümmels wieder mit der Suche anheben, als seine Frau, die mit einem verbissenen Ausdruck meinen höhnischen Seitenblick krampfhaft vermied, ihre zornige Ungeduld nicht mehr zügeln konnte. »Lajos!« rief sie ihm plötzlich herrisch zu, und er fuhr auf wie ein Pferd, das die Trompete hört, blickte noch einmal suchend auf die Erde – mir war es, als kitzelte mich das verborgene Tickett unter der Sohle, und ich konnte einen Lachreiz kaum verbergen – dann wandte er sich seiner Frau gehorsam zu, die ihn mit einer gewissen ostentativen Eile von mir weg in das immer stärker aufschäumende Getümmel zog.

Ich blieb zurück ohne jedwedes Verlangen, den beiden zu folgen. Die Episode war für mich beendet, das Gefühl jener erotischen Spannung hatte sich wohltuend ins Heitere gelöst, alle Erregung war von mir geglitten und nichts zurückgeblieben als die gesunde Sattheit der plötzlich vorgebrochenen Bosheit, eine freche, fast übermütige Selbstzufriedenheit über den gelungenen Streich. Vorne drängten sich die Menschen dicht zusammen, schon begann Erregung zu wogen und, eine einzige, schmutzige, schwarze Welle, gegen die Barriere zu drängen, aber ich sah gar nicht hin, es langweilte mich schon. Und ich dachte daran, hinüber in die Kriau zu gehen oder heimzufahren. Aber kaum daß ich jetzt unwillkürlich den Fuß zum Schritt vorwärts tat, bemerkte ich das blaue Tickett, das vergessen am Boden lag. Ich nahm es auf und hielt es spielend zwischen den Fingern, ungewiß, was ich damit anfangen sollte. Vage kam mir der Gedanke, es »Lajos« zurückzugeben, was als vortrefflicher Anlaß dienen könnte, mit seiner Frau bekannt zu werden; aber ich merkte, daß sie mich gar nicht mehr interessierte, daß die flüchtige Hitze, die mir von diesem Abenteuer angeflogen kam, längst in meiner alten Gleichgültigkeit ausgekühlt war. Mehr als dies kämpfende, verlangende Hin und Her der Blicke verlangte ich von Lajos Gattin nicht – der Dickling war mir doch zu unappetitlich, um Körperliches mit ihm zu teilen – den Frisson der Nerven hatte ich gehabt, nun fühlte ich bloß mehr lässige Neugier, wohlige Entspannung.

Der Sessel stand da, verlassen und allein. Ich setzte mich gemächlich nieder, zündete mir eine Zigarette an. Vor mir brandete die Leidenschaft wieder auf, ich horchte nicht einmal hin: Wiederholungen reizten mich nicht. Ich sah laß den Rauch aufsteigen und dachte an die Meraner Gilfpromenade, wo ich vor zwei Monaten gesessen und in den sprühenden Wasserfall hinabgesehen hatte. Ganz so war dies wie hier: auch dort ein mächtig aufschwellendes Rauschen, das nicht wärmte und nicht kühlte, auch dort ein sinnloses Tönen in eine schweigendblaue Landschaft hinein. Aber jetzt war die Leidenschaft des Spiels beim Crescendo angelangt, wieder flog der Schaum von Schirmen, Hüten, Schreien, Taschentüchern über die schwarze Brandung der Menschen hin, wieder quirlten die Stimmen zusammen, wieder zuckte ein Schrei – nun aber andersfarbig – aus dem Riesenmaul der Menge. Ich hörte einen Namen, tausendfach, zehntausendfach, jauchzend, gell, ekstatisch, verzweifelt geschrien: »Cressy! Cressy! Cressy!« Und wieder brach er, eine gespannte Saite, plötzlich ab (wie doch Wiederholung selbst die Leidenschaft eintönig macht!). Die Musik begann zu spielen, die Menge löste sich. Tafeln wurden emporgezogen mit den Nummern der Sieger. Unbewußt blickte ich hin. An erster Stelle leuchtete eine Sieben. Mechanisch sah ich auf das blaue Tickett, das ich zwischen meinen Fingern vergessen hatte. Auch hier die Sieben.

Unwillkürlich mußte ich lachen. Das Tickett hatte gewonnen, der gute Lajos richtig gesetzt. So hatte ich mit meiner Bosheit den dicken Gatten sogar noch um Geld gebracht: mit einem Male war meine übermütige Laune wieder da, nun interessierte es mich zu wissen, um wieviel ihn meine eifersüchtige Intervention geprellt. Ich sah mir den blauen Pappendeckel zum erstenmal genauer an: es war ein Zwanzigkronen-Tickett, und Lajos hatte auf »Sieg« gesetzt. Das konnte wohl schon ein stattlicher Betrag sein. Ohne weiter nachzudenken, nur dem Kitzel der Neugierde folgend, ließ ich mich von der eilenden Menge in die Richtung zu den Kassen hindrängen. Ich wurde in irgendeinen Queue hineingepreßt, legte das Tickett vor, und schon streiften zwei knochige, eilfertige Hände, zu denen ich das Gesicht hinter dem Schalter gar nicht sah, mir neun Zwanzigkronenscheine auf die Marmorplatte.

In dieser Sekunde, wo mir das Geld, wirkliches Geld, blaue Scheine hingelegt wurden, stockte mir das Lachen in der Kehle. Ich hatte sofort ein unangenehmes Gefühl. Unwillkürlich zog ich die Hände zurück, um das fremde Geld nicht zu berühren. Am liebsten hätte ich die blauen Scheine auf der Platte liegen lassen; aber hinter mir drängten schon die Leute, ungeduldig, ihren Gewinn ausbezahlt zu bekommen. So blieb mir nichts übrig, als, peinlich berührt, mit angewiderten Fingerspitzen die Scheine zu nehmen: wie blaue Flammen brannten sie mir in der Hand, die ich unbewußt von mir wegspreizte, als gehörte auch die Hand, die sie genommen, nicht zu mir selbst. Sofort übersah ich das Fatale der Situation. Wider meinen Willen war aus dem Scherz etwas geworden, was einem anständigen Menschen, einem Gentleman, einem Reserveoffizier nicht hätte unterlaufen dürfen, und ich zögerte vor mir selbst, den wahren Namen dafür auszusprechen. Denn dies war nicht verheimlichtes, sondern listig weggelocktes, war gestohlenes Geld.

Um mich surrten und schwirrten die Stimmen, Leute drängten und stießen von und zu den Kassen. Ich stand noch immer reglos mit der weggespreizten Hand. Was sollte ich tun? An das Natürlichste dachte ich zuerst: den wirklichen Gewinner aufsuchen, mich entschuldigen und ihm das Geld zurückerstatten. Aber das ging nicht an, und am wenigsten vor den Blicken jenes Offiziers. Ich war doch Reserveleutnant, und ein solches Eingeständnis hätte mich sofort meine Charge gekostet, denn selbst wenn ich das Tickett gefunden hätte, war schon das Einkassieren des Geldes eine unfaire Handlungsweise. Ich dachte auch daran, meinem in den Fingern zuckenden Instinkt nachzugeben, die Noten zu zerknüllen und fortzuwerfen, aber auch dies war inmitten des Menschengewühls zu leicht kontrollierbar und dann verdächtig. Keinesfalls wollte ich aber auch nur einen Augenblick das fremde Geld bei mir behalten oder gar in die Brieftasche stecken, um es später irgend jemandem zu schenken: das mir seit Kindheit so wie reine Wäsche anerzogene Sauberkeitsempfinden ekelte sich vor jeder auch nur flüchtigen Berührung mit diesen Zetteln. Weg, nur weg mit diesem Gelde, fieberte es ganz heiß in mir, weg, nur irgendwohin, weg! Unwillkürlich sah ich mich um, und wie ich ratlos im Kreise blickte, ob irgendwo ein Versteck sei, eine unbewachte Möglichkeit, fiel mir auf, daß die Menschen von neuem zu den Kassen zu drängen begannen, nun aber mit Geldscheinen in den Händen. Und der Gedanke war mir Erlösung. Zurückwerfen das Geld an den boshaften Zufall, der es mir gegeben, wiederum hinein in den gefräßigen Schlund, der jetzt die neuen Einsätze, Silber und Scheine, gleich gierig hinunterschluckte – ja, das war das Richtige, die wahre Befreiung.

Ungestüm eilte, ja lief ich hin, keilte mich mitten zwischen die Drängenden. Nur zwei Vordermänner waren noch vor mir, schon stand der erste beim Totalisator, als mir einfiel, daß ich gar kein Pferd zu nennen wußte, auf das ich setzen könnte. Gierig hörte ich in das Reden rings um mich. »Setzen Sie Ravachol?« fragte einer. »Natürlich Ravachol«, antwortete ihm sein Begleiter. »Glauben Sie, daß Teddy nicht auch Chancen hat?« »Teddy? keine Spur. Er hat im Maidenrennen total versagt. Er war ein Bluff.«

Wie ein Verdurstender schluckte ich die Worte ein. Also Teddy war schlecht, Teddy würde bestimmt nicht gewinnen. Sofort beschloß ich, ihn zu setzen. Ich schob das Geld hin, nannte den eben erst gehörten Namen Teddy auf Sieg, eine Hand warf mir die Ticketts zurück. Mit einem Male hatte ich jetzt neun rotweiße Pappendeckelstücke zwischen den Fingern statt des einen. Es war noch immer ein peinliches Gefühl; aber immerhin, es brannte nicht mehr so aufreizend, so erniedrigend wie das knitterige bare Geld.

Ich empfand mich wieder leicht, beinahe sorglos: jetzt war das Geld weggetan, das Unangenehme des Abenteuers erledigt, die Angelegenheit wieder zum Scherz geworden, als der sie begonnen. Ich setzte mich lässig in meinen Sessel zurück, zündete eine Zigarette an und blies den Rauch gemächlich vor mich hin. Aber es hielt mich nicht lange, ich stand auf, ging herum, setzte mich wieder hin. Merkwürdig: es war vorbei mit der wohligen Träumerei. Irgendeine Nervosität stak mir knisternd in den Gliedern. Zuerst meinte ich, es sei das Unbehagen, unter den vielen vorbeistreifenden Leuten Lajos und seiner Frau begegnen zu können; aber wie konnten sie ahnen, daß jene neuen Ticketts die ihren waren? Auch die Unruhe der Menschen störte mich nicht, im Gegenteil, ich beobachtete sie genau, ob sie nicht schon wieder nach vorne zu drängen begannen, ja ich ertappte mich, wie ich immer wieder aufstand, um zur Fahne zu blicken, die bei Beginn des Rennens hochgezogen wurde. Das also war es – Ungeduld, ein springendes, inneres Fieber der Erwartung, der Start möge schon beginnen, die leidige Angelegenheit für immer erledigt sein.

Ein Bursche lief vorbei mit einer Rennzeitung. Ich hielt ihn an, kaufte mir das Programm und begann unter den unverständlichen, in einem fremden Jargon geschriebenen Worten und Tips herumzusuchen, bis ich endlich Teddy herausfand, den Namen seines Jockeis, den Besitzer des Stalles und die Farben rotweiß. Aber warum interessierte mich das so? Ärgerlich zerknüllte ich das Blatt und warf es weg, stand auf, setzte mich wieder hin. Mir war ganz plötzlich heiß geworden, ich mußte mir mit dem Taschentuch über die feuchte Stirn fahren, und der Kragen drückte mich. Noch immer wollte der Start nicht beginnen.

Endlich klingelte die Glocke, die Menschen stürmten hin, und in dieser Sekunde spürte ich entsetzt, wie auch mich dieses Klingeln gleich einem Wecker erschreckt von irgendeinem Schlaf aufriß. Ich sprang vom Sessel so heftig weg, daß er umfiel, und eilte – nein, ich lief – gierig nach vorne, die Ticketts fest zwischen die Finger gepreßt, mitten in die Menge hinein und wie von einer rasenden Angst verzehrt, zu spät zu kommen, irgend etwas ganz Wichtiges zu versäumen. Ich erreichte noch, indem ich Leute brutal beiseite stieß, die vordere Barriere, riß rücksichtslos einen Sessel, den eben eine Dame nehmen wollte, an mich. Meine ganze Taktlosigkeit und Tollwütigkeit erkannte ich sofort an ihrem erstaunten Blick – es war eine gute Bekannte, die Gräfin R., deren hochgezogen zornigen Brauen ich begegnete –, aber aus Scham und Trotz sah ich an ihr kalt vorbei, sprang auf den Sessel, um das Feld zu sehen.

Irgendwo weit drüben stand im Grünen an den Start gepreßt ein kleines Rudel unruhiger Pferde, mühsam in der Linie gehalten von den kleinen Jockeis, die wie bunte Polichinelle aussahen. Sofort suchte ich den meinen darunter zu erkennen, aber mein Auge war ungeübt, und mir flimmerte es so heiß und seltsam vor dem Blick, daß ich unter den Farbenflecken den rotweißen nicht zu unterscheiden vermochte. In diesem Augenblick klang die Glocke zum zweiten Male, und wie sieben bunte Pfeile von einem Bogen flitzten die Pferde in den grünen Gang hinein. Es mußte wunderbar sein, dies ruhig und nur ästhetisch zu betrachten, wie die schmalen Tiere galoppierend ausholten und, kaum den Boden anstreifend, über den Rasen hinfederten; aber ich spürte von all dem nichts, ich machte nur verzweifelte Versuche, mein Pferd, meinen Jockei zu erkennen, und fluchte mir selbst, keinen Feldstecher mitgenommen zu haben. So sehr ich mich bog und streckte, ich sah nichts als vier, fünf bunte Insekten, in einen fliegenden Knäuel verwischt; nur die Form sah ich allmählich jetzt sich verändern, wie das leichte Rudel sich jetzt an der Biegung keilförmig verlängerte, eine Spitze vortrieb, indes rückwärts einige des Schwarms bereits abzubröckeln begannen. Das Rennen wurde scharf: drei oder vier der im Galopp ganz auseinandergestreckten Pferde klebten wie farbige Papierstreifen flach zusammen, bald schob sich das eine, bald das andere um einen Ruck vor. Und unwillkürlich streckte ich meinen ganzen Körper aus, als könnte ich durch diese nachahmende, federnde, leidenschaftlich gespannte Bewegung ihre Geschwindigkeit steigern und mitreißen.

Rings um mich wuchs die Erregung. Einzelne Geübtere mußten schon an der Kurve die Farben erkannt haben, denn Namen fuhren jetzt wie grelle Raketen aus dem trüben Tumult. Neben mir stand einer, die Hände frenetisch gereckt, und wie jetzt ein Pferdekopf vordrängte, schrie er fußstampfend mit einer widerlich gellen und triumphierenden Stimme: »Ravachol! Ravachol!« Ich sah, daß wirklich der Jockei dieses Pferdes blau schimmerte, und eine Wut überfiel mich, daß es nicht mein Pferd war, das siegte. Immer unerträglicher wurde mir das gelle Gebrüll »Ravachol! Ravachol!« von dem Widerling neben mir; ich tobte vor kalter Wut, am liebsten hätte ich ihm die Faust in das aufgerissene schwarze Loch seines schreienden Mundes geschlagen. Ich zitterte vor Zorn, ich fieberte, jeden Augenblick, fühlte ich, konnte ich etwas Sinnloses begehen. Aber da hing noch ein anderes Pferd knapp an dem ersten. Vielleicht war das Teddy, vielleicht, vielleicht – und diese Hoffnung befeuerte mich von neuem. Wirklich war mir, als schimmerte der Arm, der sich jetzt über den Sattel hob und etwas niedersausen ließ auf die Kruppe des Pferdes, rotfarben, er konnte es sein, er mußte es sein, er mußte, er mußte! Aber warum trieb er ihn nicht vor, der Schurke? Noch einmal die Peitsche! Noch einmal! Jetzt, jetzt war er ihm ganz nahe! Jetzt, nur eine Spanne noch. Warum Ravachol? Ravachol? Nein, nicht Ravachol! Nicht Ravachol! Teddy! Teddy! Vorwärts Teddy! Teddy!

Plötzlich riß ich mich gewaltsam zurück. Was – was war das? Wer schrie da so? Wer tobte da »Teddy! Teddy!«? Ich selbst schrie ja das. Und mitten in der Leidenschaft erschrak ich vor mir. Ich wollte mich halten, mich beherrschen, inmitten meines Fiebers quälte mich eine plötzliche Scham. Aber ich konnte die Blicke nicht wegreißen, denn dort klebten die beiden Pferde knapp aneinander, und es mußte wirklich Teddy sein, der an Ravachol, dem verfluchten, aus brennender Inbrunst von mir gehaßten Ravachol hing, denn rings um mich gellten jetzt andere lauter und vielstimmiger in grellem Diskant: »Teddy! Teddy!«, und der Schrei riß mich, den für eine schwache Sekunde Aufgetauchten, wieder in die Leidenschaft. Er sollte, er mußte gewinnen, und wirklich, jetzt, jetzt schob sich hinter dem fliegenden Pferde des andern ein Kopf vor, eine Spanne nur, und jetzt schon zwei, jetzt, jetzt sah man schon den Hals – in diesem Augenblick schnarrte grell die Glocke, und ein einziger Schrei des Jubels, der Verzweiflung, des Zornes explodierte. Für eine Sekunde füllte der ersehnte Name den blauen Himmel ganz bis zur Wölbung. Dann stürzte er ein, und irgendwo rauschte Musik.

Heiß, ganz feucht, klopfenden Herzens stieg ich vom Sessel herab. Ich mußte mich für einen Augenblick niedersetzen, so wirr war ich vor begeisterter Erregung. Eine Ekstase, wie ich sie nie gekannt, durchflutete mich, eine sinnlose Freude, daß der Zufall so sklavisch meiner Herausforderung gehorcht; vergebens versuchte ich mir vorzutäuschen, es sei wider meinen Willen gewesen, daß dieses Pferd jetzt gewonnen habe, und ich hätte gewünscht, das Geld verloren zu sehen. Aber ich glaubte es mir selbst nicht, und schon spürte ich ein grausames Ziehen in meinen Gliedern, es riß mich magisch irgendwohin, und ich wußte, wohin es mich trieb: ich wollte den Sieg sehen, ihn spüren, ihn fassen, Geld, viel Geld, blaue knisternde Scheine in den Fingern spüren und dies Rieseln die Nerven hinauf. Eine ganz fremde böse Lust hatte sich meiner bemächtigt, und keine Scham wehrte mehr, ihr nachzugeben. Und kaum daß ich mich erhob, so eilte, so lief ich schon bis hin zur Kasse, ganz brüsk, mit gespreizten Ellenbogen stieß ich mich zwischen die Wartenden am Schalter, schob ungeduldig Leute beiseite, nur um das Geld, das Geld leibhaftig zu sehn. »Flegel!« murrte hinter mir einer der Weggedrängten; ich hörte es, aber ich dachte nicht daran, ihn zu fordern, ich bebte ja vor unbegreiflicher, krankhafter Ungeduld. Endlich war die Reihe an mir, meine Hände faßten gierig ein blaues Bündel Banknoten. Ich zählte zitternd und begeistert zugleich. Es waren sechshundertundvierzig Kronen.

Heiß riß ich sie an mich. Mein nächster Gedanke war: jetzt weiter spielen, mehr gewinnen, viel mehr. Wo hatte ich nur meine Rennzeitung? Ach, weggeworfen in der Erregung! Ich sah um mich, eine neue zu erstehen. Da bemerkte ich zu meinem namenlosen Erschrecken, wie plötzlich alles rings auseinanderflutete, dem Ausgang zu, daß die Kassen sich schlossen, die flatternde Fahne sank. Das Spiel war zu Ende. Es war das letzte Rennen gewesen. Eine Sekunde lang stand ich starr. Dann sprang ein Zorn in mir auf, als sei mir ein Unrecht geschehen. Ich konnte mich nicht damit abfinden, daß jetzt, da alle meine Nerven sich spannten und bebten, das Blut so heiß wie seit Jahren nicht mehr in mir rollte, alles zu Ende sein sollte. Aber es half nichts, mit trügerischem Wunsch die Hoffnung künstlich zu nähren, dies sei nur ein Irrtum gewesen, denn immer rascher entflutete das bunte Gedränge, schon glänzte grün der zertretene Rasen zwischen den vereinzelt Gebliebenen. Allmählich empfand ich das Lächerliche meines gespannten Verweilens, so nahm ich den Hut – den Stock hatte ich offenbar am Tourniquet in der Erregung stehengelassen – und ging dem Ausgang zu. Ein Diener mit servil gelüfteter Kappe sprang mir entgegen, ich nannte ihm die Nummer meines Wagens, er schrie sie mit gehöhlter Hand über den Platz, und schon klapperten scharf die Pferde heran. Ich bedeutete dem Kutscher, langsam die Hauptallee hinabzufahren. Denn gerade jetzt, wo die Erregung wohlig abzuklingen begann, fühlte ich eine lüsterne Neigung, mir noch einmal die ganze Szene in Gedanken zu erneuern.

In diesem Augenblick fuhr ein anderer Wagen vor; unwillkürlich blickte ich hin, um sofort wieder ganz bewußt wegzusehen. Es war die Frau mit ihrem behäbigen Gatten. Sie hatten mich nicht bemerkt. Aber sofort überkam mich ein widerlich würgendes Gefühl, als sei ich ertappt. Und am liebsten hätte ich dem Kutscher zugerufen, auf die Pferde einzuschlagen, nur um rasch aus ihrer Nähe zu kommen.

Weich glitt auf den Gummirädern der Fiaker dahin zwischen den vielen andern, die wie Blumenboote mit ihrer bunten Fracht von Frauen an den grünen Ufern der Kastanienallee vorbeischaukelten. Die Luft war weich und süß, schon wehte von erster Abendkühle manchmal ein leiser Duft durch den Staub herüber. Aber das frühere wohlig-träumerische Gefühl kam nicht wieder: die Begegnung mit dem Geprellten hatte mich peinlich aufgerissen. Wie ein kalter Luftzug durch eine Fuge drang es mit einmal in meine überhitzte Leidenschaft. Ich dachte jetzt noch einmal nüchtern die ganze Szene durch und begriff mich selbst nicht mehr: ich, ein Gentleman, ein Mitglied der besten Gesellschaft, Reserveoffizier, hochgeachtet, hatte ohne Not gefundenes Geld an mich genommen, in die Brieftasche gesteckt, ja dies sogar mit einer gierigen Freude, einer Lust getan, die jede Entschuldigung hinfällig machte. Ich, der ich vor einer Stunde noch ein korrekter, makelloser Mensch gewesen war, hatte gestohlen. Ich war ein Dieb. Und gleichsam, um mich selbst zu erschrecken, sagte ich mir mein Urteil halblaut hin, während der Wagen leise trabte, unbewußt im Rhythmus des Hufschlags sprechend: »Dieb! Dieb! Dieb! Dieb!« Aber seltsam, wie soll ich beschreiben, was jetzt geschah, es ist ja so unerklärlich, so ganz absonderlich, und doch weiß ich, daß ich mir nichts nachträglich vortäusche. Jede Sekunde meines Gefühls, jede Oszillation meines Denkens in jenen Augenblicken ist mir ja mit einer so übernatürlichen Deutlichkeit bewußt, wie kaum irgendein Erlebnis meiner sechsunddreißig Jahre, und doch wage ich kaum, diese absurde Reihenfolge, diese verblüffende Schwankung meines Empfindens bewußt zu machen, ja ich weiß nicht, ob irgendein Dichter, ein Psychologe das logisch zu schildern vermöchte. Ich kann nur die Reihenfolge aufzeichnen, ganz getreu ihrem unvermuteten Aufleuchten nach. Also: ich sagte zu mir »Dieb, Dieb, Dieb«. Dann kam ein ganz merkwürdiger, ein gleichsam leerer Augenblick, ein Augenblick, wo nichts geschah, wo ich nur – ach, wie schwer ist es, dies auszudrücken – wo ich nur horchte, in mich hineinhorchte. Ich hatte mich angerufen, hatte mich angeklagt, nun sollte dem Richter der Angeschuldigte antworten. Ich horchte also, und es geschah – nichts. Der Peitschenschlag dieses Wortes »Dieb«, von dem ich erwartet hatte, es werde mich aufschrecken und dann hinstürzen lassen in eine namenlose, eine zerknirschte Scham, weckte nichts auf. Ich wartete geduldig einige Minuten, ich beugte mich dann gewissermaßen noch näher über mich selbst – denn ich spürte zu wohl, daß unter diesem trotzigen Schweigen etwas sich regte – und horchte mit einer fieberhaften Erwartung auf das ausbleibende Echo, auf den Schrei des Ekels, der Entrüstung, der Verzweiflung, der dieser Selbstanschuldigung folgen mußte. Und es geschah wiederum nichts. Nichts antwortete. Nochmals sagte ich mir das Wort »Dieb«, »Dieb«, nun schon ganz laut, um endlich in mir das schwerhörige, das gelähmte Gewissen aufzuwecken. Wieder kam keine Antwort. Und plötzlich – in einem grellen Blitzlicht des Bewußtseins, wie wenn plötzlich ein Streichholz angezündet und über die dämmernde Tiefe gehalten wäre – erkannte ich, daß ich mich nur schämen wollte, aber nicht schämte, ja, daß ich in jener Tiefe irgendwie geheimnisvoll stolz, sogar beglückt war von dieser törichten Tat.

Wie war das möglich? Ich wehrte mich, jetzt wirklich vor mir selbst erschreckend, gegen diese unerwartete Erkenntnis, aber zu schwellend, zu ungestüm wogte das Gefühl aus mir auf. Nein, das war nicht Scham, nicht Empörung, nicht Selbstekel, was so warm mir im Blut gärte – das war Freude, trunkene Freude, die in mir aufloderte, ja funkelte mit hellen spitzen Flammen von Übermut, denn ich spürte, daß ich in jenen Minuten zum erstenmal seit Jahren und Jahren wirklich lebendig, daß mein Gefühl nur gelähmt gewesen und noch nicht abgestorben war, daß irgendwo unter der versandeten Fläche meiner Gleichgültigkeit also doch noch jene heißen Quellen von Leidenschaft geheimnisvoll gingen und nun, von der Wünschelrute des Zufalls berührt, hoch bis in mein Herz hinaufgepeitscht waren. Auch in mir, auch in mir, in diesem Stück atmenden Weltalls, glühte also noch jener geheimnisvolle vulkanische Kern alles Irdischen, der manchmal vorbricht in den wirbelnden Stößen von Begier, auch ich lebte, war lebendig, war ein Mensch mit bösem und warmem Gelüst. Eine Tür war aufgerissen vom Sturm dieser Leidenschaft, eine Tiefe aufgetan in mich hinein, und ich starrte in wollüstigem Schwindel hinab in dies Unbekannte in mir, das mich erschreckte und beseligte zugleich. Und langsam – während der Wagen lässig meinen träumenden Körper durch die bürgerlich-gesellschaftliche Welt hinrollte – stieg ich, Stufe um Stufe, hinab in die Tiefe des Menschlichen in mir, unsäglich allein in diesem schweigenden Gang, nur überhöht von der aufgehobenen grellen Fackel meines jäh entzündeten Bewußtseins. Und indes tausend Menschen um mich lachend und schwatzend wogten, suchte ich mich, den verlorenen Menschen, in mir, tastete ich Jahre ab in dem magischen Gang des Besinnens. Ganz verschollene Dinge tauchten plötzlich aus den verstaubten und erblindeten Spiegeln meines Lebens auf, ich erinnerte mich, schon einmal als Schulknabe einem Kameraden ein Taschenmesser gestohlen und mit der gleichen teuflischen Freude ihm zugesehen zu haben, wie er es überall suchte, alle fragte und sich mühte; ich verstand mit einemmal das geheimnisvoll Gewitternde mancher sexuellen Stunden, verstand, daß meine Leidenschaft nur verkrümmt, nur zertreten gewesen war von dem gesellschaftlichen Wahn, von dem herrischen Ideal der Gentlemen – daß aber auch in mir, nur tief, ganz tief unten in verschütteten Brunnen und Röhren die heißen Ströme des Lebens gingen wie in allen andern. Oh, ich hatte ja immer gelebt, nur nicht gewagt zu leben, ich hatte mich verschnürt und verborgen vor mir selbst: nun aber war die gepreßte Kraft aufgebrochen, das Leben, das reiche, das unsäglich gewaltsame hatte mich überwältigt. Und nun wußte ich, daß ich ihm noch anhing; mit der seligen Betroffenheit der Frau, die zum erstenmal in sich das Kind sich regen spürt, empfand ich das Wirkliche – wie soll ich es anders nennen – das Wahre, das Unverstellte des Lebens in mir keimen, ich fühlte – fast schäme ich mich, solch ein Wort hinzuschreiben – wie ich, der abgestorbene Mensch, mit einemmal wieder blühte, wie durch meine Adern Blut rot und unruhig rollte, Gefühl sich im Warmen leise entfaltete und ich aufwuchs zu unbekannter Frucht von Süße oder Bitternis. Das Tannhäuserwunder war mir geschehen mitten im klaren Licht eines Rennplatzes, zwischen dem Geschwirr von Tausenden müßiger Menschen: ich hatte wieder zu fühlen begonnen, er grünte und trieb seine Knospen, der abgedorrte Stab.

Von einem vorüberfahrenden Wagen grüßte ein Herr und rief – offenbar hatte ich seinen ersten Gruß übersehen – meinen Namen. Unwirsch fuhr ich auf, zornig, gestört zu sein in diesem süßrieselnden Zustand des sich in mich selbst Ergießens, dieses tiefsten Traumes, den ich jemals erlebt. Aber der Blick auf den Grüßenden riß mich ganz von mir weg: es war mein Freund Alfons, ein lieber Schulkamerad und jetzt Staatsanwalt. Mit einemmal durchzuckte es mich: dieser Mensch, der dich brüderlich grüßt, hat jetzt zum erstenmal Macht über dich, du bist ihm verfallen, sobald er dein Vergehen kennt. Wüßte er um dich und deine Tat, er müßte dich aus diesem Wagen ziehen, weg aus der ganzen warmen bürgerlichen Existenz, und hinabstoßen auf drei oder fünf Jahre in die dumpfe Welt hinter vergitterten Fenstern, zum Abhub des Lebens, zu den andern Dieben, die nur die Peitsche der Not in ihre schmierigen Zellen getrieben. Aber nur einen Augenblick lang faßte mich kalt die Angst am Gelenk meiner zitternden Hand, nur einen Augenblick lang hielt sie den Herzschlag an – dann verwandelte auch dieser Gedanke sich wieder in heißes Gefühl, in einen phantastischen, frechen Stolz, der jetzt selbstbewußt und beinahe höhnisch die andern Menschen ringsum musterte. Wie würde, dachte ich, euer süßes kameradschaftliches Lächeln, mit dem ihr mich als euresgleichen grüßt, anfrieren um die Mundwinkel, wenn ihr mich ahntet! Wie einen Kotspritzer würdet ihr meinen Gruß wegstäuben mit verächtlich geärgerter Hand. Aber ehe ihr mich ausstoßt, habe ich euch schon ausgestoßen: heute nachmittags habe ich mich herausgestürzt aus eurer kalten knöchernen Welt, wo ich ein Rad war, ein lautlos funktionierendes, in der großen Maschine, die kalt in ihren Kolben abrollt und eitel um sich selber kreist – ich bin in eine Tiefe gestürzt, die ich nicht kenne, doch ich bin lebendiger gewesen in dieser einen Stunde als in den gläsernen Jahren in eurem Kreis. Nicht mehr euch gehöre ich, nicht mehr zu euch, ich bin jetzt außen irgendwo in einer Höhe oder Tiefe, nie mehr aber, nie mehr am flachen Strand eures bürgerlichen Wohlseins. Ich habe zum erstenmal alles gefühlt, was in den Menschen an Lust im Guten und Bösen getan ist, aber nie werdet ihr wissen, wo ich war, nie mich erkennen: Menschen, was wißt ihr von meinem Geheimnis!

Wie vermöchte ich es auszudrücken, was ich in jener Stunde fühlte, indes ich, ein elegant angezogener Gentleman, mit kühlem Gesicht grüßend und dankend zwischen den Wagenreihen durchfuhr! Denn während meine Larve, der äußere, der frühere Mensch, noch Gesichter fühlte und erkannte, rauschte innen in mir eine so taumelnde Musik, daß ich mich niederdrücken mußte, um nicht etwas herauszuschreien von diesem tosenden Tumult. Ich war so voll von Gefühl, daß mich dieser innere Schwall physisch quälte, daß ich wie ein Erstickender die Hand gewaltsam an die Brust pressen mußte, unter der das Herz schmerzhaft gärte. Aber Schmerz, Lust, Erschrecken, Entsetzen oder Bedauern, nichts fühlte ich einzeln und abgerissen, alles schmolz zusammen, ich spürte nur, daß ich lebte, daß ich atmete und fühlte. Und dieses Einfachste, dieses urhafte Gefühl, das ich seit Jahren nicht empfunden, machte mich trunken. Nie hatte ich mich selbst auch nur eine Sekunde meiner sechsunddreißig Jahre so ekstatisch als lebendig empfunden als in der Schwebe dieser Stunde.

Mit einem leichten Ruck hielt der Wagen an: der Kutscher hatte die Pferde angezügelt, wandte sich vom Bock und fragte, ob er nach Hause fahren solle. Ich taumelte aus mir heraus, hob die Blicke über die Allee hin: mit Betroffenheit merkte ich, wie lange ich geträumt, wie weit die Trunkenheit über die Stunden sich ausgegossen hatte. Es war dunkel geworden, ein Weiches wogte in den Kronen der Bäume, die Kastanien begannen ihren abendlichen Duft durch die Kühle zu atmen. Und hinter den Wipfeln silberte schon ein verschleierter Blick von Mond. Es war genug, es mußte genug sein. Aber nur nicht jetzt nach Hause, nur nicht in meine gewohnte Welt! Ich bezahlte den Kutscher. Als ich die Brieftasche zog und die Banknoten zählend zwischen die Finger nahm, liefs wie ein leiser elektrischer Schlag mir vom Gelenk in die Fingerspitzen: irgend etwas in mir mußte noch wach sein also vom alten Menschen, der sich schämte. Noch zuckte das absterbende Gentlemansgewissen, doch ganz heiter blätterte schon wieder meine Hand im gestohlenen Gelde, und ich war freigebig aus meiner Freude. Der Kutscher bedankte sich so überschwenglich, daß ich lächeln mußte: wenn du wüßtest! Die Pferde zogen an, der Wagen fuhr fort. Ich sah ihm nach, wie man vom Schiff noch einmal auf einen Strand zurückblickt, an dem man glücklich gewesen.

Einen Augenblick stand ich so träumerisch und ratlos mitten in der murmelnden, lachenden, musiküberwogten Menge: es mochte etwa sieben Uhr sein, und unwillkürlich bog ich hinüber zum Sachergarten, wo ich sonst immer nach der Praterfahrt in Gesellschaft zu speisen pflegte und in dessen Nähe der Fiaker mich wohl bewußt abgesetzt hatte. Aber kaum daß ich die Gitterklinke des vornehmen Gartenrestaurants berührte, überfiel mich eine Hemmung: nein, ich wollte noch nicht in meine Welt zurück, nicht mir in lässigem Gespräch diese wunderbare Gärung, die mich geheimnisvoll erfüllte, wegschwemmen lassen, nicht mich loslösen von der funkelnden Magie des Abenteuers, der ich mich seit Stunden verkettet fühlte.

Von irgendwoher dröhnte dumpfe verworrene Musik, und unwillkürlich ging ich ihr nach, denn alles lockte mich heute, ich empfand es als Wollust, dem Zufall ganz nachzugeben, und dies dumpfe Hingetriebensein inmitten einer weich wogenden Menschenmenge hatte einen phantastischen Reiz. Mein Blut gärte auf in diesem dicken quirlenden Brei heißer menschlicher Masse: aufgespannt war ich mit einemmal, angereizt und gesteigert wach in allen Sinnen von diesem beizend qualmigen Duft von Menschenatem, Staub, Schweiß und Tabak. Denn all dies, was mich vordem, ja selbst gestern noch, als ordinär, gemein und plebejisch abgestoßen, was der soignierte Gentleman in mir ein Leben lang hochmütig gemieden hatte, das zog meinen neuen Instinkt magisch an, als empfände ich zum erstenmal im Animalischen, im Triebhaften, im Gemeinen eine Verwandtschaft mit mir selbst. Hier im Abhub der Stadt, zwischen Soldaten, Dienstmädchen, Strolchen, fühlte ich mich in einer Weise wohl, die mir ganz unverständlich war: ich sog die Beize dieser Luft irgendwie gierig ein, das Schieben und Pressen in eine geknäulte Masse war mir angenehm, und mit einer wollüstigen Neugier wartete ich, wohin diese Stunde mich Willenlosen schwemmte. Immer näher gellten und schmetterten vom Wurstelprater her die Tschinellen und die weiße Blechmusik, in einer fanatisch monotonen Art stampften die Orchestrions harte Polkas und rumpelnde Walzer, dazwischen knatterten dumpfe Schläge aus den Buden, zischte Gelächter, grölten trunkene Schreie, und jetzt sah ich schon mit irrsinnigen Lichtern die Karusselle meiner Kindheit zwischen den Bäumen kreisen. Ich blieb mitten auf dem Platze stehen und ließ den ganzen Tumult in mich einbranden, mir Augen und Ohren vollschwemmen: diese Kaskaden von Lärm, das Infernalische dieses Durcheinander tat mir wohl, denn in diesem Wirbel war etwas, das mir den innern Schwall betäubte. Ich sah zu, wie mit geblähten Kleidern die Dienstmädchen sich auf den Hutschen mit kollernden Lustschreien, die gleichsam aus ihrem Geschlecht gellten, in den Himmel schleudern ließen, wie Metzgergesellen lachend schwere Hämmer auf die Kraftmesser hinkrachten, Ausrufer mit heisern Stimmen und affenhaften Gebärden über den Lärm der Orchestrions schreiend hinwegruderten, und wie alles dies sich quirlend mengte mit dem tausendgeräuschigen, unablässig bewegten Dasein der Menge, die trunken war vom Fusel der Blechmusik, dem Flirren des Lichts und von der eigenen warmen Lust ihres Beisammenseins. Seit ich selber wach geworden war, spürte ich auf einmal das Leben der andern, ich spürte die Brunst der Millionenstadt, wie sie sich heiß und aufgestaut in die paar Stunden des Sonntags ergoß, wie sie sich aufreizte an der eigenen Fülle zu einem dumpfen, tierischen, aber irgendwie gesunden und triebhaften Genuß. Und allmählich spürte ich vom Angeriebensein, von der unausgesetzten Berührung mit ihren heißen leidenschaftlich drängenden Körpern ihre warme Brunst selbst in mich übergehen: meine Nerven strafften sich, aufgereizt von dem scharfen Geruch, aus mir heraus, meine Sinne spielten taumelig mit dem Getöse und empfanden jene verwirrte Betäubung, die mit jeder starken Wollust unweigerlich gemengt ist. Zum erstenmal seit Jahren, vielleicht überhaupt in meinem Leben, spürte ich die Masse, spürte ich Menschen als eine Macht, von der Lust in mein eigenes, abgeschiedenes Wesen überging: irgendein Damm war zerrissen, und von meinen Adern gings hinüber in diese Welt, strömte es rhythmisch zurück, und eine ganz neue Gier überkam mich, noch jene letzte Kruste zwischen mir und ihnen abzuschmelzen, ein leidenschaftliches Verlangen nach Paarung mit dieser heißen, fremden, drängenden Menschheit. Mit der Lust des Mannes sehnte ich mich in den quellenden Schoß dieses heißen Riesenkörpers hinein, mit der Lust des Weibes war ich aufgetan jeder Berührung, jedem Ruf, jeder Lockung, jeder Umfassung – und nun wußte ichs, Liebe war in mir und Bedürfnis nach Liebe wie nur in den zwielichthaften Knabentagen. Oh, nur hinein, hinein ins Lebendige, irgendwie verbunden sein mit dieser zuckenden, lachenden, aufatmenden Leidenschaft der andern, nur einströmen, sich ergießen in ihren Adergang; ganz klein, ganz namenlos werden im Getümmel, eine Infusorie bloß sein im Schmutz der Welt, ein lustzitterndes, funkelndes Wesen im Tümpel mit den Myriaden – aber nur hinein in die Fülle, hinab in den Kreisel, mich abschießen wie einen Pfeil von der eigenen Gespanntheit ins Unbekannte, in irgendeinen Himmel der Gemeinsamkeit.

Ich weiß es jetzt: ich war damals trunken. In meinem Blute brauste alles zusammen, das Hämmern der Glocken von den Karussells, das feine Lustlachen der Frauen, das unter dem Zugriff der Männer aufsprühte, die chaotische Musik, die flirrenden Kleider. Spitz fiel jeder einzelne Laut in mich und flimmerte dann noch einmal rot und zuckend an den Schläfen vorbei, ich spürte jede Berührung, jeden Blick mit einer phantastischen Aufgereiztheit der Nerven (so wie bei der Seekrankheit), aber doch alles gemeinsam in einem taumeligen Verbundensein. Ich kann meinen komplizierten Zustand unmöglich mit Worten ausdrücken, am ehesten gelingt es noch vielleicht mit einem Vergleiche: wenn ich sage, ich war überfüllt mit Geräusch, Lärm, Gefühl, überheizt wie eine Maschine, die mit allen Rädern rasend rennt, um dem ungeheuren Druck zu entlaufen, der ihr im nächsten Augenblicke schon den Brustkessel sprengen muß. In den Fingerspitzen zuckte, in den Schläfen pochte, in der Kehle preßte, an den Schläfen würgte das angehitzte Blut – von einer jahrelangen Lauheit des Gefühls war ich mit einemmal in ein Fieber gestürzt, das mich verbrannte. Ich fühlte, daß ich mich jetzt auftun müßte, aus mir heraus mit einem Wort, mit einem Blick, mich mitteilen, mich ausströmen, mich weggeben, mich hingeben, mich gemein machen, mich lösen, – irgendwie retten aus dieser harten Kruste von Schweigen, die mich absonderte von dem warmen, flutenden, lebendigen Element. Seit Stunden hatte ich nicht gesprochen, niemandes Hand gedrückt, niemandes Blick fragend und teilnehmend gegen den meinen gespürt, und nun staute, unter dem Sturz der Geschehnisse, sich diese Erregung gegen das Schweigen. Niemals, niemals hatte ich so sehr das Bedürfnis nach Mitteilsamkeit, nach einem Menschen gehabt, als jetzt, da ich inmitten von Tausenden und Zehntausenden wogte, rings angespült war von Wärme und Worten, und doch abgeschnürt von dem kreisenden Adergang dieser Fülle. Ich war wie einer, der auf dem Meere verdurstet. Und dabei sah ich, diese Qual mit jedem Blick mehrend, wie rechts und links in jeder Sekunde Fremdes sich anstreifend band, die Quecksilberkügelchen gleichsam spielend zusammenliefen. Ein Neid kam mich an, wenn ich sah, wie junge Burschen im Vorübergehen fremde Mädchen ansprachen und sie nach dem ersten Wort schon unterfaßten, wie alles sich fand und zusammentat: ein Gruß beim Karussell, ein Blick im Anstreifen genügte schon, und Fremdes schmolz in ein Gespräch, vielleicht um sich wieder zu lösen nach ein paar Minuten, aber doch es war Bindung, Vereinigung, Mitteilung, war das, wonach alle meine Nerven jetzt brannten. Ich aber, gewandt im gesellschaftlichen Gespräch, beliebter Causeur und sicher in den Formen, ich verging vor Angst, ich schämte mich, irgendeines dieser breithüftigen Dienstmädchen anzureden, aus Furcht, sie möchte mich verlachen, ja ich schlug die Augen nieder, wenn jemand mich zufällig anschaute, und verging doch innen vor Begierde nach dem Wort. Was ich wollte von den Menschen, war mir ja selbst nicht klar, ich ertrug es nur nicht länger, allein zu sein und an meinem Fieber zu verbrennen. Aber alle sahen an mir vorbei, jeder Blick strich mich weg, niemand wollte mich spüren. Einmal trat ein Bursch in meine Nähe, zwölfjährig, mit zerlumpten Kleidern: sein Blick war grell erhellt vom Widerschein der Lichter, so sehnsüchtig starrte er auf die schwingenden Holzpferde. Sein schmaler Mund stand offen wie lechzend: offenbar hatte er kein Geld mehr, um mitzufahren, und sog nur Lust aus dem Schreien und Lachen der andern. Ich stieß mich gewaltsam heran an ihn und fragte – aber warum zitterte meine Stimme so dabei und war ganz grell überschlagen? –: »Möchten Sie nicht auch einmal mitfahren?« Er starrte auf, erschrak – warum? warum? – wurde blutrot und lief fort, ohne ein Wort zu sagen. Nicht einmal ein barfüßiges Kind wollte eine Freude von mir: es mußte, so fühlte ich, etwas furchtbar Fremdes an mir sein, daß ich nirgends mich einmengen konnte, sondern abgelöst in der dicken Masse schwamm wie ein Tropfen Öl auf dem bewegten Wasser.

Aber ich ließ nicht nach: ich konnte nicht länger allein bleiben. Die Füße brannten mir in den bestaubten Lackschuhen, die Kehle war verrostet vom aufgewühlten Qualm. Ich sah mich um: rechts und links zwischen den strömenden Menschengassen standen kleine Inseln von Grün, Gastwirtschaften mit roten Tischtüchern und nackten Holzbänken, auf denen die kleinen Bürger saßen mit ihrem Glas Bier und der sonntäglichen Virginia. Der Anblick lockte mich: hier saßen Fremde beisammen, verknüpften sich im Gespräch, hier war ein wenig Ruhe im wüsten Fieber. Ich trat ein, musterte die Tische, bis ich einen fand, wo eine Bürgerfamilie, ein dicker, vierschrötiger Handwerker mit seiner Frau, zwei heitern Mädchen und einem kleinen Jungen saß. Sie wiegten die Köpfe im Takt, scherzten einander zu, und ihre zufriedenen, leichtlebigen Blicke taten mir wohl. Ich grüßte höflich, rührte an einen Sessel und fragte, ob ich Platz nehmen dürfe. Sofort stockte ihr Lachen, einen Augenblick schwiegen sie (als wartete jeder, daß der andere seine Zustimmung gebe), dann sagte die Frau, gleichsam betroffen: »Bitte! Bitte!« Ich setzte mich hin und hatte gleich das Gefühl, daß ich mit meinem Hinsetzen ihre ungenierte Laune zerdrückte, denn sofort lag um den Tisch herum ein ungemütliches Schweigen. Ohne daß ich es wagte, die Augen von dem rotkarierten Tischtuch, auf dem Salz und Pfeffer schmierig verstreut zu sehen war, zu heben, spürte ich, daß sie mich alle befremdet beobachteten, und sofort fiel mir – zu spät! – ein, daß ich zu elegant war für dieses Dienstbotengasthaus mit meinem Derbydreß, dem Pariser Zylinder und der Perle in meiner taubengrauen Krawatte, daß meine Eleganz, das Parfüm von Luxus auch hier sofort eine Luftschicht von Feindlichkeit und Verwirrung um mich legte. Und dieses Schweigen der fünf Leute drosselte mich immer tiefer nieder auf den Tisch, dessen rote Karrees ich mit einer verbissenen Verzweiflung immer wieder abzählte, festgenagelt durch die Scham, plötzlich wieder aufzustehn, und doch wieder zu feige, den gepeinigten Blick aufzuheben. Es war eine Erlösung, als endlich der Kellner kam und das schwere Bierglas vor mich hinstellte. Da konnte ich endlich eine Hand regen und beim Trinken scheu über den Rand schielen: wirklich, alle fünf beobachteten mich, zwar ohne Haß, aber doch mit einer wortlosen Befremdung. Sie erkannten den Eindringling in ihre dumpfe Welt, sie fühlten mit dem naiven Instinkt ihrer Klasse, daß ich etwas hier wollte, hier suchte, was nicht zu meiner Welt gehörte, daß nicht Liebe, nicht Neigung, nicht die einfältige Freude am Walzer, am Bier, am geruhsamen Sonntagsitzen mich hertrieb, sondern irgendein Gelüst, das sie nicht verstanden und dem sie mißtrauten, so wie der Junge vor dem Karussell meinem Geschenk mißtraut hatte, wie die tausend Namenlosen da draußen im Gewühl meiner Eleganz, meiner Weltmännischkeit in unbewußter Feindlichkeit ausbogen. Und doch fühlte ich: fände ich jetzt ein argloses, einfaches, herzliches, ein wahrhaft menschliches Wort der Anrede zu ihnen, so würde der Vater oder die Mutter mir antworten, die Töchter geschmeichelt zulächeln, ich könnte mit dem Jungen hinüber in eine Bude schießen gehen und kindlichen Spaß mit ihm treiben. In fünf, in zehn Minuten würde ich erlöst sein von mir, eingehüllt in die arglose Atmosphäre bürgerlichen Gesprächs, gern gewährter und sogar geschmeichelter Vertraulichkeit – aber dies einfache Wort, diesen ersten Ansatz im Gespräch, ich fand ihn nicht, eine falsche, törichte, aber übermächtige Scham würgte mir die Kehle, und ich saß mit gesenktem Blick wie ein Verbrecher an dem Tisch dieser einfachen Menschen, gehüllt in die Qual, ihnen mit meiner verbissenen Gegenwart noch die letzte Stunde des Sonntags verstört zu haben. Und in diesem hingebohrten Hinsitzen büßte ich all die Jahre gleichgültigen Hochmuts, an denen ich an abertausend solchen Tischen, an Millionen und Millionen brüderlicher Menschen ohne Blick vorübergegangen war, einzig beschäftigt mit Gunst oder Erfolg in jenem engen Kreise der Eleganz, und ich spürte, daß mir der gerade Weg, die unbefangene Sprache zu ihnen, jetzt, da ich ihrer in der Stunde meines Ausgestoßenseins bedurfte, von innen vermauert war.

So saß ich, ein freier Mensch bisher, qualvoll in mich geduckt, immer wieder die roten Karrees am Tischtuch abzählend, bis endlich der Kellner vorbeikam. Ich rief ihn an, zahlte, stand von dem kaum angetrunkenen Bierglase auf, grüßte höflich. Man dankte mir freundlich und erstaunt: ich wußte, ohne mich umzuwenden, daß jetzt, kaum daß ich ihnen den Rücken zeigte, das Lebendig-Heitere sie wieder überkommen, der warme Kreis des Gesprächs sich schließen würde, sobald ich, der Fremdkörper, ausgestoßen war.

Wieder warf ich mich, aber nun noch gieriger, heißer und verzweifelter, in den Wirbel der Menschen zurück. Das Gedränge war inzwischen lockerer geworden unter den Bäumen, die schwarz in den Himmel überfluteten, es drängte und quirlte nicht mehr so dicht und strömend in den Lichtkreis der Karussells, sondern schwirrte nur schattenhaft mehr am äußersten Rand des Platzes. Auch der brausende, tiefe, gleichsam lustatmende Ton der Menge zerstückte sich in viele kleine Geräusche, die immer gleich hingeschmettert wurden, wenn jetzt die Musik irgendwo gewaltig und rabiat einsetzte, als wollte sie die Fliehenden noch einmal heranreißen. Eine andere Art Gesichter tauchte jetzt auf: die Kinder mit ihren Ballons und Papierkoriandolis waren schon nach Hause gegangen, auch die breithinrollenden sonntäglichen Familien hatten sich verzogen. Nun sah man schon Betrunkene johlen, verlotterte Burschen mit lungerndem und doch suchendem Gang sich aus den Seitenalleen vorschieben: es war in der einen Stunde, in der ich festgenagelt vor dem fremden Tische gesessen, diese seltsame Welt mehr ins Gemeine hinabgeglitten. Aber gerade jene phosphoreszierende Atmosphäre von Frechheit und Gefährlichkeit gefiel mir irgendwie besser als die bürgerlichsonntägliche von vordem. Der in mir aufgereizte Instinkt witterte hier ähnliche Gespanntheit der Begier; in dem vortreibenden Schlendern dieser fragwürdigen Gestalten, dieser Ausgestoßenen der Gesellschaft, empfand ich mich irgendwie gespiegelt: auch sie wilderten doch mit einer unruhigen Erwartung hier nach einem flackernden Abenteuer, einer raschen Erregung, und selbst sie, diese zerlumpten Burschen, beneidete ich um die offene, freie Art ihres Streifens; denn ich stand an die Säule eines Karussells atmend gepreßt, ungeduldig, den Druck des Schweigens, die Qual meiner Einsamkeit aus mir zu stoßen und doch unfähig einer Bewegung, eines Anrufs, eines Worts. Ich stand nur und starrte hinaus auf den Platz, der vom Reflex der kreisenden Lichter zuckend erhellt war, stand und starrte von meiner Lichtinsel ins Dunkel hinein, töricht erwartungsvoll jeden Menschen anblickend, der vom grellen Schein angezogen für einen Augenblick sich herwandte. Aber jedes Auge glitt kalt an mir ab. Niemand wollte mich, niemand erlöste mich.

Ich weiß, es wäre wahnwitzig, jemandem schildern oder gar erklären zu wollen, daß ich, ein kultivierter eleganter Mann der Gesellschaft, reich, unabhängig, mit den Besten einer Millionenstadt befreundet, eine ganze Stunde in jener Nacht am Pfosten eines verstimmt quiekenden, rastlos sich schwingenden Praterkarussells stand, zwanzig, vierzig, hundertmal dieselbe stolpernde Polka, denselben schleifenden Walzer mit denselben idiotischen Pferdeköpfen aus bemaltem Holz an mir vorüberkreisen ließ und aus verbissenem Trotz, aus einem magischen Gefühl, das Schicksal in meinen Willen zu zwingen, nicht mich von der Stelle rührte. Ich weiß, daß ich sinnlos handelte in jener Stunde, aber in dieser sinnlosen Beharrung war eine Spannung des Gefühls, eine so stählerne Ankrampfung aller Muskeln, wie sie Menschen sonst vielleicht nur bei einem Absturz fühlen, knapp vor dem Tod, mein ganzes, leer vorbeigelaufenes Leben war plötzlich zurückgeflutet und staute sich bis hinauf zur Kehle. Und so sehr ich gequält war von meinem sinnlosen Wahn, zu bleiben, zu verharren, bis irgendein Wort, ein Blick eines Menschen mich erlöse, so sehr genoß ich diese Qual. Ich büßte etwas in diesem Stehen an dem Pfahl, nicht jenen Diebstahl so sehr, als das Dumpfe, das Laue, das Leere meines früheren Lebens: und ich hatte mir geschworen, nicht früher zu gehen, bis mir ein Zeichen gegeben war, das Schicksal mich freigegeben.

Und je mehr jene Stunde fortschritt, um so mehr drängte die Nacht sich heran. Eines nach dem andern losch in den Buden das Licht und immer stürzte dann wie eine steigende Flut das Dunkel vor, schluckte den lichten Fleck auf dem Rasen ein: immer einsamer war die helle Insel, auf der ich stand, und schon sah ich zitternd auf die Uhr. Eine Viertelstunde noch, dann würden die scheckigen Holzpferde stillestehn, die roten und grünen Glühlampen auf ihren einfältigen Stirnen abknipsen, das geblähte Orchestrion aufhören zu stampfen. Dann würde ich ganz im Dunkel sein, ganz allein hier in der leise rauschenden Nacht, ganz ausgestoßen, ganz verlassen. Immer unruhiger blickte ich über den dämmernden Platz, über den nur ganz selten mehr ein heimkehrendes Pärchen eilig strich oder ein paar Burschen betrunken hintaumelten: quer drüben aber in den Schatten zitterte noch verstecktes Leben, unruhig und aufreizend. Manchmal pfiff oder schnalzte es leise, wenn ein paar Männer vorüberkamen. Und bogen sie dann, gelockt von dem Anruf, hin zum Dunkel, so zischelten in den Schatten Frauenstimmen, und manchmal warf der Wind abgerissene Fetzen grellen Lachens herüber. Und allmählich schob sichs um den Rand des Dunkels frecher hervor, gegen den Lichtkegel des erhellten Platzes, um sofort wieder in die Schwärze zurückzutauchen, sobald im Vorübergehen die Pickelhaube eines Schutzmannes im Reflex der Laterne schimmerte. Aber kaum daß er weiterging auf seiner Runde, waren die gespenstigen Schatten wieder da, und jetzt konnte ich sie schon deutlich im Umriß sehen, so nahe wagten sie sich ans Licht, der letzte Abhub jener nächtigen Welt, der Schlamm, der zurückblieb, nun da sich der flüssige Menschenstrom verlaufen: ein paar Dirnen, jene ärmsten und ausgestoßensten, die keine eigene Bettstatt haben, tags auf einer Matratze schlafen und nachts ruhlos streifen, die ihren abgebrauchten, geschändeten, magern Körper jedem für ein kleines Silberstück hier irgendwo im Dunkel auftaten, umspürt von der Polizei, getrieben von Hunger oder irgendeinem Strolch, immer im Dunkel streifend, jagend und gejagt zugleich. Wie hungrige Hunde schnupperten sie allmählich vor zu dem erhellten Platz nach irgend etwas Männlichem, nach einem vergessenen Nachzügler, dem sie seine Lust ablocken könnten für eine Krone oder zwei, um sich dann einen Glühwein zu kaufen in einem Volkskaffee und den trüb flackernden Stumpf Leben sich zu erhalten, der ja ohnehin bald auslöscht in einem Spital oder einem Gefängnis. Der Abhub war dies, die letzte Jauche von der hochgequollenen Sinnlichkeit der sonntäglichen Masse – mit einem grenzenlosen Grauen sah ich nun aus dem Dunkel diese hungrigen Gestalten geistern. Aber auch in diesem Grauen war noch eine magische Lust, denn selbst in diesem schmutzigsten Spiegel erkannte ich Vergessenes und dumpf Gefühltes wieder: hier war eine tiefe, sumpfige Welt, die ich vor Jahren längst durchschritten und die nun phosphoreszierend mir wieder in die Sinne funkelte. Seltsam, was diese phantastische Nacht mir plötzlich entgegenhielt, wie sie mich Verschlossenen plötzlich auffaltete, daß das Dunkelste meiner Vergangenheit, das Geheimste meines Triebes in mir nun offen lag! Dumpfes Gefühl stieg auf verschütteter Knabenjahre, wo scheuer Blick neugierig angezogen und doch feig verstört an solchen Gestalten gehaftet, Erinnerung an die Stunde, wo man zum erstenmal auf knarrender, feuchter Treppe einer hinaufgefolgt war in ihr Bett – und plötzlich, als ob Blitz einen Nachthimmel zerteilt hätte, sah ich scharf jede Einzelheit jener vergessenen Stunde, den flachen Öldruck über dem Bett, das Amulett, das sie auf dem Halse trug, ich spürte jede Fiber von damals, die ungewisse Schwüle, den Ekel und den ersten Knabenstolz. All das wogte mir mit einem Male durch den Körper. Eine Hellsichtigkeit ohne Maß strömte plötzlich in mich ein, und – wie soll ich das sagen können, dies Unendliche! – ich verstand mit einemmal alles, was mich mit so brennendem Mitleid jenen verband, gerade weil sie der letzte Abschaum des Lebens waren, und mein von dem Verbrechen einmal angereizter Instinkt spürte von innen heraus dieses hungrige Lungern, das dem meinen in dieser phantastischen Nacht so ähnlich war, dies verbrecherische Offenstehn jeder Berührung, jeder fremden zufällig anstreifenden Lust. Magnetisch zog es mich hin, die Brieftasche mit dem gestohlenen Geld brannte plötzlich heiß über der Brust, wie ich da drüben endlich Wesen, Menschen, Weiches, Atmendes, Sprechendes spürte, das von andern Wesen, vielleicht auch von mir, etwas wollte, von mir, der nur wartete, sich wegzugeben, der verbrannte in seiner rasenden Willigkeit nach Menschen. Und mit einmal verstand ich, was Männer zu solchen Wesen treibt, verstand, daß es selten nur Hitze des Blutes ist, ein schwellender Kitzel ist, sondern meist bloß die Angst vor der Einsamkeit, vor der entsetzlichen Fremdheit, die sonst zwischen uns sich auftürmt und die mein entzündetes Gefühl heute zum erstenmal fühlte. Ich erinnerte mich, wann ich zum letztenmal dies dumpf empfunden: in England war es gewesen, in Manchester, einer jener stählernen Städte, die in einem lichtlosen Himmel von Lärm brausen wie eine Untergrundbahn und die doch gleichzeitig einen Frost von Einsamkeit haben, der durch die Poren bis ins Blut dringt. Drei Wochen hatte ich dort bei Verwandten gelebt, abends immer allein irrend durch Bars und Klubs und immer wieder in die glitzernde Musikhall, nur um etwas menschliche Wärme zu spüren. Und da eines Abends hatte ich so eine Person gefunden, deren Gassenenglisch ich kaum verstand, aber plötzlich war man in einem Zimmer, trank Lachen von einem fremden Mund, ein warmer Körper war da, irdisch nahe und weich. Plötzlich schmolz sie weg, die kalte schwarze Stadt, der finstere lärmende Raum von Einsamkeit, irgendein Wesen, das man nicht kannte, das nur dastand und wartete auf jeden, der kam, löste einen auf, ließ allen Trost wegtauen: man atmete wieder frei, spürte Leben in leichter Helligkeit inmitten des stählernen Kerkers. Wie wunderbar war das für die Einsamen, die Abgesperrten in sich selbst, dies zu wissen, dies zu ahnen, daß ihrer Angst immer doch irgendein Halt ist, sich festzuklammern an ihn, mag er auch überschmutzt sein von vielen Griffen, starrend von Alter, zerfressen von giftigem Rost. Und dies, gerade dies hatte ich vergessen in der Stunde der untersten Einsamkeit, aus der ich taumelnd aufstieg in dieser Nacht, daß irgendwo an einer letzten Ecke immer diese Letzten noch warten, jede Hingabe in sich aufzufangen, jede Verlassenheit an ihrem Atem ausruhen zu lassen, jede Hitze zu kühlen für ein kleines Stück Geld, das immer zu gering ist für das Ungeheure, das sie geben mit ihrem ewigen Bereitsein, mit dem großen Geschenk ihrer menschlichen Gegenwart.

Neben mir setzte dröhnend das Orchestrion des Karussells wieder ein. Es war die letzte Runde, die letzte Fanfare des kreisenden Lichts in das Dunkel hinaus, ehe der Sonntag in die dumpfe Woche verging. Aber niemand kam mehr, leer rannten die Pferde in ihrem irrsinnigen Kreis, schon scharrte und zählte an der Kasse die übermüdete Frau die Lösung des Tages zusammen, und der Laufbursche kam mit den Haken, bereit, nach dieser letzten Runde knatternd die Rolläden über die Bude herabzulassen. Nur ich, ich allein, stand noch immer da, an den Pfosten gelehnt, und sah hinaus auf den leeren Platz, wo nur diese fledermausflatternden Gestalten strichen, suchend wie ich, wartend wie ich, und doch den undurchdringlichen Raum von Fremdheit zwischeneinander. Aber jetzt mußte eine von ihnen mich bemerkt haben, denn sie schob sich langsam her, ganz nah sah ich sie unter dem gesenkten Blick: ein kleines, verkrüppeltes, rachitisches Wesen ohne Hut, mit einem geschmacklos aufgeputzten Fähnchen von Kleid, unter dem abgetragene Ballschuhe vorlugten, das Ganze wohl allmählich bei Hökerinnen oder einem Trödler zusammengekauft und seitdem verscheuert, zerdrückt vom Regen oder irgendwo bei einem schmutzigen Abenteuer im Gras. Sie schmeichelte sich heran, blieb neben mir stehen, den Blick wie eine Angel spitz herwerfend und ein einladendes Lächeln über den schlechten Zähnen. Mir blieb der Atem stocken. Ich konnte mich nicht rühren, nicht sie ansehen und doch mich nicht fortreißen: wie in einer Hypnose spürte ich, daß da ein Mensch um mich begehrlich herumstrich, jemand um mich warb, daß ich endlich diese gräßliche Einsamkeit, dies quälende Ausgestoßensein mit einem Wort, einer Geste bloß wegschleudern könnte. Aber ich vermochte mich nicht zu rühren, hölzern wie der Balken, an dem ich lehnte, und in einer Art wollüstiger Ohnmacht empfand ich nur immer – während die Melodie des Karussells schon müde wegtaumelte – die nahe Gegenwart, diesen Willen, der um mich warb, und schloß die Augen für einen Augenblick, um ganz dieses magnetische Angezogensein irgendeines Menschlichen aus dem Dunkel der Welt mich überfluten zu fühlen.

Das Karussell hielt inne, die walzernde Melodie erstickte mit einem letzten stöhnenden Laut. Ich schlug die Augen auf und sah gerade noch, wie die Gestalt neben mir sich wegwandte. Offenbar war es ihr zu langweilig, hier neben einem hölzern Dastehenden zu warten. Ich erschrak. Mir wurde plötzlich ganz kalt. Warum hatte ich sie fortgehen lassen, den einzigen Menschen dieser phantastischen Nacht, der mir entgegengekommen, der mir aufgetan war? Hinter mir löschten die Lichter, prasselnd knatterten die Rollbalken herab. Es war zu Ende. Und plötzlich – ach, wie mir selbst diesen heißen, diesen jäh aufspringenden Gischt schildern? – plötzlich – es kam so jäh, so heiß, so rot, als ob mir eine Ader in der Brust geplatzt wäre – plötzlich brach aus mir, dem stolzen, dem hochmütigen, ganz in kühler, gesellschaftlicher Würde verschanzten Menschen wie ein stummes Gebet, wie ein Krampf, wie ein Schrei, der kindische und mir doch so ungeheure Wunsch, diese kleine, schmutzige, rachitische Hure möchte nur noch einmal den Kopf wenden, damit ich zu ihr sprechen könnte. Denn ihr nachzugehen war ich nicht zu stolz – mein Stolz war zerstampft, zertreten, weggeschwemmt von ganz neuen Gefühlen –, aber zu schwach, zu ratlos. Und so stand ich da, zitternd und durchwühlt, hier allein an dem Marterpfosten der Dunkelheit, wartend wie ich nie gewartet hatte seit meinen Knabenjahren, wie ich nur einmal an einem abendlichen Fenster gestanden, als eine fremde Frau langsam sich auszukleiden begann und immer zögerte und verweilte in ihrer ahnungslosen Entblößung – ich stand, zu Gott aufschreiend mit irgendeiner mir selbst unbekannten Stimme um das Wunder, dieses krüppelige Ding, dieser letzte Abhub Menschheit möge es noch einmal mit mir versuchen, noch einmal den Blick rückwenden zu mir.

Und – sie wandte sich. Einmal noch, ganz mechanisch blickte sie zurück. Aber so stark mußte mein Aufzucken, das Vorspringen meines gespannten Gefühls in dem Blick gewesen sein, daß sie beobachtend stehen blieb. Sie wippte noch einmal halb herum, sah mich durch das Dunkel an, lächelte und winkte mit dem Kopf einladend hinüber gegen die verschattete Seite des Platzes. Und endlich fühlte ich den entsetzlichen Bann der Starre in mir weichen. Ich konnte mich wieder regen und nickte ihr bejahend zu.

Der unsichtbare Pakt war geschlossen. Nun ging sie voraus über den dämmerigen Platz, von Zeit zu Zeit sich umwendend, ob ich ihr nachkäme. Und ich folgte: das Blei war von meinen Knien gefallen, ich konnte wieder die Füße regen. Magnetisch stieß es mich nach, ich ging nicht bewußt, sondern strömte gleichsam, von geheimnisvoller Macht gezogen, hinter ihr her. Im Dunkel der Gasse zwischen den Buden verlangsamte sie den Schritt. Nun stand ich neben ihr.

Sie sah mich einige Sekunden an, prüfend und mißtrauisch: etwas machte sie unsicher. Offenbar war ihr mein seltsam scheues Dastehen, der Kontrast des Ortes und meiner Eleganz, irgendwie verdächtig. Sie blickte sich mehrmals um, zögerte. Dann sagte sie in die Verlängerung der Gasse deutend, die schwarz wie eine Bergwerksschlucht war: »Gehn wir dort hinüber. Hinter dem Zirkus ist es ganz dunkel.«

Ich konnte nicht antworten. Das entsetzlich Gemeine dieser Begegnung betäubte mich. Am liebsten hätte ich mich irgendwie losgerissen, mit einem Stück Geld, mit einer Ausrede freigekauft, aber mein Wille hatte keine Macht mehr über mich. Wie auf einer Rodel war mir, wenn man an einer Kurve schleudernd, mit rasender Geschwindigkeit einen steilen Schneehang hinabsaust und das Gefühl der Todesangst sich irgendwie wollüstig mit dem Rausch der Geschwindigkeit mengt und man, statt zu bremsen, sich mit einer taumelnden und doch bewußten Schwäche willenlos an den Sturz hingibt. Ich konnte nicht mehr zurück und wollte vielleicht gar nicht mehr, und jetzt, wie sie vertraulich sich an mich drückte, faßte ich unwillkürlich ihren Arm. Es war ein ganz magerer Arm, nicht der Arm einer Frau, sondern wie der eines zurückgebliebenen skrofulösen Kindes, und kaum daß ich ihn durch das dünne Mäntelchen fühlte, überkam mich mitten in dem gespannten Empfinden ein ganz weiches, flutendes Mitleid mit diesem erbärmlichen, zertretenen Stück Leben, das diese Nacht gegen mich gespült. Und unwillkürlich liebkosten meine Finger diese schwachen, kränklichen Gelenke so rein, so ehrfürchtig, wie ich noch nie eine Frau berührt. Wir überquerten eine matt erleuchtete Straße und traten in ein kleines Gehölz, wo wuchtige Baumkronen ein dumpfes, übelriechendes Dunkel fest zusammenhielten. In diesem Augenblick merkte ich, obwohl man kaum mehr einen Umriß bemerken konnte, daß sie ganz vorsichtig an meinem Arm sich umwandte und einige Schritte später noch ein zweitesmal. Und seltsam: während ich gleichsam in einer Betäubung in das schmutzige Abenteuer hinabglitt, waren doch meine Sinne furchtbar wach und funkelnd. Mit einer Hellsichtigkeit, der nichts entging, die jede Regung wissend bis in sich hineinriß, merkte ich, daß rückwärts am Saum des überquerten Pfades schattenhaft uns etwas nachglitt, und mir war es, als hörte ich einen schleichenden Schritt. Und plötzlich – wie ein Blitz eine Landschaft prasselnd weiß überspringt – ahnte, wußte ich alles: daß ich hier in eine Falle gelockt werden sollte, daß die Zuhälter dieser Hure hinter uns lauerten und sie mich im Dunkel an eine verabredete Stelle zog, wo ich ihre Beute werden sollte. Mit einer überirdischen Klarheit, wie sie nur die zusammengepreßten Sekunden zwischen Tod und Leben haben, sah ich alles, überlegte ich jede Möglichkeit. Noch war es Zeit zu entkommen, die Hauptstraße mußte nahe sein, denn ich hörte die elektrische Tramway dort auf den Schienen rattern, ein Schrei, ein Pfiff konnte Leute herbeirufen: in scharf umrissenen Bildern zuckten alle Möglichkeiten der Flucht, der Rettung in mir auf.

Aber seltsam – diese aufschreckende Erkenntnis kühlte nicht, sondern hitzte nur. Ich kann mir heute in einem wachen Augenblick, im klaren Licht eines herbstlichen Tages das Absurde meines Tuns selbst nicht ganz erklären: ich wußte, wußte sofort mit jeder Fiber meines Wesens, daß ich unnötig in eine Gefahr ging, aber wie ein feiner Wahnsinn rieselte mir das Vorgefühl durch die Nerven. Ich wußte ein Widerliches, vielleicht Tödliches voraus, ich zitterte vor Ekel, hier irgendwie in ein Verbrechen, in ein gemeines, schmutziges Erleben gedrängt zu sein, aber gerade für die nie gekannte, nie geahnte Lebenstrunkenheit, die mich betäubend überströmte, war selbst der Tod noch eine finstere Neugier. Etwas – war es Scham, die Furcht zu zeigen, oder eine Schwäche? – stieß mich vorwärts. Es reizte mich, in die letzte Kloake des Lebens hinabzusteigen, in einem einzigen Tage meine ganze Vergangenheit zu verspielen und zu verprassen, eine verwegene Wollust des Geistes mengte sich der gemeinen dieses Abenteuers. Und obwohl ich mit allen meinen Nerven die Gefahr witterte, sie mit meinen Sinnen, meinem Verstand klarsichtig begriff, ging ich trotzdem weiter hinein in das Gehölz am Arm dieser schmutzigen Praterdirne, die mich körperlich mehr abstieß als lockte und von der ich wußte, daß sie mich nur für ihre Spießgesellen herzog. Aber ich konnte nicht zurück. Die Schwerkraft des Verbrecherischen, die sich nachmittags im Abenteuer auf dem Rennplatze an mich gehangen, riß mich weiter und weiter hinab. Und ich spürte nur mehr die Betäubung, den wirbeligen Taumel des Sturzes in neue Tiefen hinab und vielleicht in die letzte: in den Tod.

Nach ein paar Schritten blieb sie stehen. Wieder flog ihr Blick unsicher herum. Dann sah sie mich wartend an: »Na – und was schenkst du mir?«

Ach so. Das hatte ich vergessen. Aber die Frage ernüchterte mich nicht. Im Gegenteil. Ich war ja so froh, schenken, geben, mich verschwenden zu dürfen. Hastig griff ich in die Tasche, schüttete alles Silber und ein paar zerknüllte Banknoten ihr in die aufgetane Hand. Und nun geschah etwas so Wunderbares, daß mir heute noch das Blut warm wird, wenn ich daran denke: entweder war diese arme Person überrascht von der Höhe der Summe – sie war sonst nur kleine Münze gewohnt für ihren schmutzigen Dienst –, oder in der Art meines Gebens, des freudigen, raschen, fast beglückten Gebens mußte etwas ihr Ungewohntes, etwas Neues sein, denn sie trat zurück, und durch das dicke, übelriechende Dunkel spürte ich, wie ihr Blick mit einem großen Erstaunen mich suchte. Und ich empfand endlich das lang Entbehrte dieses Abends: jemand fragte nach mir, jemand suchte mich, zum erstenmal lebte ich für irgend jemanden dieser Welt. Und daß gerade diese Ausgestoßenste, dieses Wesen, das ihren armen verbrauchten Körper durch die Dunkelheit wie eine Ware trug und die, ohne den Käufer auch nur anzusehen, sich an mich gedrängt, nun die Augen aufschlug zu den meinen, daß sie nach dem Menschen in mir fragte, das steigerte nur meine merkwürdige Trunkenheit, die hellsichtig war und taumelnd zugleich, wissend und aufgelöst in eine magische Dumpfheit. Und schon drängte dieses fremde Wesen sich näher an mich, aber nicht in geschäftsmäßiger Erfüllung bezahlter Pflicht, sondern ich meinte, irgend etwas unbewußt Dankbares, einen weibhaften Willen zur Annäherung darin zu spüren. Ich faßte leise ihren Arm an, den magern rachitischen Kinderarm, empfand ihren kleinen verkrüppelten Körper und sah plötzlich über all das hinaus ihr ganzes Leben: die geliehene schmierige Bettstelle in einem Vorstadthof, wo sie von morgens bis mittags schlief zwischen einem Gewürm fremder Kinder, ich sah ihren Zuhälter, der sie würgte, die Trunkenen, die sich im Dunkel rülpsend über sie warfen, die gewisse Abteilung im Krankenhaus, in die man sie brachte, den Hörsaal, wo man ihren abgeschundenen Leib nackt und krank jungen frechen Studenten als Lehrobjekt hinhielt, und dann das Ende irgendwo in einer Heimatsgemeinde, in die man sie per Schub abgeladen und wo man sie verrecken ließ wie ein Tier. Unendliches Mitleid mit ihr, mit allen überkam mich, irgend etwas Warmes, das Zärtlichkeit war und doch keine Sinnlichkeit. Immer wieder strich ich ihr über den kleinen magern Arm. Und dann beugte ich mich nieder und küßte die Erstaunte.

In diesem Augenblick raschelte es hinter mir. Ein Ast knackte. Ich sprang zurück. Und schon lachte eine breite, ordinäre Männerstimme. »Da haben mirs. Ich hab mirs ja gleich gedacht.«

Noch ehe ich sie sah, wußte ich, wer sie waren. Nicht eine Sekunde hatte ich inmitten all meiner dumpfen Betäubung daran vergessen, daß ich umlauert war, ja meine geheimnisvolle wache Neugier hatte sie erwartet. Eine Gestalt schob sich jetzt vor aus dem Gebüsch und hinter ihr eine zweite: verwilderte Burschen, frech aufgepflanzt. Wieder kam das ordinäre Lachen. »So eine Gemeinheit, da Schweinereien zu treiben. Natürlich ein feiner Herr! Den werden wir aber jetzt Hopp nehmen.« Ich stand reglos. Das Blut tickte mir an die Schläfen. Ich empfand keine Angst. Ich wartete nur, was geschehen sollte. Jetzt war ich endlich in der Tiefe, im letzten Abgrund des Gemeinen. Jetzt mußte der Aufschlag kommen, das Zerschellen, das Ende, dem ich halbwissend entgegengetrieben.

Das Mädel war von mir weggesprungen, aber doch nicht zu ihnen hinüber. Sie stand irgendwie in der Mitte: anscheinend war ihr der vorbereitete Überfall doch nicht ganz angenehm. Die Burschen wiederum waren ärgerlich, daß ich mich nicht rührte. Sie sahen einander an, offenbar erwarteten sie von mir einen Widerspruch, eine Bitte, irgendeine Angst. »Aha, er sagt nix‘, rief schließlich drohend der eine. Und der andere trat auf mich zu und sagte befehlend: »Sie müssen mit aufs Kommissariat.«

Ich antwortete noch immer nichts. Da legte mir der eine den Arm auf die Schulter und stieß mich leicht vor. »Vorwärts«, sagte er.

Ich ging. Ich wehrte mich nicht, weil ich mich nicht wehren wollte: das Unerhörte, das Gemeine, das Gefährliche der Situation betäubte mich. Mein Gehirn blieb ganz wach; ich wußte, daß die Burschen die Polizei mehr fürchten mußten als ich, daß ich mich loskaufen konnte mit ein paar Kronen, – aber ich wollte ganz die Tiefe des Gräßlichen auskosten, ich genoß die grausige Erniedrigung der Situation in einer Art wissender Ohnmacht. Ohne Hast, ganz mechanisch ging ich in die Richtung, in die sie mich gestoßen hatten.

Aber gerade das, daß ich so wortlos, so geduldig dem Licht zuging, schien die Burschen zu verwirren. Sie zischelten leise. Dann fingen sie wieder an, absichtlich laut miteinander zu reden. »Laß ihn laufen«, sagte der eine (ein pockennarbiger kleiner Kerl); aber der andere erwiderte, scheinbar streng: »Nein, das geht nicht. Wenn das ein armer Teufel tut wie wir, der nix zum Fressen hat, dann wird er eingelocht. Aber so ein feiner Herr – da muß a Straf sein.« Und ich hörte jedes Wort und hörte darin ihre ungeschickte Bitte, ich möchte beginnen, mit ihnen zu verhandeln, der Verbrecher in mir verstand den Verbrecher in ihnen, verstand, daß sie mich quälen wollten mit Angst und ich sie quälte mit meiner Nachgiebigkeit. Es war ein stummer Kampf zwischen uns beiden, und – o wie reich war diese Nacht! – ich fühlte inmitten tödlicher Gefahr, hier mitten im stinkenden Dickicht der Praterwiese, zwischen Strolchen und einer Dirne, zum zweitenmal seit zwölf Stunden den rasenden Zauber des Spiels, nun aber um den höchsten Einsatz, um meine ganze bürgerliche Existenz, ja um mein Leben. Und ich gab mich diesem ungeheuren Spiel, der funkelnden Magie des Zufalls mit der ganzen gespannten, bis zum Zerreißen gespannten Kraft meiner zitternden Nerven hin.

»Aha, dort ist schon der Wachmann,« sagte hinter mir die eine Stimme, »da wird er sich nicht zu freuen haben, der feine Herr, eine Wochen wird er schon sitzen.« Es sollte böse klingen und drohend, aber ich hörte die stockende Unsicherheit. Ruhig ging ich dem Lichtschein zu, wo tatsächlich die Pickelhaube eines Schutzmannes glänzte. Zwanzig Schritte noch, dann mußte ich vor ihm stehen. Hinter mir hatten die Burschen aufgehört zu reden; ich merkte, wie sie langsamer gingen; im nächsten Augenblick mußten sie, ich wußte es, feig zurücktauchen in das Dunkel, in ihre Welt, erbittert über den mißlungenen Streich, und ihren Zorn vielleicht an der Armseligen auslassen. Das Spiel war zu Ende: wiederum, zum zweitenmal, hatte ich heute gewonnen, wiederum einen andern fremden, unbekannten Menschen um seine böse Lust geprellt. Schon flackerte von drüben der bleiche Kreis der Laternen, und als ich mich jetzt umwandte, sah ich zum erstenmal in die Gesichter der beiden Burschen: Erbitterung war und eine geduckte Beschämung in ihren unsichern Augen. Sie blieben stehen in einer gedrückten, enttäuschten Art, bereit, ins Dunkel zurückzuspringen. Denn ihre Macht war vorüber: nun war ich es, den sie fürchteten.

In diesem Augenblick überkam mich plötzlich – und es war, als ob die innere Gärung alle Dauben in meiner Brust plötzlich sprengte und heiß das Gefühl in mein Blut überliefe – ein so unendliches, ein brüderliches Mitleid mit diesen beiden Menschen. Was hatten sie denn begehrt von mir, sie, die armen hungernden, zerfetzten Burschen, von mir, dem Übersatten, dem Parasiten: ein paar Kronen, ein paar elende Kronen. Sie hätten mich würgen können dort im Dunkel, mich berauben, mich töten, und hatten es nicht getan, hatten nur in einer ungeübten, ungeschickten Art versucht, mich zu schrecken um dieser kleinen Silbermünzen willen, die mir lose in der Tasche lagen. Wie konnte ich es da wagen, ich, der Dieb aus Laune, aus Frechheit, der Verbrecher aus Nervenlust, sie, diese armen Teufel, noch zu quälen? Und in mein unendliches Mitleid strömte unendliche Scham, daß ich mit ihrer Angst, mit ihrer Ungeduld um meiner Wollust willen noch gespielt. Ich raffte mich zusammen: jetzt, gerade jetzt, da ich gesichert war, da schon das Licht der nahen Straße mich schützte, jetzt mußte ich ihnen zuwillen sein, die Enttäuschung auslöschen in diesen bittern, hungrigen Blicken.

Mit einer plötzlichen Wendung trat ich auf den einen zu. »Warum wollen Sie mich anzeigen?« sagte ich und mühte mich, in meine Stimme einen gepreßten Atem von Angst zu quälen. »Was haben Sie davon? Vielleicht werde ich eingesperrt, vielleicht auch nicht. Aber Ihnen bringt es doch keinen Nutzen. Warum wollen Sie mir mein Leben verderben?«

Die beiden starrten verlegen. Sie hatten alles erwartet jetzt, einen Anschrei, eine Drohung, unter der sie wie knurrende Hunde sich weggedrückt hätten, nur nicht diese Nachgiebigkeit. Endlich sagte der eine, aber gar nicht drohend, sondern gleichsam entschuldigend: »Gerechtigkeit muß sein. Wir tun nur unsere Pflicht.«

Es war offenbar eingelernt für solche Fälle. Und doch klang es irgendwie falsch. Keiner von beiden wagte mich anzusehen. Sie warteten. Und ich wußte, worauf sie warteten. Daß ich betteln würde um Gnade. Und daß ich ihnen Geld bieten würde.

Ich weiß noch alles aus jenen Sekunden. Ich weiß jeden Nerv, der sich in mir regte, jeden Gedanken, der hinter der Schläfe zuckte. Und ich weiß, was mein böses Gefühl damals zuerst wollte: sie warten lassen, sie noch länger quälen, die Wollust des Wartenlassens auskosten. Aber ich zwang mich rasch, ich bettelte, weil ich wußte, daß ich die Angst dieser beiden endlich erlösen mußte. Ich begann eine Komödie der Furcht zu spielen, bat sie um Mitleid, sie möchten schweigen, mich nicht unglücklich machen. Ich merkte, wie sie verlegen wurden, diese armen Dilettanten der Erpressung, und wie das Schweigen gleichsam weicher zwischen uns stand.

Und da sagte ich endlich, endlich das Wort, nach dem sie so lange lechzten. »Ich … ich gebe Ihnen … hundert Kronen.«

Alle drei fuhren auf und sahen sich an. So viel hatten sie nicht mehr erwartet, jetzt, da doch alles für sie verloren war. Endlich faßte sich der eine, der Pockennarbige mit dem unruhigen Blick. Zweimal setzte er an. Es ging ihm nicht aus der Kehle. Dann sagte er – und ich spürte, wie er sich schämte dabei: »Zweihundert Kronen.«

»Aber hörts auf«, mengte sich jetzt plötzlich das Mädchen ein. »Ihr könnts froh sein, wenn er euch überhaupt etwas gibt. Er hat ja gar nix getan, kaum daß er mich angerührt hat. Das ist wirklich zu stark.«

Wirklich erbittert schrie sie’s ihnen entgegen. Und mir klang das Herz. Jemand hatte Mitleid mit mir, jemand sprach für mich, aus dem Gemeinen stieg Güte, irgendein dunkles Begehren nach Gerechtigkeit aus einer Erpressung. Wie das wohltat, wie das Antwort gab auf den Aufschwall in mir! Nein, nur jetzt nicht länger spielen mit den Menschen, nicht sie quälen in ihrer Angst, in ihrer Scham: genug! genug!

»Gut, also zweihundert Kronen.«

Sie schwiegen alle drei. Ich nahm die Brieftasche heraus. Ganz langsam, ganz offen bog ich sie auf in der Hand. Mit einem Griff hätten sie mir sie wegreißen können und in das Dunkel hinein flüchten. Aber sie sahen scheu weg. Es war zwischen ihnen und mir irgendein geheimes Gebundensein, nicht mehr Kampf und Spiel, sondern ein Zustand des Rechts, des Vertrauens, eine menschliche Beziehung. Ich blätterte die beiden Noten aus dem gestohlenen Pack und reichte sie dem einen hin.

»Danke schön«, sagte er unwillkürlich und wandte sich schon weg. Offenbar spürte er selbst das Lächerliche, zu danken für ein erpreßtes Geld. Er schämte sich, und diese seine Scham – oh, alles fühlte ich ja in dieser Nacht, jede Geste schloß sich mir auf! – bedrückte mich. Ich wollte nicht, daß sich ein Mensch vor mir schäme, vor mir, der ich seinesgleichen war, Dieb wie er, schwach, feige und willenlos wie er. Seine Demütigung quälte mich, und ich wollte sie ihm wegnehmen. So wehrte ich seinem Dank.

»Ich habe Ihnen zu danken«, sagte ich und wunderte mich selbst, wieviel wahrhaftige Herzlichkeit aus meiner Stimme sprang. »Wenn Sie mich angezeigt hätten, wäre ich verloren gewesen. Ich hätte mich erschießen müssen, und Sie hätten nichts davon gehabt. Es ist besser so. Ich gehe jetzt da rechts hinüber und Sie vielleicht dort auf die andere Seite. Gute Nacht.«

Sie schwiegen wieder einen Augenblick. Dann sagte der eine »Gute Nacht«, dann der andere, zuletzt die Hure, die ganz im Dunkel geblieben. Ganz warm klang es, ganz herzlich wie ein wirklicher Wunsch. An ihren Stimmen fühlte ich, sie hatten mich irgendwo tief im Dunkel ihres Wesens lieb, sie würden diese sonderbare Sekunde nie vergessen. Im Zuchthaus oder im Spital würde sie ihnen vielleicht wieder einmal einfallen: etwas von mir lebte fort in ihnen, ich hatte ihnen etwas gegeben. Und dieses Gebens Lust erfüllte mich wie noch nie ein Gefühl.

Ich ging allein durch die Nacht dem Ausgang des Praters zu. Alles Gepreßte war von mir gefallen, ich fühlte, wie ich ausströmte in nie gekannter Fülle, ich, der Verschollene, in die ganze unendliche Welt hinein. Alles empfand ich, als lebte es nur für mich allein und mich wieder mit allem strömend verbunden. Schwarz umstanden mich die Bäume, sie rauschten mir zu, und ich liebte sie. Sterne glänzten von oben nieder, und ich atmete ihren weißen Gruß. Stimmen kamen singend von irgendwoher, und mir war, sie sängen für mich. Alles gehörte mir mit einem Male, seit ich die Rinde um meine Brust zerstoßen, und Freude des Hingebens, des Verschwendens schwellte mich allem zu. O wie leicht ist es, fühlte ich, Freude zu machen und selbst froh zu werden aus der Freude: man braucht sich nur aufzutun, und schon fließt von Mensch zu Menschen der lebendige Strom, stürzt vom Hohen zum Niedern, schäumt von der Tiefe wieder ins Unendliche empor.

Am Ausgang des Praters neben einem Wagenstandplatz sah ich eine Hökerin, müde, gebückt über ihren kleinen Kram. Bäckereien hatte sie, überschimmelt von Staub, und ein paar Früchte, seit Morgen saß sie wohl so da, gebückt über die paar Heller, und die Müdigkeit knickte sie ein. Warum sollst du dich nicht auch freuen, dachte ich, wenn ich mich freue? Ich nahm ein kleines Stück Zuckerbrot und legte ihr einen Schein hin. Sie wollte eilfertig wechseln, aber schon ging ich weiter und sah nur, wie sie erschrak vor Glück, wie die zerknitterte Gestalt sich plötzlich straffte und nur der im Staunen erstarrte Mund mir tausend Wünsche nachsprudelte. Das Brot zwischen den Fingern trat ich zu dem Pferde, das müde an der Deichsel hing, aber nun wandte es sich her und schnaubte mir freundlich zu. Auch in seinem dumpfen Blick war Dank, daß ich seine rosa Nüster streichelte und ihm das Brot hinreichte. Und kaum daß ichs getan, begehrte ich nach mehr: noch mehr Freude zu machen, noch mehr zu spüren, wie man mit ein paar Silberstücken, mit ein paar farbigen Zetteln Angst auslöschen, Sorge töten, Heiterkeit aufzünden konnte. Warum waren keine Bettler da? Warum keine Kinder, die von den Ballons haben wollten, die dort ein mürrischer, weißhaariger Hinkfuß in dicken Bündeln an vielen Fäden nach Hause stelzte, enttäuscht über das schlechte Geschäft des langen heißen Tages. Ich ging auf ihn zu. »Geben Sie mir die Ballons.« »Zehn Heller das Stück«, sagte er mißtrauisch, denn was wollte dieser elegante Müßiggänger jetzt mitternachts mit den farbigen Ballons? »Geben Sie mir alle«, sagte ich und gab ihm einen Zehnkronenschein. Er torkelte auf, sah mich wie geblendet an, dann gab er mir zitternd die Schnur, die das ganze Bündel hielt. Straff fühlte ich es an dem Finger ziehn: sie wollten weg, wollten frei sein, wollten hinauf in den Himmel hinein. So geht, fliegt, wohin ihr begehrt, seid frei! Ich ließ die Schnüre los, und wie viele bunte Monde stiegen sie plötzlich auf. Von allen Seiten liefen die Leute her und lachten, aus dem Dunkel kamen die Verliebten, die Kutscher knallten mit den Peitschen und zeigten sich gegenseitig rufend mit den Fingern, wie jetzt die freien Kugeln über die Bäume hin zu den Häusern und Dächern trieben. Alles sah sich fröhlich an und hatte seinen Spaß mit meiner seligen Torheit.

Warum hatte ich das nie und nie gewußt, wie leicht es ist und wie gut, Freude zu geben! Mit einem Male brannten die Banknoten wieder in der Brieftasche, sie zuckten mir in den Fingern so wie vordem die Schnüre der Ballons: auch sie wollten wegfliegen von mir ins Unbekannte hinein. Und ich nahm sie, die gestohlenen des Lajos und die eigenen – denn nichts empfand ich mehr davon als Unterschied oder Schuld – zwischen die Finger, bereit, sie jedem hinzustreuen, der eine wollte. Ich ging hinüber zu einem Straßenkehrer, der verdrossen die verlassene Praterstraße fegte. Er meinte, ich wolle ihn nach irgendeiner Gasse fragen und sah mürrisch auf: ich lachte ihn an und hielt ihm einen Zwanzigkronenschein hin. Er starrte, ohne zu begreifen, dann nahm er ihn endlich und wartete, was ich von ihm fordern würde. Ich aber lachte ihm nur zu, sagte: »Kauf dir was Gutes dafür«, und ging weiter. Immer sah ich nach allen Seiten, ob nicht jemand etwas von mir begehrte, und da niemand kam, bot ich an: einer Hure, die mich ansprach, schenkte ich einen Schein, zwei einem Laternenanzünder, einen warf ich in die offene Luke einer Backstube im Untergeschoß, und ging so, ein Kielwasser von Staunen, Dank, Freude hinter mir, weiter und weiter. Schließlich warf ich sie einzeln und zerknüllt ins Leere auf die Straße, auf die Stufen einer Kirche und freute mich an dem Gedanken, wie das Hutzelweibchen bei der Morgenandacht die hundert Kronen finden und Gott segnen, ein armer Student, ein Mädel, ein Arbeiter das Geld staunend und doch beglückt auf ihrem Weg entdecken würden, sowie ich selbst staunend und beglückt in dieser Nacht mich selber entdeckt.

Ich könnte nicht mehr sagen, wo und wie ich sie alle verstreute, die Banknoten und schließlich auch mein Silbergeld. Es war irgendein Taumel in mir, ein sich Ergießen wie in eine Frau, und als die letzten Blätter weggeflattert waren, fühlte ich Leichtigkeit, als ob ich hätte fliegen können, eine Freiheit, die ich nie gekannt. Die Straße, der Himmel, die Häuser, alles flutete mir ineinander in einem ganz neuen Gefühl des Besitzes, des Zusammengehörens: nie und auch in den heißesten Sekunden meiner Existenz hatte ich so stark empfunden, daß alle diese Dinge wirklich vorhanden waren, daß sie lebten und daß ich lebte und daß ihr Leben und das meine ganz das gleiche waren, eben das große, das gewaltige, das nie genug beglückt gefühlte Leben, das nur die Liebe begreift, nur der Hingegebene umfaßt.

Dann kam noch ein letzter dunkler Augenblick, und das war, als ich, selig heimgewandert, den Schlüssel in meine Türe drückte und der Gang zu meinen Zimmern schwarz sich auftat. Da stürzte plötzlich Angst über mich, ich ginge jetzt in mein altes früheres Leben zurück, wenn ich die Wohnung dessen betrete, der ich bis zu dieser Stunde gewesen, mich in sein Bett legte, wenn ich die Verknüpfung mit all dem wieder aufnahm, was diese Nacht so schön gelöst. Nein, nur nicht mehr dieser Mensch werden, der ich war, nicht mehr der korrekte, fühllose, weltabgelöste Gentleman von gestern und einst, lieber hinabstürzen in alle Tiefen des Verbrechens und des Grauens, aber doch in die Wirklichkeit des Lebens! Ich war müde, unsagbar müde, und doch fürchtete ich mich, der Schlaf möchte über mir zusammenschlagen und all das Heiße, das Glühende, das Lebendige, das diese Nacht in mir entzündet, wieder wegschwemmen mit seinem schwarzen Schlamm, und dies ganze Erlebnis möge so flüchtig und unverhaftet gewesen sein wie ein phantastischer Traum.

Aber ich ward heiter wach in einen neuen Morgen am nächsten Tage, und nichts war verronnen von dem dankbar strömenden Gefühl. Seitdem sind nun vier Monate vergangen, und die Starre von einst ist nicht wiedergekehrt, ich blühe noch immer warm in den Tag hinein. Jene magische Trunkenheit von damals, da ich plötzlich den Boden meiner Welt unter den Füßen verlor, ins Unbekannte stürzte und bei diesem Sturz in den eigenen Abgrund den Taumel der Geschwindigkeit gleichzeitig mit der Tiefe des ganzen Lebens berauscht gemengt empfand, – diese fliegende Hitze, sie freilich ist dahin, aber ich spüre seit jener Stunde mein eigenes warmes Blut mit jedem Atemzuge und spüre es mit täglich erneuter Wollust des Lebens. Ich weiß, daß ich ein anderer Mensch geworden bin mit anderen Sinnen, anderer Reizbarkeit und stärkerer Bewußtheit. Selbstverständlich wage ich nicht zu behaupten, ich sei ein besserer Mensch geworden: ich weiß nur, daß ich ein glücklicherer bin, weil ich irgendeinen Sinn für mein ganz ausgekühltes Leben gefunden habe, einen Sinn, für den ich kein Wort finde als eben das Wort Leben selbst. Seitdem verbiete ich mir nichts mehr, weil ich die Normen und Formen meiner Gesellschaft als wesenlos empfinde, ich schäme mich weder vor andern noch vor mir selbst. Worte wie Ehre, Verbrechen, Laster haben plötzlich einen kalten, blechernen Klangton bekommen, ich vermag sie ohne Grauen gar nicht auszusprechen. Ich lebe, indem ich mich leben lasse von der Macht, die ich damals zum erstenmal so magisch gespürt. Wohin sie mich treibt, frage ich nicht: vielleicht einem neuen Abgrund entgegen, in das hinein, was die andern Laster nennen, oder einem ganz Erhabenen zu. Ich weiß es nicht und will es nicht wissen. Denn ich glaube, daß nur der wahrhaft lebt, der sein Schicksal als ein Geheimnis lebt.

Nie aber habe ich – dessen bin ich gewiß – das Leben inbrünstiger geliebt, und ich weiß jetzt, daß jeder ein Verbrechen tut (das einzige, das es gibt!), der gleichgültig ist gegen irgendeine seiner Formen und Gestalten. Seitdem ich mich selbst zu verstehen begann, verstehe ich unendlich viel anderes auch: der Blick eines gierigen Menschen vor einer Auslage kann mich erschüttern, die Kapriole eines Hundes mich begeistern. Ich achte mit einemmal auf alles, nichts ist mir gleichgültig. Ich lese in der Zeitung (die ich sonst nur auf Vergnügungen und Auktionen durchblätterte) täglich hundert Dinge, die mich erregen, Bücher, die mich langweilten, tun sich mir plötzlich auf. Und das merkwürdigste ist: ich kann auf einmal mit Menschen auch außerhalb dessen, was man Konversation nennt, sprechen. Mein Diener, den ich seit sieben Jahren habe, interessiert mich, ich unterhalte mich oft mit ihm, der Hausmeister, an dem ich sonst wie an einem beweglichen Pfeiler achtlos vorüberging, hat mir jüngst vom Tod seines Töchterchens erzählt, und es hat mich mehr ergriffen als die Tragödien Shakespeares. Und diese Verwandlung scheint – obzwar ich, um mich nicht zu verraten, mein Leben innerhalb der Kreise gesitteter Langweile äußerlich fortsetze – allmählich transparent zu werden. Manche Menschen sind mit einemmal herzlich mit mir, zum drittenmal in dieser Woche liefen mir fremde Hunde auf der Straße zu. Und Freunde sagen mir wie zu einem, der eine Krankheit überstanden hat, mit einer gewissen Freudigkeit, sie fänden mich verjüngt.

Verjüngt? Ich allein weiß ja, daß ich erst jetzt wirklich zu leben beginne. Nun ist dies wohl ein allgemeiner Wahn, daß jeder vermeint, alles Vergangene sei immer nur Irrtum und Vorbereitung gewesen, und ich verstehe wohl die eigene Anmaßung, eine kalte Feder in die warme lebendige Hand zu nehmen und auf einem trockenen Papier sich hinzuschreiben, man lebe wirklich. Aber sei es auch ein Wahn – er ist der erste, der mich beglückt, der erste, der mir das Blut gewärmt und mir die Sinne aufgetan. Und wenn ich mir das Wunder meiner Erweckung hier aufzeichne, so tue ich es doch nur für mich allein, der all dies tiefer weiß, als die eigenen Worte es ihm zu sagen vermögen. Gesprochen habe ich zu keinem Freunde davon; sie ahnten nie, wie abgestorben ich schon gewesen, sie werden nie ahnen, wie blühend ich nun bin. Und sollte mitten in dies mein lebendiges Leben der Tod fahren und diese Zeilen je in eines andern Hände fallen, so schreckt und quält mich diese Möglichkeit durchaus nicht. Denn wem die Magie einer solchen Stunde nie bewußt geworden, wird ebensowenig verstehen, als ich es selbst vor einem halben Jahre hätte verstehen können, daß ein paar dermaßen flüchtige und scheinbar kaum verbundene Episoden eines einzigen Abends ein schon verloschenes Schicksal so magisch entzünden konnten. Vor ihm schäme ich mich nicht, denn er versteht mich nicht. Wer aber um das Verbundene weiß, der richtet nicht und hat keinen Stolz. Vor ihm schäme ich mich nicht, denn er versteht mich. Wer einmal sich selbst gefunden, kann nichts auf dieser Welt mehr verlieren. Und wer einmal den Menschen in sich begriffen, der begreift alle Menschen.

 

 

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