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TTT: Böll, sanfter Rebell – Literarisches Sentiment versus blasser Theaterseele     

04.07.2023 | Themen Kultur

TTT: Böll, sanfter Rebell – Literarisches Sentiment versus blasser Theaterseele     

böllt

 

Alternativen zur fehlenden Gefühlstiefe der Inszenierungsmiseren im Musiktheater!

Miseren beschrieben in: „Mainstream + Usus + Affektives“ https://onlinemerker.com/ttt-mainstream-usus-affektives-literarisches-sentiment-versus-blasser-theaterseele-alternativen-zur-fehlenden-gefuehlstiefe-der-inszenierungsmiseren-im-musiktheater/

 Bild 2 v. l.: beide Beine, linker Arm blieben im Krieg, 22-jähriger Sanitäter, Ostukraine                                                                                                                                                                   

 Zum „Einschwingen“ möglicher Empfindungen rate ich zunächst zu „Wanderer, kommst du nach Spa … “ … von  jungem Schwerverwundeten im Zweiten Weltkrieg, auf einer Trage im inneren Monolog, bis er erkennt …  s. Bild 2,  Anhang,  ca. 15 Min.

Heinrich Theodor Böll (* 1917  † 1985 )  gilt als einer der bedeutendsten Autoren der Nachkriegszeit   https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_B%C3%B6ll

 Heinrich Böll ist einer der bedeutendsten und bekanntesten Schriftsteller der Bundesrepublik Deutschland. Für seine Romane und Erzählungen erhält er 1972 den Nobelpreis für Literatur. In seinen Romanen, Kurzgeschichten, Hörspielen und zahlreichen politischen Essays reflektiert er die junge Bundesrepublik kritisch und setzt sich weltweit für die Menschenrechte und eine Völkerverständigung ein. Zu seinen wichtigsten Werken gehören u.a. „Das Brot der frühen Jahre“, „Billard um Halbzehn“, „Ansichten eines Clowns“, „Gruppenbild mit Dame“, „Frauen vor Flußlandschaft“ und das „Irische Tagebuch“. 1974 erscheint Bölls bis heute wohl bekanntestes Werk, „Die verlorene Ehre der Katharina Blum„, das die Gewaltdebatte der 1970er-Jahre darstellt und sich besonders kritisch mit der Springer-Presse auseinandersetzt. Die Erzählung wird in über 30 Sprachen übersetzt und von Volker Schlöndorff verfilmt. 1985 verstirbt Böll in Kreuzau – Langenbroich.  https://www.muenchner-volkstheater.de/menschen/autor-innen/heinrich-boell

Heinrich Böll – youtube

In Ausschnitten aus Fernsehinterviews, die zwischen 1967 und 1979 aufgezeichnet wurden, legt Heinrich Böll dar, warum er Respekt vor den Menschen hat, nicht aber vor den Hierarchien der bürgerlichen Gesellschaft. Er nimmt Stellung zum Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit, zur Politik nach dem Zweiten Weltkrieg, erklärt, was die katholische Kirche für ihn bedeutet und was ihn stört (2011).

https://www.youtube.com/watch?v=ZhWXP-PTLHY    14,16 Min.

Marcel Reich-Ranicki, 1920/2013,  einflussreichster deutschsprachiger Literaturkritiker seiner Zeit über Heinrich Böll (1987) „… ein aufrichtiger Mann, … mehr als ein Schriftsteller!“  

https://www.youtube.com/watch?v=FnM_CdlVTi4  6,27 Min.

 Bölls Zitate bleiben nach einem halben Jahrhundert trübe Spiegelungen auch unserer Epoche,   initiierend, „den ganzen Böll wieder zu verschlingen“:

 Kann es denn rassistisch sein, wenn ich es nicht rassistisch meine?

 https://heimatkunde.boell.de/de/2012/06/18/kann-es-denn-rassistisch-sein-wenn-ich-es-nicht-rassistisch-meine-weisssein-theater-und

Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben.

Freiheit wird nie geschenkt, immer nur gewonnen.

Das Wirkliche liegt immer ein wenig weiter als das Aktuelle.

Die Wirklichkeit wird uns nie geschenkt, sie, sie erfordert unsere aktive, nicht unsere passive Aufmerksamkeit.

 Es wird so leicht dahin gesagt, Zahlen sprächen für sich. Große Zahlen verdecken eher, als dass sie offenbaren. Wenn es um Menschenleben geht, ist es immer noch die Ziffer und die Zahl eins, die uns nahegeht. Große Zahlen erleichtern dem Zeitgenossen seine Gleichgültigkeit: Millionen ermordet, Millionen als Soldaten, Millionen als Flüchtlinge auf den Landstraßen gestorben.

 Ich bin der Meinung, dass man Menschenleben retten soll, wo man sie retten kann. Und keine Institution, die Leben zu retten vermag, darf auf offener See Selektion betreiben. Das hieße ja, Menschen willkürlich zum Tode zu verurteilen.

 Es wird uns eingeredet, dass Mitleiden in den Bereich der Sentimentalität gehört.

Das ist eine Lüge. Mitleiden ist eine ungeheure Kraft, eine große Energie, und auch eine schöpferische Phantasie gehört zum Mitleiden. (s. blasse Theaterseele!)

 Auch unsere Phantasie ist wirklich. (s. blasse Theaterseele!)

 Ich habe den Eindruck, dass man uns einreden will, die Zeit der Humanität sei vorbei, die Zeit des Mitleidens sei vorbei. Harte Herzen brechen leichter als mitleidige Herzen, die eine große Kraft haben. (so wäre dann mangelndes Sentiment am Theater gewollt, programmatisch?)

 Wir geben uns zu wenig Rechenschaft darüber, wie viel Enttäuschung wir anderen bereiten.

 Es gibt also nicht nur Gewalt auf den Straßen, Gewalt in Bomben, Pistolen, Knüppeln und Steinen, es gibt auch Gewalt und Gewalten, die auf der Bank liegen und an den Börsen hoch gehandelt werden.

 Geld hat kein Herz.

 Hinter dem schönen, aus dem Bereich des Organischen entliehenen Begriff Wachstum steht eine unerbittliche Ideologie, die mit Wert materiellen Wert meint.

 Wir leben in einer Verschwendungsgesellschaft, auf jede Weise Verschwendungsgesellschaft, die Verschwendung als Wachstum ausgibt.

 Ich gehe von der Voraussetzung aus, dass  Sprache, Liebe, Gebundenheit den Menschen zum Menschen machen.

 Veränderungen der Welt und der Gesellschaft sind immer durch Minderheiten bewirkt worden, die das, was ihnen einfach vorgesetzt wurde, prüften und der Achtung nicht für wert hielten.

 Dass Ketzer nicht mehr verbrannt werden, verdanken wir ja nur den paar Ketzern, die überlebt haben.

 Recht, von dem man keinen Gebrauch macht, stirbt ab; Freiheit, von der man keinen Gebrauch macht, welkt dahin.

 Das Recht will ja wahrgenommen werden, es fällt einem nicht in den Schoß. Und das erfordert Mut.

 Es ist nicht unehrenhaft, sich zu irren, sich irreführen zu lassen – aber unehrenhaft ist es, diesen Irrtum als die Ehre der Toten in die Geschichte transportieren zu lassen

 Tim Theo Tinn, 6. Juli 2023

 

Anhang

 Wanderer, kommst du nach Spa …, 1950

 Als der Wagen hielt, brummte der Motor noch eine Weile; draußen
wurde irgendwo ein großes Tor aufgerissen. Licht fiel durch das
zertrümmerte Fenster in das Innere des Wagens, und ich sah jetzt, daß
auch die Glühbirne oben an der Decke zerfetzt war; nur ihr Gewinde
stak noch in der Schrauböffnung, ein paar flimmernde Drähtchen mit
Glasresten. Dann hörte der Motor auf zu brummen, und draußen
schrie eine Stimme: »Die Toten hierhin, habt ihr Tote dabei?« –
»Verflucht«, rief der Fahrer zurück, »verdunkelt ihr schon nicht
mehr?«
»Da nützt kein Verdunkeln mehr, wenn die ganze Stadt wie eine
Fackel brennt«, schrie die fremde Stimme. »Ob ihr Tote habt, habe ich
gefragt?«
»Weiß nicht.«
»Die Toten hierhin, hörst du? Und die anderen die Treppe hinauf in
den Zeichensaal, verstehst du?«
»Ja, ja.«
Aber ich war noch nicht tot, ich gehörte zu den anderen, und sie
trugen mich die Treppe hinauf. Erst ging es in einen langen, schwach
beleuchteten Flur, dessen Wände mit grüner Ölfarbe gestrichen waren;
krumme, schwarze, altmodische Kleiderhaken waren in die Wände
eingelassen, und da waren Türen mit Emailleschildchen: VI a und VI
b, und zwischen diesen Türen hing, sanftglänzend unter Glas in einem
schwarzen Rahmen, die Medea von Feuerbach und blickte in die
Ferne; dann kamen Türen mit V a und V b, und dazwischen hing ein
Bild des Dornausziehers, eine wunderbare rötlich schimmernde
Fotografie in braunem Rahmen.
Auch die große Säule in der Mitte vor dem Treppenaufgang war da,
und hinter ihr, lang und schmal, wunderbar gemacht, eine
Nachbildung des Parthenonfrieses in Gips, gelblich schimmernd, echt,
antik, und alles kam, wie es kommen mußte: der griechische Hoplit,
bunt und gefährlich, wie ein Hahn sah er aus, gefiedert, und im
Treppenhaus selbst, auf der Wand, die hier mit gelber Ölfarbe
gestrichen war, da hingen sie alle der Reihe nach: vom Großen
Kurfürsten bis Hitler …
Und dort, in dem schmalen kleinen Gang, wo ich endlich wieder für

ein paar Schritte gerade auf meiner Bahre lag, da war das besonders
schöne, besonders große, besonders bunte Bild des Alten Fritzen mit
der himmelblauen Uniform, den strahlenden Augen und dem großen,
golden glänzenden Stern auf der Brust.
Wieder lag ich dann schief auf der Bahre und wurde vorbeigetragen
an den Rassegesichtern: da war der nordische Kapitän mit dem
Adlerblick und dem dummen Mund, die westische Moselanerin, ein
bißchen hager und scharf, der ostische Grinser mit der Zwiebelnase
und das lange adamsapfelige Bergfilmprofil; und dann kam wieder ein
Flur, wieder lag ich für ein paar Schritte gerade auf meiner Bahre, und
bevor die Träger in die zweite Treppe hineinschwenkten, sah ich es
noch eben: das Kriegerdenkmal mit dem großen, goldenen Eisernen
Kreuz obendrauf und dem steinernen Lorbeerkranz.
Das ging alles sehr schnell: ich bin nicht schwer, und die Träger
rasten. Immerhin: alles konnte auch Täuschung sein; ich hatte hohes
Fieber, hatte überall Schmerzen. Im Kopf, in den Armen und Beinen,
und mein Herz schlug wie verrückt; was sieht man nicht alles im
Fieber!
Aber als wir an den Rassegesichtern vorbei waren, kam alles
andere: die drei Büsten von Cäsar, Cicero, Marc Aurel, brav
nebeneinander, wunderbar nachgemacht, ganz gelb und echt, antik
und würdig standen sie an der Wand, und auch die Hermessäule kam,
als wir um die Ecke schwenkten, und ganz hinten im Flur – der Flur
war hier rosenrot gestrichen – ganz, ganz hinten im Flur hing die
große Zeusfratze über dem Eingang zum Zeichensaal; doch die
Zeusfratze war noch weit. Rechts sah ich durch das Fenster den
Feuerschein, der ganze Himmel war rot, und schwarze, dicke Wolken
von Qualm zogen feierlich vorüber … Und wieder mußte ich links
sehen, und wieder sah ich Schildchen über den Türen O I a und O I b,
und zwischen den bräunlichen muffigen Türen sah ich nur Nietzsches
Schnurrbart und seine Nasenspitze in einem goldenen Rahmen, denn
sie hatten die andere Hälfte des Bildes mit einem Zettel überklebt, auf
dem zu lesen war: »Leichte Chirurgie« …
»Wenn jetzt«, dachte ich flüchtig … »Wenn jetzt«, aber da war es
schon: das Bild von Togo, bunt und groß, flach wie ein alter Stich, ein
prachtvoller Druck, und vorne, vor den Kolonialhäusern, vor den
Negern und dem Soldaten, der da sinnlos mit seinem Gewehr
herumstand, vor allem war das große, ganz naturgetreu abgebildete

Bündel Bananen: links ein Bündel, rechts ein Bündel, und auf der
mittleren Banane im rechten Bündel, da war etwas hingekritzelt, ich
sah es; ich selbst mußte es hingeschrieben haben …
Aber nun wurde die Tür zum Zeichensaal aufgerissen, und ich
schwebte unter der Zeusbüste hinein und schloß die Augen. Ich wollte
nichts mehr sehen. Der Zeichensaal roch nach Jod, Scheiße, Mull und
Tabak, und es war laut. Sie setzten mich ab, und ich sagte zu den
Trägern: »Steck mir ’ne Zigarette in den Mund, links oben in der
Tasche.«
Ich spürte, wie einer mir an der Tasche herumfummelte, dann
zischte ein Streichholz, und ich hatte die brennende Zigarette im
Mund. Ich zog daran. »Danke«, sagte ich.
»Alles das«, dachte ich, »ist kein Beweis. Letzten Endes gibt es in
jedem Gymnasium einen Zeichensaal, Gänge, in denen krumme, alte
Kleiderhaken in grün- und gelbgestrichene Wände eingelassen sind;
letzten Endes ist es kein Beweis, daß ich in meiner Schule bin, wenn
die Medea zwischen VI a und VI b hängt und Nietzsches Schnurrbart
zwischen O I a und O I b. Gewiß gibt es eine Vorschrift, die besagt,
daß er da hängen muß. Hausordnung für humanistische Gymnasien in
Preußen: Medea zwischen VI a und VI b, Dornauszieher dort, Cäsar,
Marc Aurel und Cicero im Flur und Nietzsche oben, wo sie schon
Philosophie lernen. Parthenonfries, ein buntes Bild von Togo.
Dornauszieher und Parthenonfries sind schließlich gute, alte,
generationenlang bewährte Schulrequisiten, und gewiß bin ich nicht
der einzige, der den Einfall gehabt hat, auf eine Banane zu schreiben:
Es lebe Togo. Auch die Witze, die sie in den Schulen machen, sind
immer dieselben. Und außerdem besteht die Möglichkeit, daß ich
Fieber habe, daß ich träume.«
Schmerzen hatte ich jetzt nicht mehr. Im Auto war es noch schlimm
gewesen; wenn sie durch die kleinen Schlaglöcher fuhren, schrie ich
jedesmal; da waren die großen Trichter schon besser: das Auto hob
und senkte sich wie ein Schiff in einem Wellental. Aber jetzt schien
die Spritze schon zu wirken, die sie mir irgendwo im Dunkeln in den
Arm gehauen hatten: ich hatte gespürt, wie die Nadel sich durch die
Haut bohrte und wie es unten am Bein ganz heiß wurde.
»Es kann ja nicht wahr sein«, dachte ich, »so viele Kilometer kann
das Auto ja gar nicht gefahren sein: fast dreißig. Und außerdem: du
spürst nichts; kein Gefühl sagt es dir, nur die Augen; kein Gefühl sagt

dir, daß du in deiner Schule bist, in deiner Schule, die du vor drei
Monaten erst verlassen hast. Acht Jahre sind keine Kleinigkeit, solltest
du nach acht Jahren das alles nur mit den Augen erkennen?«
Hinter meinen geschlossenen Lidern sah ich alles noch einmal, wie
ein Film lief es ab: unterer Flur, grün gestrichen, Treppe rauf, gelb
gestrichen, Kriegerdenkmal, Flur, Treppe rauf, Cäsar, Cicero, Marc
Aurel … Hermes, Nietzscheschnurrbart, Togo, Zeusfratze …
Ich spuckte meine Zigarette aus und schrie; es war immer gut, zu
schreien; man mußte nur laut schreien; schreien war herrlich; ich
schrie wie verrückt. Als sich jemand über mich beugte, machte ich
immer noch nicht die Augen auf; ich spürte einen fremden Atem,
warm und widerlich roch er nach Tabak und Zwiebeln, und eine
Stimme fragte ruhig: »Was ist denn?«
»Was zu trinken«, sagte ich, »und noch ’ne Zigarette, die Tasche
oben.«
Wieder fummelte einer an meiner Tasche herum, wieder zischte ein
Streichholz, und jemand steckte mir ’ne brennende Zigarette in den
Mund.
»Wo sind wir?« fragte ich.
»In Bendorf.«
»Danke«, sagte ich und zog.
Immerhin schien ich wirklich in Bendorf zu sein, zu Hause also,
und wenn ich nicht außergewöhnlich hohes Fieber hatte, stand wohl
fest, daß ich in einem humanistischen Gymnasium war: eine Schule
war es bestimmt. Hatte die Stimme unten nicht geschrien: »Die
anderen in den Zeichensaal!«? Ich war ein anderer, ich lebte; die
lebten, waren offenbar die anderen. Der Zeichensaal war also da, und
wenn ich richtig hörte, warum sollte ich nicht richtig sehen, und dann
stimmte es wohl auch, daß ich Cäsar, Cicero und Marc Aurel erkannt
hatte, und das konnte nur in einem humanistischen Gymnasium sein;
ich glaube nicht, daß sie diese Kerle in den anderen Schulen auf den
Fluren an die Wand stellen.
Endlich brachte er mir Wasser: wieder roch ich den Tabak- und
Zwiebelatem aus seinem Gesicht, und ich machte, ohne es zu wollen,
die Augen auf: da war ein müdes, altes, unrasiertes Gesicht über einer
Feuerwehruniform, und eine alte Stimme sagte leise: »Trink,
Kamerad!«
Ich trank; es war Wasser, aber Wasser ist herrlich; ich spürte den
metallenen Geschmack des Kochgeschirrs auf meinen Lippen, und es
war schön zu spüren, welch eine Menge Wasser noch nachdrängte,
aber der Feuerwehrmann riß mir das Kochgeschirr von den Lippen
und ging: ich schrie, aber er wandte sich nicht um, zuckte nur müde
die Schultern und ging weiter; einer, der neben mir lag, sagte ruhig:
»Hat gar keinen Zweck zu brüllen, sie haben nicht mehr Wasser; die
Stadt brennt, du siehst es doch.« Ich sah es durch die Verdunkelung
hindurch, es glühte und wummerte hinter den schwarzen Vorhängen,
Rot hinter Schwarz, wie in einem Ofen, auf den man neue Kohlen
geschüttet hat. Ich sah es: ja, die Stadt brannte.
»Wie heißt die Stadt?« fragte ich den, der neben mir lag.
»Bendorf«, sagte er.
»Danke.«
Ich blickte ganz gerade vor mich hin auf die Fensterreihe und
manchmal zur Decke. Die Decke war noch tadellos, weiß und glatt,
mit einem schmalen klassizistischen Stuckrand; aber sie haben doch in
allen Schulen klassizistische Stuckränder an den Decken in den
Zeichensälen, wenigstens in den guten, alten humanistischen
Gymnasien.

 Das ist doch klar.
Ich mußte mir jetzt zugestehen, daß ich im Zeichensaal eines
humanistischen Gymnasiums in Bendorf lag. Bendorf hat drei
humanistische Gymnasien: die Schule »Friedrich der Große«, die
Albertus-Schule und – vielleicht brauche ich es nicht zu erwähnen –
aber die letzte, die dritte war die Adolf-Hitler-Schule. Hing nicht in
der Schule »Friedrich der Große« das Bild des Alten Fritz besonders
bunt, besonders schön, besonders groß im Treppenhaus? Ich war auf
dieser Schule gewesen, acht Jahre lang, aber warum konnte nicht in
den anderen Schulen dieses Bild genauso an derselben Stelle hängen,
so deutlich und auffallend, daß es den Blick fangen mußte, wenn man
die erste Treppe hinaufstieg?
Draußen hörte ich jetzt die schwere Artillerie schießen. Sonst war es
fast ruhig; nur manchmal drang das Fressen der Flammen durch, und
im Dunkeln stürzte irgendwo ein Giebel ein. Die Artillerie schoß
ruhig und regelmäßig, und ich dachte: Gute Artillerie! Ich weiß, das
ist gemein, aber ich dachte es. Mein Gott, wie beruhigend war die
Artillerie, wie gemütlich: dunkel und rauh, ein sanftes, fast feines
Orgeln. Irgendwie vornehm. Ich finde, die Artillerie hat etwas
Vornehmes, auch wenn sie schießt. Es hört sich so anständig an,

richtig nach Krieg in den Bilderbüchern … Dann dachte ich daran,
wieviel Namen wohl auf dem Kriegerdenkmal stehen würden, wenn
sie es wieder einweihten, mit einem noch größeren goldenen Eisernen
Kreuz darauf und einem noch größeren steinernen Lorbeerkranz, und
plötzlich wußte ich es: wenn ich wirklich in meiner alten Schule war,
würde mein Name auch darauf stehen, eingehauen in Stein, und im
Schulkalender würde hinter meinem Namen stehen – »zog von der
Schule ins Feld und fiel für …«
Aber ich wußte noch nicht, wofür und wußte noch nicht, ob ich in
meiner alten Schule war. Ich wollte es jetzt unbedingt herauskriegen.
Am Kriegerdenkmal war auch nichts Besonderes gewesen, nichts
Auffallendes, es war wie überall, es war ein Konfektions-
kriegerdenkmal, ja, sie bekamen sie aus irgendeiner Zentrale …
Ich sah mir den Zeichensaal an, aber die Bilder hatten sie
abgehängt, und was ist schon an ein paar Bänken zu sehen, die in
einer Ecke gestapelt sind, und an den Fenstern, schmal und hoch, viele
nebeneinander, damit viel Licht hereinfällt, wie es sich für einen
Zeichensaal gehört? Mein Herz sagte mir nichts. Hätte es nicht etwas
gesagt, wenn ich in dieser Bude gewesen wäre, wo ich acht Jahre lang
Vasen gezeichnet und Schriftzeichen geübt hatte, schlanke, feine,
wunderbar nachgemachte römische Glasvasen, die der Zeichenlehrer
vorne auf einen Ständer setzte, und Schriften aller Art, Rundschrift,
Antiqua. Römisch, Italienne. Ich hatte diese Stunden gehaßt wie nichts
in der ganzen Schule, ich hatte die Langeweile gefressen stundenlang,
und niemals hatte ich Vasen zeichnen können oder Schriftzeichen
malen. Aber wo waren meine Flüche, wo war mein Haß angesichts
dieser dumpfgetönten, langweiligen Wände? Nichts sprach in mir, und
ich schüttelte stumm den Kopf.
Immer wieder hatte ich radiert, den Bleistift gespitzt, radiert …
nichts …
Ich wußte nicht genau, wie ich verwundet war; ich wußte nur, daß
ich meine Arme nicht bewegen konnte und das rechte Bein nicht, nur
das linke ein bißchen; ich dachte, sie hätten mir die Arme an den Leib
gewickelt, so fest, daß ich sie nicht bewegen konnte.
Ich spuckte die zweite Zigarette in den Gang zwischen den
Strohsäcken und versuchte, meine Arme zu bewegen, aber es tat so
weh, daß ich schreien mußte; ich schrie weiter; es war immer wieder
schön, zu schreien; ich hatte auch Wut, weil ich die Arme nicht
bewegen konnte.
Dann stand der Arzt vor mir; er hatte die Brille abgenommen und
blinzelte mich an: er sagte nichts; hinter ihm stand der
Feuerwehrmann, der mir das Wasser gegeben hatte. Er flüsterte dem
Arzt etwas ins Ohr, und der Arzt setzte die Brille auf: deutlich sah ich
seine großen grauen Augen mit den leise zitternden Pupillen hinter
den dicken Brillengläsern. Er sah mich lange an, so lange, daß ich
wegsehen mußte, und er sagte leise: »Augenblick, Sie sind gleich an
der Reihe …«
Dann hoben sie den auf, der neben mir lag, und trugen ihn hinter die
Tafel; ich blickte ihnen nach: sie hatten die Tafel auseinandergezogen
und quer gestellt und die Lücke zwischen Wand und Tafel mit einem
Bettuch zugehängt; dahinter brannte grelles Licht …
Nichts war zu hören, bis das Tuch wieder beiseite geschlagen und
der, der neben mir gelegen hatte, hinausgetragen wurde; mit müden,
gleichgültigen Gesichtern schleppten die Träger ihn zur Tür.
Ich schloß wieder die Augen und dachte, du mußt doch heraus-
kriegen, was du für eine Verwundung hast und ob du in deiner alten
Schule bist.
Mir kam das alles so kalt und gleichgültig vor, als hätten sie mich
durch das Museum einer Totenstadt getragen, durch eine Welt, die mir
ebenso gleichgültig wie fremd war, obwohl meine Augen sie
erkannten, nur meine Augen; es konnte doch nicht wahr sein, daß ich
vor drei Monaten noch hier gesessen, Vasen gezeichnet und Schriften
gemalt hatte, daß ich in den Pausen hinuntergegangen war mit
meinem Marmeladenbutterbrot, vorbei an Nietzsche, Hermes, Togo,
Cäsar, Cicero, Marc Aurel, ganz langsam bis in den Flur unten, wo die
Medea hing, dann zum Hausmeister, zu Birgeler, um Milch zu trinken,
Milch in diesem dämmerigen kleinen Stübchen, wo man es auch
riskieren konnte, eine Zigarette zu rauchen, obwohl es verboten war.
Sicher trugen sie den, der neben mir gelegen hatte, unten hin, wo die
Toten lagen, vielleicht lagen die Toten in Birgelers grauem kleinem
Stübchen, wo es nach warmer Milch roch, nach Staub und Birgelers
schlechtem Tabak …
Endlich kamen die Träger wieder herein, und jetzt hoben sie mich
auf und trugen mich hinter die Tafel. Ich schwebte wieder, jetzt an der
Tür vorbei, und im Vorbeischweben sah ich, daß auch das stimmte:
über der Tür hatte einmal ein Kreuz gehangen, als die Schule noch

Thomas-Schule hieß, und damals hatten sie das Kreuz weggemacht,
aber da blieb ein frischer dunkelgelber Fleck an der Wand,
kreuzförmig, hart und klar, der fast noch deutlicher zu sehen war als
das alte, schwache, kleine Kreuz selbst, das sie abgehängt hatten;
sauber und schön blieb das Kreuzzeichen auf der verschossenen
Tünche der Wand. Damals hatten sie aus Wut die ganze Wand neu
gepinselt, aber es hatte nichts genützt; der Anstreicher hatte den Ton
nicht richtig getroffen: das Kreuz blieb da, bräunlich und deutlich,
aber die ganze Wand war rosa. Sie hatten geschimpft, aber es hatte
nichts genützt: das Kreuz blieb da, braun und deutlich auf dem Rosa
der Wand, und ich glaube, ihr Etat für Farbe war erschöpft und sie
konnten nichts machen. Das Kreuz war noch da, und wenn man genau
hinsah, konnte man sogar noch eine deutliche Schrägspur über dem
rechten Balken sehen, wo jahrelang der Buchsbaumzweig gehangen
hatte, den der Hausmeister Birgeler dorthinter klemmte, als es noch
erlaubt war, Kreuze in die Schulen zu hängen …
Das alles fiel mir in der kleinen Sekunde ein, als ich an der Tür
vorbeigetragen wurde hinter die Tafel, wo das grelle Licht brannte.
Ich lag auf dem Operationstisch und sah mich selbst ganz deutlich,
aber sehr klein, zusammengeschrumpft, oben in dem klaren Glas der
Glühbirne, winzig und weiß, ein schmales, mullfarbenes Paketchen
wie ein außergewöhnlich subtiler Embryo: das war also ich da oben.
Der Arzt drehte mir den Rücken zu und stand an einem Tisch, wo er
in Instrumenten herumkramte; breit und alt stand der Feuerwehrmann
vor der Tafel und lächelte mich an; er lächelte müde und traurig, und
sein bärtiges, schmutziges Gesicht war wie das Gesicht eines
Schlafenden; an seiner Schulter vorbei auf der schmierigen Rückseite
der Tafel sah ich etwas, was mich zum ersten Male, seitdem ich in
diesem Totenhaus war, mein Herz spüren machte: irgendwo in einer
geheimen Kammer meines Herzens erschrak ich tief und schrecklich,
und es fing heftig an zu schlagen: da war meine Handschrift an der
Tafel. Oben in der obersten Zeile. Ich kenne meine Handschrift: es ist
schlimmer, als wenn man sich im Spiegel sieht, viel deutlicher, und
ich hatte keine Möglichkeit, die Identität meiner Handschrift zu
bezweifeln. Alles andere war kein Beweis gewesen, weder Medea
noch Nietzsche, nicht das dinarische Bergfilmprofil noch die Banane
aus Togo, und nicht einmal das Kreuzzeichen über der Tür: das alles
war in allen Schulen dasselbe, aber ich glaube nicht, daß sie in
 anderen Schulen mit meiner Handschrift an die Tafeln schreiben. Da
stand er noch, der Spruch, den wir damals hatten schreiben müssen, in
diesem verzweifelten Leben, das erst drei Monate zurücklag:
Wanderer, kommst du nach Spa …
Oh, ich weiß, die Tafel war zu kurz gewesen, und der Zeichenlehrer
hatte geschimpft, daß ich nicht richtig eingeteilt hatte, die Schrift zu
groß gewählt, und er selbst hatte es kopfschüttelnd in der gleichen
Größe darunter geschrieben: Wanderer, kommst du nach Spa …
Siebenmal stand es da: in meiner Schrift, in Antiqua, Fraktur,
Kursiv, Römisch, Italienne und Rundschrift; siebenmal deutlich und
unerbittlich: Wanderer, kommst du nach Spa …
Der Feuerwehrmann war jetzt auf einen leisen Ruf des Arztes hin
beiseite getreten, so sah ich den ganzen Spruch, der nur ein bißchen
verstümmelt war, weil ich die Schrift zu groß gewählt hatte, der
Punkte zu viele.
Ich zuckte hoch, als ich einen Stich in den linken Oberschenkel
spürte, ich wollte mich aufstützen, aber ich konnte es nicht: ich blickte
an mir herab, und nun sah ich es: sie hatten mich ausgewickelt, und
ich hatte keine Arme mehr, auch kein rechtes Bein mehr, und ich fiel
ganz plötzlich nach hinten, weil ich mich nicht aufstützen konnte; ich
schrie; der Arzt und der Feuerwehrmann blickten mich entsetzt an,
aber der Arzt zuckte nur die Schultern und drückte weiter auf den
Kolben seiner Spritze, der langsam und ruhig nach unten sank; ich
wollte wieder auf die Tafel blicken, aber der Feuerwehrmann stand
nun ganz nah neben mir und verdeckte sie; er hielt mich an den
Schultern fest, und ich roch nur noch den brandigen, schmutzigen
Geruch seiner verschmierten Uniform, sah nur sein müdes, trauriges
Gesicht, und nun erkannte ich ihn: es war Birgeler.
»Milch«, sagte ich leise …

 

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