TRIER: Les Contes d’Hoffmann
3.11.2017 (Werner Häußner)
Papier überall. Es quillt unter dem geschlossenen Vorhang hervor, noch bevor die Fanfaren das Drama einleiten. Es füllt den Raum der Bühne, an deren Rand der Dichter an einem Tischchen kauern wird, mit Schreibmaschine und Weinflasche im Schein einer trüben, altmodischen Kohlefadenlampe. Und ein Berg dieser flatternden, zerknüllten, sich häufenden Manuskripte in „Les Contes d’Hoffmann“ am Theater Trier gebiert die Muse und den Widersacher: Hinter einer griechischen Theatermaske aus weißer Pappe tritt sie hinter Hoffmann, bereit, seinem Schicksal die Fäden zu ziehen. WieLindorf, der geheimnisvolle Diabolus des Stücks, ist sie ganz in Weiß: Beide gehören zur Sphäre des Fantastischen, sind Schreibgeburten des kreativen Geistes. In der Inszenierung von Thilo Reinhardt wird schnell deutlich: Was wir sehen, sind Gedankenfetzen, innere Bilder, Phantasmagorien, Vorstellungen, entstanden im Kopf Hoffmanns.
So verzichtet die Bühne von Paul Zoller auch weitgehend auf konstante Bildmetaphern: Nur der Schreibtisch Hoffmanns begleitet das ganze Stück, der weiße Anzug Lindorfs oder das biedere Outfit der zu Niklausse gewandelten Muse schaffen immer wieder Identität. Katharina Gault hat vielfältige und ausdrucksstarke Kostüme entworfen, die von Science-fiction-Anklängen über das bürgerliche 19. Jahrhundert bis zur Demi-monde mit viel Glitter und Pailletten reichen.
Traumszenen: Ganz in der Farbe des Papiers reihen sich starre Studenten in Luthers Weinstube an einer langen Tafel; vor ihnen ziehen ungerührt und zeitlupenhaft, wie in einem surrealen Bild, die gestylte Sängerin Stella und ihr Lakai quer über die Bühne.Der Tisch wird zum Laufsteg, Olympia quert ihn wie ein Model vor den künstlichen Augen – den Handys der voyeuristischen Gesellschaft – in einer an billige Science-fiction-Serien erinnernden Robe. Ihr Laserschwert wird zur tödlichen Waffe, als Spalanzani die Kontrolle über sie verliert. Wie Hoffmann mit seiner „Automate“ eine unheimliche Vision literarisch konkretisiert hat, wirft Reinhardts Inszenierung einen beklemmenden Blick auf unsere als Zukunft verkleidete Gegenwart.
Der Antonia-Akt verweist auf ein fantastisch überzeichnetes bürgerliches Milieu, dessen bedrohlich schiefe Wände wegklappen, als die Stimme der Mutter die Grenzen des vordergründig Wahrnehmbaren sprengt und eine romantisch-transzendente Sphäre öffnet, in der sich das brav mit Schleifchen im Haar, aber in lockendem Rot gekleidete Mädchen singend verliert – in den Tod hinein.
Ist diese Bild-Mischung aus expressionistischer Überzeichnung, biedermeierlichem Anstand und geheimnisvollen Chiffren schon sehr gelungen, übertrifft Zoller im Giulietta-Akt sich selbst nochmal: Die riesige Glühbirne über der Szene provoziert den Einfall, bei der Drehbühne könnte es sich um die ins Gigantische vergrößerte Schreibtischplatte Hoffmanns handeln, auf der sich die Figuren seiner Alpträume in bizarren Konstellationen bewegen. Die Lichtblase, in der Giulietta und Niklausse herabschweben, zitiert nur noch in ihren Umrissen die Gondel als Venedig-Symbol. Ansonsten ist die Welt der Kurtisane bizarr, zerrissen durch das Licht, surreal mit ihren gesichtslosen Menschen. Hoffmann erschießt in Schlemihl sein eigenesSpiegelbild, eine frappierend folgerichtig gedachte Lösung, hockt wie ein Incubus auf dessen Leiche und hackt verzweifelt Worte in seine Schreibmaschine. Das Ende überrascht und überhöht Offenbachs finalen Chor: Der Dichter wird zum Objekt der Verehrung.
Reinhardts folgerichtig durchdachte und sinnlich überwältigende Inszenierung schafft es, in faszinierenden Bildern eine Welt zu zeigen, in der die Kriterien für Realität und Fantasie, Wahrnehmung und Illusion, Tatsache und Vorstellung unscharf geworden sind. Es gibt nur noch brüchige innere Zusammenhänge. Reinhardt eröffnet damit im Einklang mit der fragmentarischen Überlieferung der Oper, aber auch dem Charakter der Musik einen überzeugenden Zugang zur den romantischen Welten E.T.A. Hoffmanns und Jacques Offenbachs. Mehr noch: Ohne gezwungen wirkende Aktualisierungs-Bemühungen lässt er einen Blick auf unsere Gegenwart zu, der die Brüche und Diskontinuitäten, sogar das Absurde mancher gesellschaftlicher Entwicklungen offenbart.
Wieder einmalzeigt sich: An den Rändern der schicken Welt teurer Opernpaläste, an einem in den letzten Jahren arg krisengeschüttelten Haus, blüht die Kunst der Oper ebenso schön und triftig wie in den goldenen Hallen der teuren Stars. Wie vor ein paar Monaten in Gelsenkirchen MichielDijkema hat nun Thilo Reinhardt in Trier eine erstklassige Version von „Les Contes d’Hoffmann“ erarbeitet – und wieder einmal bedauert jeder, der auch „abgelegene“ Theater besucht, dass solche Produktionen keine Chance auf überregionale Wahrnehmung oder einen der immer wieder um die gleichen Zentren kreisenden Preise haben.
Nicht zu vergessen und nicht zu unterschätzen ist die musikalische Seite der Aufführung: Victor Puhl, Triers scheidender GMD, lässt sich mit dem Philharmonischen Orchester in Tempo, Phrasierung, Artikulation nicht auf Eskapaden ein, neigt eher in Richtung eines schlank-romantischen Klangbilds, meidet aber das pauschale Allerlei oder die bräsige metrisch-rhythmische Behäbigkeit, die sich oft damit verbunden haben. Die Philharmoniker sind ungeachtet einiger Ausrutscher etwa in den Holzbläsern in guter Form, auch der Trierer Opernchor, geleitet von Angela Händel, bewältigt seine nicht eben anspruchslosen Aufgaben anstandslos.
Die Sänger, allesamt engagierte Darsteller, haben offensichtlich viel investiert, um sich die geschmeidige Diktion der Texte von Jules Barbier und Michel Carré anzueignen. Sich auf den flexiblen Stil Offenbachs einzustellen, fällt ebenso schwer und bedarf einer ausgefeilten, heute kaum mehr präsenten Gesangstechnik, die Leichtigkeit und Dramatik, eine schlanke Tongebung wie einen leuchtenden Kern der Stimme erfordert. Das gilt vor allem für die Titelpartie mit ihren brillant, aber nicht kraftvoll, sondern strahlend zu singenden Höhen. Hugo Mallet stellt sich der Herausforderung wagemutig und mit Durchhaltevermögen, bleibt aber mit Eleganz und Biegsamkeit – wie fast alle seiner Fachkollegen – überfordert.
Auch die drei Damen müssen sich viel hörbare Mühe geben: Frauke Burg schafft die Acuti, Staccati und „automatischen“ Melismen der Olympia ohne Trübung, aber mit viel Nachdruck und Anstrengung; Eva Maria Amann ist eine klangschön und mit feinem Legato gestaltende Antonia, aber wie der prachtvollen Stimme von Bernadette Flaitz als energisch-mondän auftretender Giulietta fehlen ihr leichte Führung und klanglicher Schimmer. Was in der italienischen Oper wundervoll wirken kann, taugt der französischen noch lange nicht. Ein Dilemma freilich, mit dem so gut wie alle Bühnen leben müssen.
Als Muse/Niklausse bringt Fritz Spengler an diesem Abend die besten Voraussetzungen mit. Er ist ein echter Mezzosopranist, der etwa in Rossinis Hosenrollen – eine Aufnahme auf seiner Homepage zeigt es – prächtig reüssieren könnte. Seine Stimme hat die mühelose Geschmeidigkeit, den glitzernden Pfiff, den schlanken, manchmal ein wenig zu festen, aber gut abgesicherten Kern. Auf der anderen Seite steht László Lukács als Lindorf/Coppelius/Miracle/Dapertutto: Rau und mit schwerem Vibrato gesättigt, passt sein Bariton weder technisch noch stilistisch zu seinen Rollen. Weniger im Vordergrund, aber nicht weniger wichtig sind die charaktervollen Nebenpartien, in denen Svetislav Stojanovic als skurriler Andrès, BonkoKaradjov als Spalanzani, Pawel Czekalaals Crespel oder Germán Enrique Alcántara als Schlemihl ausgefeilte Charaktere bieten. Ein Abend, der im Gedächtnis bleibt.
Weitere Vorstellungen: 12. und 26. November, 5., 20. und 30. Dezember 2017.
Info: http://www.theater-trier.de/thtr-stueck/les-contes-dhoffmann/