TORRE DEL LAGO / 67. Festival Puccini: LA BOHÈME
7.8.2021 (Werner Häußner)
Ettore Scola, der in den siebziger und achtziger Jahren viel bewunderte italienische Filmregisseur, hat zwei Jahre vor seinem Tod (am 19. Januar 2016) zum 60. Puccini-Festival in Torre del Lago „La Bohème“ in Szene gesetzt. Mit den Augen des genau beobachtenden Filmemachers hat er die Atmosphäre und die Menschen aus Henri Murgèrs „Scènes de la vie de bohème“ vor Klischees zu bewahren versucht, zu denen der historisierende Blick auf das Paris der Aufbruchszeit des 20. Jahrhunderts gerne tendiert. Auch in der Wiederaufnahme durch Marco Scola di Mambro ist diese fast zärtliche Annäherung an die Personen des Stücks erhalten geblieben. Eine sympathische Erzählung, die sich dezidiert von dem Versuch fernhält, Puccinis „Verismo“ zu transzendieren oder mit den Augen unserer Gegenwart neu zu lesen.
Die Innovation dieser Wiederaufnahme kam aus dem Orchestergraben: Enrico Calesso, seit zehn Jahren GMD in Würzburg, aber von Venedig über Linz bis Leipzig gern gesehener Gast an größeren Opernhäusern, hat Puccinis Partitur einer gründlichen Relecture unterzogen und sich vor allem die Tempobezeichnungen und die Dynamik genau angesehen. Das Ergebnis ist so verblüffend wie überzeugend: Puccini verliert nicht den großen Bogen und nicht den melodischen Schmelz, muss nicht auf spannungsfördernde Agogik (an den richtigen Stellen!) verzichten. Aber er gewinnt mehr Vielfalt zwischen strengem Metrum, pointierter Rhythmik und emphatischen Atem. Und er erweist sich in Calessos sorgfältig ins Detail dringender Beobachtung als ein Sinfoniker von Rang und als ein Meister leiser Töne. Denn so viel Pianissimo, Piano und Mezzoforte wie an diesem Abend hört man in „La Bohème“ selten, zumal, wenn sich die „Chefs“ zu schade sind, für Proben und Aufführungen Puccini einen Platz unter erstrangigen Werken einzuräumen.
So hört man in der überraschend hurtig genommenen Eröffnung die vier frierenden Studenten präzis zu scharf formuliertem Rhythmus singen. Nicht nur der musikalische Gehalt der Szene, auch die Einsicht in die meisterhafte musikalische Form ergeben sich schlüssiger als sonst. Das Orchester des Puccini Festivals arbeitet leise Töne heraus; es klingt transparent und weich und vermeidet robuste, vordergründige Effekte zugunsten einer exquisiten Balance – zum Vorteil von Puccinis harmonischen Raffinessen. So stellen sich die Momente von Zärtlichkeit und Intimität ein, die das Duett zwischen Rodolfo und Mimi über das Rührstück hinausheben.
Was Calesso anstrebt, ist jedoch kein analytisch ausgetrockneter Puccini, im Gegenteil: Die Kantilene, der in sich agogisch gegliederte große Bogen, der weite Atem – sie alle kommen zu ihrem Recht. Calesso riskiert mit seinem Tempo die Grenze des Zerfallens, aber er reißt sie nicht. Die Stimmen des bemerkenswert homogenen Ensembles werden nicht gezwungen, ihren freien Atem zu portionieren; sie dürfen den Ton strömen lassen. Den Walzer der Musetta im zweiten Bild könnte Calesso eine Idee spritziger nehmen, aber dieses Tempo erklärt sich vielleicht aus der Charakterisierung der Figur, die weniger eine Kokotte darstellt, sondern eine warmherzige Frau, die sich in der widerwärtigen Gleichgültigkeit des so ganz unromantischen Existenzkampfs im „Bohème“-Paris behaupten muss. Das vierte Bild ist ein Paradebeispiel differenzierter Tempogestaltung, in dem Calesso das langsame, quälende Verlöschen Mimís erfasst: Die Musik gleicht einer Kerzenflamme, die nach langem Kampf ums Leuchten schließlich mit einem Faden zarten Rauchs verglimmt.
Zum Glück hat der Dirigent ein Ensemble an seiner Seite, das diese Intentionen in solider musikalischer Qualität erfüllen kann. Polina Pasztircsák ist eine Mimí, die das Zeug zu einer großen Puccini-Stimme hat: pastoser, unforcierter Klang, warmes, unverfärbtes Timbre, verlässlicher Atem. Ihr Partner ist der Rodolfo des Peruaners Ivan Ayon Rívas. Er setzt einen gestählten Tenor ein, der gleichwohl zu intimen Tönen fähig ist, singt die erfüllte Kantilene schlank, aber mit Substanz, neigt nur in der Höhe dazu, mit seiner Brillanz und Durchschlagskraft zu kokettieren. Ein Quäntchen mehr Flexibilität und eines weniger an tenoraler Darstellungslust, und Rívas Rodolfo könnte seiner heutigen Konkurrenz problemlos auf Augenhöhe begegnen. Maria Chabounia ist eine durch und durch sympathische Musetta, Matteo Mollica stellt gekonnt dar, wie der auf Geld lauernde Vermieter Benoit in die „moralische“ Falle tappt.
Das Männertrio Kartal Karagedik (Marcello), Tommaso Barea (Schaunard) und Abramo Rosalen (Colline) macht Freude, weil die Timbres gut aufeinander abgestimmt sind und die Sänger aufeinander hörend jedes Ensemble mit ihrer Präzision adeln. Bei annähernd noch dreißig Grad am Abend wirken auf der illusionistischen Bühne Luciano Ricceris die Schneeflocken im dritten Bild an der Pariser Zollstation eher anekdotisch, aber Karagedik macht im Duett mit Polina Pasztircsák die Kälte der Lebensverhältnisse spürbar, denen ein Schicksal wie das der kranken Mimí gleichgültig ist – daran ändert auch der von Rosalen sensibel besungene alte Mantel nichts mehr. Die Zuschauer auf den derzeit 1.400 – statt wie üblich über 3.300 – unter Corona-Bedingungen verkaufbaren Plätzen zollten nach Mitternacht nur noch erschöpften Beifall; dennoch bleibt der Eindruck, Puccinis Welterfolg mit frischen, gereinigten Ohren erlebt zu haben.