„Dei baci e sorrisi l’incanto si paga con stille di pianto!” – Puccinis La Rondine am königlichen Theater Turin, Vorpremiere vom 16.11.2023
Copyright: Andrea Macchia/Teatro Regio Torino
Als Puccini anlässlich der österreichisch(-ungarischen) Erstaufführung von La Fanciulla del West bat, „Die Schwalbe“ von Alfred Maria Willner“ und Heinz Reichert zu einer Operette für das Wiener Carltheater zu vertonen, lehnte dieser rigoros ab. Eine Operette käme für ihn nicht in Frage. Wenn überhaupt, müsse es eine Oper im Stile des Rosenkavaliers sein, jedoch weniger verkopft, unterhaltsamer und organischer. Das Ergebnis war ein lyrisches Drama, welches 1917 dann nicht in Wien, sondern in Monte Carlo uraufgeführt wurde. Der Grund war simpel: Italien hatte im Weltkrieg die Fronten gewechselt und befand sich seit 1915 mit Österreich-Ungarn, eine Aufführung eines zeitgenössischen italienischen Komponisten war somit in Wien aus Gründen der Staatsraison und der Propaganda unmöglich. Der Qualität des Werkes tut dies keinen Abbruch, denn La Rondine ist eine hochkomplexe Komposition, in der Puccini nicht nur die Verwendung von Leitmotiven weiter ausbaut. Oftmals hört man die klangliche Verbindung zu anderen Werken Puccinis, schwelgende Klangteppiche ziehen sich farbenfroh durch das gesamte Werk und erzeugen eine hochfaszinierende Dynamik die – untypisch für Puccini – weniger durch plakatives Auftragen, sondern vor allen Dingen durch kleine Details und hoch elegante Finessen besticht.
Die zahlreichen unaufgeregten Stellen in La Rondine lassen somit ausreichend Zeit zu erkennen, daß Puccini nicht nur in den einzelnen Kompositionen, sondern werkübergreifend an der Vision von einer „unendlichen Melodie“ arbeitete und so als erklärter Wagnerianer auch die Ideen des Sachsen für sich weiterentwickelte.
Darüber hinaus schafften Puccini und sein Librettist Giuseppe Adami auch eine Geschichte, die eben nur scheinbar leicht und erheiternd ist. Denn bei näherem Hinsehen und -hören ist auch das Libretto von zeitlosen Aussagen und Wahrheiten geprägt, die heute kein bisschen an Aktualität vermissen lassen: Magda de Civry führt in Paris das Leben einer Kurtisane im Hause des Bankiers Rambaldo. Während einer heiteren Gesellschaft trägt der anwesende Dichter Prunier sein neuestes Werk über die fiktive Doretta (Ch’il bel sogno di Doretta), die vom König ein unmoralisches Angebot bekommt, vor: „Se tu a me cedi ti farò ricca!“. Doch sie lehnt ab, denn sie erkennt, daß Geld nicht glücklich macht „No, mio sire! No, non piango! Ma come son‘, rimango che l’oro non può dare a felicità“. Prunier lässt das Gedicht jedoch an dieser Stelle absichtlich unvollendet – und spielt somit auf Magda an, die das Gegenteil von Doretta getan hat und ihre Träume wortwörtlich verkauft hat. Doch diese greift den Faden auf und dichtet an Pruniers Stelle das Lied weiter: Doretta lernt einen Studenten kennen, in den sie sich nach einem Kuss unsterblich verliebt. Mit den Worten „Che importa la ricchezza se alfin è rifiorita la felicità! …O sogno d’or poter amar così!” schliesst sie das Lied und entgegnet Prunier somit, dass sie durchaus nicht vergessen hat, was wahre Liebe ist und zu dieser noch fähig ist.
In Folge lernt Magda den jungen Ruggero kennen und lieben. Als Rambaldo beide gemeinsam im Pariser Nachtclub Bullier entdeckt, verlässt Magda ihn, um mit Ruggero zusammenleben zu können. Als es in Folge jedoch ernst zu werden droht und Ruggero die Einwilligung seiner Mutter zur Hochzeit erhält, bekommt Magda ein schlechtes Gewissen. Sie gibt vor, Ruggero wegen ihrer Vergangenheit nicht heiraten zu können, verlässt ihn und kehrt zu Rambaldo zurück.
Copyright: Andrea Macchia/Teatro Regio Torino
Das klingt zunächst deutlich nach einer abgewandelten Traviata, doch einige wesentliche Details sind hier anders: Ruggero erwähnt die finanziellen Probleme, die der Lebensstandard, welchen Magda gewohnt ist, verursacht, die Trennung tritt in Folge dieser Erwähnung auf. Während also Violetta Valéry ein Opfer der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist, entscheidet sich Magda de Civry ganz bewusst für das Leben als Kurtisane. Sie ist damit eine emanzipierte Frau, die sich nicht fremdbestimmen lässt und ihre Zukunft selbst proaktiv gestaltet – auch wenn diese die Prostitution ist. Die Zeitlosigkeit des Themas liegt also auf der Hand und ein Blick in die sozialen oder alle anderen Medien zeigt, dass ein modernes Kurtisanentum durchaus blüht.
Regisseur Pierre-Emmanuel Rousseau widersteht nun glücklicherweise der Versuchung, hier mit billigen Plattitüden den moralischen Zeigefinger auszupacken. Stattdessen baut er eine Brücke zwischen dem Jahr 1850, in welchem La Rondine ursprünglich spielt und der heutigen Zeit: Er legt die Handlung in das Jahr 1973, dem Jahr der Wiedereröffnung des Teatro Regio, dass nach einem Brand 1936 erst zwischen 1967 unter Leitung des Architekten Carlo Mollino in einzigartigem Stil wiederaufgebaut wurde. Herr Rousseau verwendet dabei zahlreiche Elemente der 70er Jahre. So sehen wir im ersten Akt in der Villa Rambaldos zahlreiche Plastiken, die durch Mollino selbst in damaligen Fotografien festgehalten wurden. Die auf der Gesellschaft befindlichen Damen tragen allesamt Originalkostüme aus den 70er Jahren, beispielsweise Balenciaga, Dior, Yves Saint-Laurent und auch die Haarpracht erinnert stark an Brigitte Bardot oder Ursula Andress.
Wir werden also in das Paris George Pompidous entführt, einem Paris, welches durch großen Wohlstand, intensive Modernisierung, seine Etablierung als Nuklearmacht und starkem nationalem Selbstbewusstsein geprägt ist. Kunst und Kultur Frankreichs erleben eine Hochblüte, beispielhaft seien hier nur Serge Gainsbourg, Niki de Saint-Phalle oder Filme wie „La grande bouffe“ genannt. Das französische Savoir-vivre artet bereits zur Dekadenz aus und es ist jenes großbürgerliche Pariser Millieu, in welches Herr Rousseau nun Magda und ihre Geschichte setzt. Ein Millieu, dem sie so sehr verhaftet ist, daß sie ihm, trotz ihrer romantischen Seele, nicht entkommen kann und letztlich wohl auch nicht entkommen will. Die Stimmung des ersten Aktes wirkt fast schal, denn wir wissen, dass diese ausschweifende Lebensart nicht gut enden wird, wie auch der Wohlstand des Jahres 73 schnell durch die Ölkrise und ihre wirtschaftlichen Folgen eine Zäsur erlebte, die in Frankreich und Europa wirtschaftliche Folgen bis in die 80er Jahre haben sollte. Somit ist der erste Akt bereits klug durchdacht, da er einen Tanz auf dem Vulkan aufzeigt, der letztlich eben doch dem schnöden Mammon und damit dem persönlichen Unglück anheimfällt – just wie es Prunier in „Ch‘il bel Sogno di Doretta“ vorhersagt. Der „Haken“ dabei ist die perfekt eingefangene Ästhetik dieser Zeit und die damit verbundene, delikate Schönheit, an der man man sich gar nicht satt sehen möchte, oder eben einem Gericht von Paul Bocuse von dem man nicht genug essen kann
Die Andeutung, die bereits im ersten Akt mit der Nutzung der Motive aus Mollinos Fotografien gemacht wurde, baut Pierre-Emmanuel Rousseau im zweiten Akt weiter aus. Sozusagen als Geschenk zum 50. Geburtstag verwandelt er das Bullier in eine Discothek der 70er Jahre – welche eins zu eins dem Foyer des heutigen Teatro Regio gleicht und damit die Bedeutung des Hauses als eigenes, architektonisches Kunstwerk klar hervorhebt. In einer opulenten und unglaublich farbenfrohen, fast schon orgiastisch anmutenden Party geht dieser zweite Akt über die Bühne. Es scheint, als wären wir zu Gast im legendären New Yorker Studio 54: In buntesten Kostümen zelebrieren die feiernden Gäste. In waghalsigen Figuren zelebriert das Ballett die Lust an der Bewegung und scheint aus einem Freddy-Mercury-Video gefallen zu sein. – „Dammi nel bacio la vita e vivi per baciar“! Carmine de Amicis hat hier eine Heels-Dance-Choreographie der Extraklasse ausgearbeitet, für die sich alleine ein Besuch des Abends schon lohnen würde. Gemeinsam mit Vasiliki Papapostolou, George Gregory, Giuseppe Sanniu, Carlo d’Abramo und Marco Caudera wird hier die Seele aus dem Leib getanzt als gäbe es kein Morgen mehr und der Tanz unter der glitzernden Disco-Kugel die Bühne des wahren Lebens – bravissimi!
Auch der Chor zeigt in diesem zweiten Akt eine meisterhafte Leistung: Präzise und ausdrucksstark gesungen wird der Höhepunkt des zweiten Aktes nicht durch schreiende Lautstärke, sondern durch höchste musikalische Qualität und exzellentes Spiel erzeugt. Hier liegen sich nicht nur Liebende, sondern auch Feiernde in den Armen, umrahmen die neu entsprossene Liebe zwischen Magda und Ruggero und die schon existierende zwischen Lisette und Prunier, während der jetzige Moment und die Liebe als solches gefeiert werden. Zu Recht feiert das Publikum mit langanhaltendem Zwischenapplaus und großem Jubel diese Szene, die sich in einem nicht enden wollendem Taumel immer weiter zu einem das Leben feiernde Finale hocharbeitet und in einem gigantischen Konfettiregen endet – „Soffochiamo i quattro amori con i fiori“! Bravi stellvertretend für den gesamten Chor an Rita La Vecchia, Eugenia Braynova, Lyudmila Porvatova, Roberto Guenna, Alejandro Escobar, Luigi della Monica, Matteo Pavlica und den Chorleiter Ulisse Trabacchin.
Auch im dritten Akt lässt sich Pierre-Emmanuel Rousseau einen genialen Kunstgriff für das Bühnenbild einfallen: Bereits 1969 lief Jacques Derays „La Piscine“ in den französischen Kinos an, in welchem Romy Schneider und Alain Delon (sowie Jane Birkin) in einem dramatischen Thriller spielten. Der Film beginnt mit einer Szene, in der sich Alain Delon in Badehose mit angewinkelten Bein neben dem Pool sonnt. Eine ikonische Einstellung, die Herr Rousseau zum Beginn des dritten Akts nun eins zu eins zitiert: Ruggero liegt am Pool, sonnt sich mit angewinkeltem Bein am Pool, während Magda auf einer Liege Champagner trinkt. Bereits 1969 hatte dieses Bild einen besonderen Reiz, da Delon und Schneider bis 1964 ein Paar waren und in dem Film erstmals wieder als Paar in Erscheinung traten. Und wie im Film sind es auch hier zwischenmenschliche Spannungen, die zwischen Magda und Ruggero zu Tage treten. Ist es wirklich die Liebe zu Ruggero, die Magda dazu bringt, ihn zu verlassen? Oder opfert sie ihre Ideale dem Hedonismus, ohne den sie nicht mehr leben will? Wohlgemerkt einem Hedonismus, der eigentlich bereits nicht mehr erlebbar ist, da die wirtschaftliche Lage einem ausgeprägten Kurtisanentum nur noch wenig Platz lassen wird – sowohl in der originalen Gegenwart mit der Wirtschaftskrise von 1857, der Gegenwart dieser Inszenierung mit der Ölkrise von 1973, als auch in der persönlichen wirtschaftlichen Situation von Ruggero, der Magda wohl zu offen von der zunehmenden Last der Rechnungen berichtet. Auch hier kommt es zum dramatischen Eklat, bei dem Ruggero schließlich alleine, unter Tränen und mit gebrochenem Herzen zurückbleibt. So bewahrheitet sich die Aussage aus Magdas Traum im ersten Akt: „Dei baci e sorrisi l’incanto si paga con stille di pianto!”.
Nicht nur die Inszenierung dieser Rondine ist also mehr als sehenswert, auch die Besetzung kann als durchaus gelungen gewertet werden. Wie im italienischen Stagione-System üblich, wechseln sich zwei Besetzungen ab: Einmal mit Olga Peretyatko als Magda, Valentina Farcas als Lisette, Mario Rojas als Ruggero und Santiago Ballerini als Prunier. Streikbedingt blieb uns diese Besetzung jedoch verwehrt, so daß wir nur über die zweite, nicht minder gute Besetzung berichten können:
Carolina López Moreno beginnt bereits im ersten Akt mit zarten und gefühlvollen Stellen, die den Sehnsüchten Magdas emotionalen Ausdruck verleihen. Mit der Leichtigkeit einer Schwalbe singt sie diese Partie und verkörpert eine erstklassige Magda, die im ersten Akt tatsächlich die Hoffnung in uns weckt, daß die Liebe doch über den Hedonismus siegt. Auch klanglich weiß sie mit ihrer warmen und umschmeichelnden Stimme zu begeistern, spielerisch lässt sie uns mit ihrem Charakter mitfühlen und eröffnet tiefe Einblicke in Magdas Gefühlswelt. Ohne Frage, Frau López Moreno gehört zu den größten Talenten ihrer Zeit und es ist ein Genuss, wie sie die Zerrissenheit der Magda auf die Bühne bringt und uns dabei tief berührt. „Ah! Creatura! Dolce incanto!“ – Bravissima, Carolina López Moreno.
In seiner Romantik ist Ruggero als Charakter fast schon verweichlicht gezeichnet, denn ihm fehlen der Realismus und die Abgebrühtheit Magdas, was gleichzeitig eben jenes ist, daß Magda dazu bringt, ihre verloren geglaubten Träume in ihm wiederzufinden. Oreste Cosimo weiss diesen Charakter gut zu füllen, bis auf eine etwas zu große Lautstärke im 2. Akt, ist er ein empathischer und sensibler Ruggero, deren Erfahrungen um das Leben noch viel zu wenige sind und dem durch Magda wohl zum ersten Mal sein Herz gebrochen wird. Die jugendliche Kraft seines Tenors ist da durchaus hilfreich, tatsächlich ist er im dritten Akt hochgradig authentisch, als Magda ihn zurücklässt und er mit seiner Trauer zusammengesunken in einer Ecke kauert.
Das fast schon Eulenspiegelhafte des Dichters Prunier ist ein wichtiger Schlüsselfaktor in der Rondine. Zwar ist er derjenige, der Magda zum Nachdenken anregt, ihr den Spiegel vorhält und sie nahezu für ihr Handeln anklagt: „Parto: Con certa gente non ho più a che fare…“
Zeitgleich ist er genauso ein Teil dieses Verhaltens und integriert sich in die Gesellschaft, mit der sich Magda im Hause Rimbaldos unterhält. Dennoch steht er stets an der Seite von Lisette. Stimmlich ist Marco Ciaponi hier eine wunderbare Besetzung, denn durch seine Bel-Canto geschulte, romantisch-süßliche Stimme eignet er sich hervorragend als Prunier. So beginnt er im ersten Akt nicht nur mit einer wunderbar romantischen Interpretation der „Ch’il bel sogno“-Arie. Auch im dritten Akt zeigt er im Duett „E qui? Non so!“ die Fülle seiner gesanglichen Qualitäten und legt einen einwandfreien Abschluss vor. Bravo Marco Ciaponi!
Demgegenüber steht Marilena Ruta als Lisette nichts nach: Sie kreiert einen wunderbaren Stereotyp des naiven Hausmädchens, welches doch das Herz am rechten Fleck hat – und im Gegensatz zu Magda ihre Träume nicht aufgibt. Auch sie verfügt über einen prächtigen Soprano, der an entscheidenden Stellen leidenschaftlich funkeln kann und die angenehme Bodenständigkeit ihres Charakters mit wohltuender Lebensfreude verbindet. Damit stellt sie einen wichtigen Counterpart zur Rolle der Magda dar, der die Frage aufwirft: Welches Leben ist hier erstrebenswert? Ist es nicht Lisette, die das Leben lebt, welchem Magda in Wirklichkeit nachtrauert?
Copyright: Andrea Macchia/Teatro Regio Torino
Musikalisch wird der Abend tadellos durch Francesco Lanzillotta geleitet. Er bringt Puccinis Klangbild voll und ganz zum Wirken, fokussiert nicht nur auf die Leitmotive, sondern das klangliche Gesamtkonzept in La Rondine und trägt die Sänger mithilfe des Orchesters einwandfrei, um somit ihren Stimmen den bestmöglichen Klang zu ermöglichen. Das Resultat ist also nicht nur ein grandioses Regiekonzept, das zu den besten zeitgenössischen Inszenierungen gehört, die wir in den letzten Jahren erleben durften. La Rondine am Teatro Regio Torino ist wahrlich ein Fest für die Sinne, welches all das, was Oper an Kunstformen vereint, in höchstem Maße und feinster Qualität ausspielt. Ein unbedingt sehenswerter Abend: „Benedetto l’amore e benedetta la vita“ – bravissimi tutti!
E.A.L.