TOKYO/ SUNTORY HALL (Blue Rose): FRÄULEIN TOD TRIFFT HERRN SCHOSTAKOWITSCH mit dem Dresdner Streichquartett, Jascha Nemtsov und Isabel Karajan am 19.11.2016
Isabel Karajan, Jascha Nemtsov und das Dresdner Streichquartett. Copyright Matthias Creutziger
Für den zweiten Abend ihrer Tokyo-Residenz hatte sich die Sächsische Staatskapelle Dresden etwas ganz Besonderes ausgedacht: im kleineren Blue Rose Saal der Suntory Hall präsentierte sie „Fräulein Tod trifft Herrn Schostakowitsch“. DIeses „kammermusikalische Projekt“ ist eigentlich in keine gängigen Kategorien einzuordnen. Entstanden ist es in Zusammenarbeit der Osterfestspiele Salzburg mit den Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch.
In diesem, in der ehemaligen DDR gelegenen, Nest weilte der russische Komponist einst auf „Kur“, und hat daselbst in nur drei Tagen sein 8.Streichquartett vollendet.
DIeses historische Faktum nahmen Schauspielerin Isabel Karajan, Dramaturg Tobias Niederschlag und Regisseur Klaus Ortner zum Anlass, um rund um dieses Streichquartett ein dichtes Netz an Texten aus der Stalin-Zeit zu weben. Von Autoren, die hierzulande (ausser Daniel Charms und Wladimir Majakowski) nahezu keiner kennt (weil sie auch grösstenteils für dieses Projekt zum ersten Mal übersetzt wurden) und die fast ausnahmslos dasselbe tragische Schicksal verbindet: verboten, verfolgt, eingesperrt, gefoltert und ermordet oder in den Selbstmord getrieben worden zu sein: Aleksandr Vvedenskij, Anna Radlowa, Anatoli Marienhof, Aleksandr Suchovo-Kobylin, Viktor Hofmann und Velimir Chlebnikov.
Auf ihrer „Bühne“, drei auf einer Grundfläche von 1m2 gestapelten Europaletten macht sich Isabel Karajan diese Texte und diese Lebensgeschichten auf teilweise schon unerträglich intensive Art und Weise zu eigen. Dabei trägt sie einen abgewetzten Frack, ein Kleidungsstück, das auch der Vater des Pianisten Jascha Nemtsov anhatte, als er vom sovjetischen Geheimdienst in einen Gulag verschleppt wurde (und das dort jahrelang sein einziges blieb).
Zusätzlich zu dem in Gohrisch entstandenen Werk spielen Nemtsov und das exquisite Dresdner Streichquartett auch noch die Polka aus dem Ballett „Das goldene Zeitalter“, das Nocturne aus den „Aphorismen“, das Allegro aus dem Klaviertrio Nr. 2 und das Scherzo aus dem Klavierquintett in g-moll.
Dem japanischen Publikum sei an dieser Stelle meine besondere Hochachtung ausgesprochen: nicht nur ist diese gemischte Präsentationsform im konservativen Japan noch ungewohnter als bei uns, auch die verwendeten dadaistisch-futuristisch-konstruktivistischen Texte, denen man ja selbst als Deutschsprachiger nur schwer folgen kann, müssen ja die Zuschauer hier(trotz der japanischen Übertitel) noch vor eine viel größere Herausforderung dargestellt haben. Völlig verständlicherweise herrschte daher in den ersten zwanzig Minuten eine konsternierte Totenstille, die dann allerdings allmählich einer intensiven Konzentration wich, und sich letztendlich in einen nicht endenwollenden Applaus für alle Beteiligten entlud. So sehr hatten die Ernsthaftigkeit und die Leidenschaftlichkeit von Isabel Karajan und ihren Mitstreitern die Anwesenden letztlich überzeugt. Ein hart errungener, aber verdienter Erfolg.
Robert Quitta, Tokyo