TIMISOARA (Rumänien)/ UNGARISCHES STAATSTHEATER: 15.TESZT-FESTIVAL
vom 24.5.-28.5. 2024
Nicht weniger als 14 Ethnien soll es früher in Timisoara (Temeswar) gegeben haben. Als kleines Überbleibsel dieser unglaublichen Vielfalt gibt es hier – als europaweites Unikat – gezählte drei Staatstheater, alle im selben Gebäude: das Rumänische, das Deutsche und das Ungarische.
Letzteres hat sich vor einiger Zeit dazu entschlossen, alljährlich ein internationales Theaterfestival abzuhalten. Ursprünglich nur auf die Banat-Region ausgerichtet, zeigt es heute Produktionen aus ganz Europa, von Finnland bis Griechenland. Dementsprechend interessant war das reichhaltige Programm der heurigen,15.Edition.
Anybody. Copyright: Teszt-Festival
Die größte, überraschendste und überwältigendste Entdeckung dabei war vielleicht das Gastspiel der ungarischen Gruppe Forte Társulat mit ANYBODY (Irgendwer). Es ist schwer zu beschreiben, worum es in dem Stück geht. Denn seine „Handlung“, seine Dramaturgie, seine Darstellungsweise seine Texte widersprechen total allen herkömmlichen Mustern.
Ja, allein schon die Texte: Anybody ist eigentlich kein als Stück geschriebenes Stück, sondern eine Zusammenstellung von Gedichten des ungarischen Autors Borbély Szilárd (1963-2014), einem der bedeutendsten Dichter der postkommunistischen Ära. Szilárd hatte ein wahrlich ein tragisches Schicksal: sein Großvater wurde in Auschwitz ermordet, seine Eltern bei einem Raubüberfall und er selbst, an Depressionen leidend, setzte seinem Leben im Alter von 49 Jahren ein Ende. Er war auch ein großer Experte der Barockliteratur, insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass er das allumfassende Thema Tod im Stile eines modernen Amorality-Plays behandelt.Dem er seine „Jedermänner und -frauen“, hier Randfiguren der Konsumgesellschaft (eine Drogenkranke, einen Zeugen Jehovas, einen Börsenagenten, einen Organhändler, eine Kassierin, eine Putzfrau etc.) Szene für Szene brutalst aussetzt.
Regisseur Horváth Csaba hat das alles sensationell in Szene gesetzt, und seine Schauspieler (Fehér Laszlo, Földeáki Nóra, Horkay Barnabás, Krisztik Csaba, Pallag Márton etc.) überzeugen nicht nur sprachlich, sondern auch körperlich (denn die Forte Társulat Gruppe versteht sich als „physisches Theater“). Solche choreographischen Einlagen sind ja im Sprechtheater eigentlich immer peinlich, aber hier geht es sich ausnahmsweise einmal voll aus.
Eine einzigartige Produktion, der man gerne wieder begegnen würde…gerne auch in Wien…
Solitude Monologues. Copyright: Teszt-Festival
Vom Ansatz her auch sehr interessant, in der Ausführung leider etwas mangelhaft eine „einheimische“ Aufführung: The Solitude Monologues (Einsamkeits-Monologe) der Arte-Factum Company aus Timisoara.
Mona Donici hat viele spannende reale und fiktive Geschichten moderner Einsamkeiten (ein Mann, der in einem leeren Teich fischt, eine alte Schauspielerin, deren Rollstuhl zu breit für das Steigenhaus ist und die daher ihre Wohnung nicht mehr verlassen kann, eine Braut, die nie geheiratet wird, eine Influencerin, die davon lebt, dass ihr ihre Follower beim Essen zuschauen, etc.etc.) zusammengetragen. Die Stories sind spannend, die Monologe sind brilliant formuliert und auch die Schauspielrinnen performen die verschiedensten Rollen eigentlich großartig. Das Problem dabei ist nur, dass Regisseur Kocsárdi Levente weder den Texten noch den Akteuren vertraut und die ganze Chose nicht nur mit verschwommenen Videos und sentimentaler Musik (seine Verhunzung von Erik Saties genial-trockenen Gymnopédies ist ein Verbrechen!) fast permanent zuschüttet, sondern auch noch auf unerträgliche zwei Stunden auswalzt…Schade ! Mein Ratschlag: Videos weg, Kitschmusik weg, das Ganze auf eine Stunde reduziert, und die Einsamkeitsmonologe könnten zum Hit werden…
Pericles. Copyright: Teszt-Festival
Unter den Erwartungen blieb auch eine Eigenproduktion des Ungarischen Staatstheaters, auf die man sehr gespannt gewesen war: denn wann bekommt man denn je Shakespeares spätes Stück PERICLES zu Gesicht ? (die einzige Produktion, an die ich mich erinnern kann, war die,des zukünftigen Burgtheaterdirektors Stefan Bachmann im Kasino am Schwarzenbergplatz 2011).
Ich halte den Pericles – trotz aller Problematik – nach wie vor für ein spannendes Werk, aber so einfach wie Regisseur Philipp Parr kann man es sich auch nicht machen. Ja, es kommen im Stück zwei Schiffsbrüche vor, aber als Parabel auf aktuelle Ärmelkanal-Bootsflüchtlnge taugt es nun wahrlich nicht, selbst wenn man ein (beeindruckendes) orangenes Schlauchboot in die Mitte der Raumbühne stellt (dazu ist Shakespeare doch zu komplex). Noch dazu wenn man dafür kein wirklich adäquates Ensemble zur Verfügung hat…Ein zumindest halber Schiffbruch.
Alle Erwartungen (die man gar nicht hatte) übertraf hingegen der letzte Programmpunkt des Festivals, ein sogenanntes „Shakespeare-Konzert“. Eigentlich wollte man gar nicht hingehen, denn sich am letzten Tag kurz vor Mitternacht fünf Stockwerke (ohne Aufzug) zur Studiobühne unter dem Dach hinaufzuschleppen …um..um, ja was zu sehen ? Irgendein „Konzert“ unter dem Vorwand des Großen Barden ? Wo man doch ohnehin schon mit Eindrücken übersättigt, müde und erschöpft war ? Nein, danke. Keine wie immer geartete Lust, Kraft schon gar nicht…
Aber manchmal ist es gut, wenn man den inneren Schweinehund schlafen legt und der Versuchung (und auch dem sanften Druck der Veranstalter und seinem schlechten Gewissen) nachgibt…
Shakespeare Abides. Copyright: Teszt-Festival
Denn der Abend „WH – SHAKESPEARE ABIDES“ ist eine Weltsensation. Man hatte ja schon viele Versuche erlebt, die Musik, die zu seinen Stücken geschrieben wurde, wiederzubeleben, und keiner davon war irgendwie überzeugend gewesen (daher auch die Skepsis).
Das hier ist aber etwas völlig anderes, und man kann gar sagen, wie genau diese Truppe das macht. Gut: es gibt ein paar mit allen Jazzwassern gewaschene Musiker, einen elektronischen Komponisten und eine alle über den Haufen singende ghanesisch-ungarische Leadsängerin (Dagadu Veronika Sena)…aber dass das soo ein hinreissendes, begeisterndes, außergewöhnliches Ergebnis ergibt, das einen selbst lange nach Mitternacht wieder hellwach werden lässt…das ist pure Magie.Ein überwältigendes „Konzert“, das von nun an bei keinem Shakespeare-Festival
der Welt fehlen dürfte…
(In der Zwischenzeit könnten Sie auf diesem Youtube-Video einen kleinen Eindruck davon gewinnen: https://m.youtube.com/watch?si=eT5AYiAGh2ATmJfe&fbclid=IwZXh0bgNhZW0CMTEAAR1A1iTLO0-HdJ81WWZSXYoDidiisE5_mlagtQ8eqGu1k2hZF47tenhHvYQ_aem_ZmFrZWR1bW15MTZieXRlcw&v=yvuokJ5_jp8&feature=youtu.be)
Robert Quitta, Timisoara