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Thomas Johannes MAYER: Für mich gibt es nichts Langweiligeres, als den Bösen „nur böse“ zu spielen!

30.03.2019 | Sänger

Thomas Johannes Mayer: Für mich gibt es nichts Langweiligeres, als den Bösen „nur böse“ zu spielen!

  1. März 2019 (Renate Publig)


Thomas Johannes Mayer

Manfred Trojahn, dessen Oper „Orest“ am 31. März Premiere an der Wiener Staatsoper feiert, verfasste selbst das Libretto, in das er unter anderem Friedrich Nietzsches Dionysos Dithyramben einfließen ließ. Auch Bariton Thomas Johannes Mayer beschäftigte sich intensiv mit Friedrich Nietzsche, wählte den Philosophen gar als Thema für seine Diplomarbeit.

Man hat selten die Gelegenheit, derart fundiert über ein Werk zu diskutieren – ein Erlebnis, wie der sympathische Sänger durch die psychologischen und philosophischen (Un-)Tiefen seiner Figur Orest führt!

 

Herr Mayer, Ihrem Lebenslauf entnehme ich, dass Sie bei weitem nicht „nur“ Gesang studierten (Klavier, Flöte, Gesang, Musikpädagogik sowie Geschichte, Philosophie und Germanistik). Wie konnte sich die Liebe zum Gesang durchsetzen?

 

Die Liebe zum Gesang war immer schon vorhanden. Als kleiner Junge wurde ich inspiriert durch meinen Großvater, der mir Stücke schrieb, die ich zu Faschingsveranstaltungen zum Besten geben musste – oder durfte. Denn ich merkte bald, dass die Korrelation „auf der Bühne stehen“ und „Applaus“ mir gut gefiel. Die verfolgte ich im Alter von 12 weiter, indem ich meine eigene Band gründete.

 

Die Band spielte welche Musikrichtung?

 

Im Laufe der nächsten zehn Jahre war ich mit unterschiedlichen Formationen unterwegs, von Punk bis Jazz, Rock, Pop, zum Schluss sogar Techno. Doch ich fing im Alter von 6 mit Klavier und Flöte an, da kam die Affinität zur klassischen Musik.

Dann hatte ich mit 19 eine Mandeloperation, die nicht gut lief und dazu führte, dass ich als Leadsänger große Konzerte nicht mehr bewältigen konnte. Mein Manager riet mir zu einer klassischen Gesangsausbildung, um die Funktionalität der Stimme zu gewährleisten.

 

Und so studierten Sie gleich Gesang?

 

Zuerst Musik auf Lehramt, ich beendete das Studium Geschichte und Philosophie. Daneben hatte ich privat vier Jahre Gesangsunterricht. Doch ich machte eine Aufnahmeprüfung an der staatlichen Musikhochschule in Köln, Hauptfach Gesang. Ich hatte eine wunderbare Lehrerin, Frau Liselotte Hammes, bei der auch Anja Harteros studierte. Sie verstand nicht nur, meine Stimme zu entwickeln, sondern sie nahm sofort meine Bühnenpräsenz wahr und riet mir zu einer Bühnenlaufbahn.

 

Als Bariton steht ihnen rollentechnisch eine vielfältige Palette an Charakteren zur Verfügung. Allein die Wagnerpartien, Amfortas, Telramund, Wotan oder Wanderer, bieten in sich ein „Universum“ an Interpretationsmöglichkeiten. In wieweit können Sie Ihre Studien – allen voran Philosophie – in Ihre Rollengestaltungen einfließen lassen?

 

Bisher bin ich auf Regisseure gestoßen, die davon angetan waren, wenn jemand ihre philosophischen und historischen Gedanken verstehen konnte. Dieser Background ist jedoch nicht unbedingt notwendig. Es ist nicht so entscheidend, ob der theoretische Überbau stimmt. Bei den Deutungen der Partien sind eher psychologische Überlegungen wichtig. Um einem Charakter Tiefe zu geben, braucht er Persönlichkeit. Dazu ist eine gewisse Differenziertheit in der Ausdrucksmöglichkeit essentiell.

Doch für mich persönlich finde ich es interessant, diese Betrachtungen über ein Werk, eine Figur anstellen zu können, weil ich dadurch ein breiteres Spektrum gewinne.

 

In Ihrem Lebenslauf ist von rund 80 verschiedenen Partien die Rede, die Sie gesungen haben. Welche Rollen sprechen Sie besonders an?

 

In meinem Heldenbaritonfach bin ich privilegiert mit ambivalenten Figuren, mit tieferen Charakteren, die oberflächlich betrachtet oft als die „Bösen“ bezeichnet werden. Doch für mich gibt es nichts Langweiligeres, als den Bösen nur böse zu spielen. Der Telramund, oder der Wassermann in Rusalka gelten als Paradebeispiele für fiese Figuren – das ist zu kurz gedacht.

 

Es gibt aus Sicht der Figur oft Aspekte, die ihr Handeln nachvollziehbar macht. Außer vielleicht der Scarpia …?

 

Naja, der will die Tosca haben, das ist verständlich! (lacht) Alles eine Frage der Perspektive, er ist verantwortlich, dass Napoleons Truppen nicht gewinnen … Man kann Scarpia besonders fies darstellen und ihn die Folterszene genießen lassen. Es ist dennoch interessanter, einem Bösen eine Perspektive zu geben, die menschlich ist, sonst sind diese „Brunnenvergifter“ eindimensional. Ich mag es, wenn meine Charaktere gemocht werden, für mich ist ein gewisses Maß an Selbstidentifikation dabei. Wobei ich persönlich nicht so weit gehen würden wie ein Jago (lacht), der sich klar dem Guten widersagt und jegliche moralische Vorstellung negiert.


Thomas Johannes Mayer als Orest © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

 

Um zu Manfred Trojahns Orest zu kommen: Wie würden Sie seine Ton-, seine Klangsprache beschreiben?

 

Manfred Trojahn hat einen Weg gefunden, modernes Musiktheater mit einer klassischen Vorstellung von Dramaturgie zu gestalten. Er arbeitet mit musikalischen Metaphern, ohne Effekthascherei. Man erkennt anhand der Musik die Psychologie des Charakters, das Thema im Raum.

Wer sich auf das Stück einlässt, wird mit Sicherheit positiv überrascht werden. Die modernere Filmmusik arbeitet mit musikalischen Klangmomenten, wenn wir Hitchcocks berühmte Szene aus Psycho nehmen, diese Dissonanz der Geigen stört niemanden! Und in den Partituren von Richard Strauss geht es in vielen Stellen atonal zu – auch das nimmt man durch das Geschehen auf der Bühne nicht als „verstörend“ wahr. Natürlich versuchten die Komponisten am Ende der Romantik, die Tonsprache zu sprengen.

Diese Tonsprache nimmt Trojahn als Grundgerüst, das er weiterentwickelt. Er hat auch wundervolle Melodien geschaffen, Stellen, die einem den Atem stocken lassen, weil sie an das instinktive Musikempfinden anklopfen.

 

Er spielt mit dem musikalischen Gedächtnis?

 

Absolut. Die vierte Szene, das Duett mit Elektra, mit Evelyn Herlitzius, ist einer der großen Höhepunkte der Oper. Da finden sich Anklänge an Tristan und Isolde! Aber derart subtil, Trojahn wählt nur eine Chromatik mit Gegenläufen und führt uns vermeintlich in den Tristan-Akkord hinein, dabei sind es nur zwei Töne, die wir hören!

 

Die Handlung von „Orest“ schließt an Richard Strauss‘ „Elektra“. Wir begegnen einem Orest, der von inneren Stimmen gepeinigt wird, weil er eine Tat begangen hat. Zu der er von seiner Schwester angetrieben, bzw. die ihm von Gott Apoll aufgetragen wurde.

 

Die Schuldfrage ist für Orest in dieser Oper die Ausgangssituation. Davor hat seine Mutter ihn im Stich gelassen, hat ihn zum Opfer freigegeben. Er ist nur durch eine List entkommen! So wuchs er ohne Mutter und ohne Vater auf, hat nie Liebe erfahren. Ein tiefsitzender Schmerz. Rein psychologisch kann man den Mord verstehen, dennoch bleibt es der Mord an der eigenen Mutter. Und man kann seine Mutter nicht ungestraft umbringen. Tiefenpsychologisch muss man sich damit „versöhnen“. Wenn es Traumata mit der frühkindlichen Identifikation mit den Eltern gibt, braucht man die Auseinandersetzung mit sich selbst, um von dem Trauma loszukommen. Sich von den Eltern zu befreien, um autonom zu werden. Eine Schlüsselfrage zu diesem Werk ist die Grundsatzfrage „Wer bin ich?“. Man muss aus der „Kind-Position“ heraus, um Erwachsen zu werden. Auf diesem Weg ist Orest.

 

Schuldfrage und Schuldkomplex?

 

Diesen Schuldkomplex, der durch das Auftauchen der zwei verschiedenen Götter auftaucht, sehe ich auch anders aufgelöst. Das geht hinein in die Philosophie von Nietzsche und dem dionysischen Prinzip, das die Oberhand gewinnt. Die Götter stehen sinnbildlich für das Unbewusste. Auf der einen Seite Apoll, der für den Traum steht, und aus dem Orest immer seine Visionen zieht, ein Instinkt, dass er sich befreien kann. Dafür erhofft er sich Hilfe, die er nicht bekommt. Orest braucht eine Erlösung von dieser Schuld, sonst wird er wahnsinnig.

Und das ist der nächste Schritt, der Wahnsinn, dem begegnen wir über Dionysos. Das Rauschhafte, in dem jegliche menschliche Konvention ad acta gelegt wird, um zum Schluss auch die Götter hinter mir lassen zu können.

 

„Moral“ kontra eigene Grenzen?

 

Jeder Mensch hat eine Grundvorstellung davon, wo er seine persönlichen Grenzen überschreitet. Nicht nur aus moralischem Gebot. „Was du nicht willst, das man dir tu‘ …“ – wenn ich meine Schmerz-Grenze bewusst wahrnehme, werde ich diesen Schmerz einem anderen nicht zufügen. Ein tiefenpsychologisches Fundament, nicht nur ethische Moral.

In Zeiten des Krieges können empathische Züge natürlich zurücktreten, der Selbsterhaltungstrieb meldet sich. Uns treiben ambivalente, bipolare Instinkte an! Ein weites Feld, das uns alle immer wieder beschäftigt, die Schuldfrage, die Frage der Ethik. Ein sehr philosophisches Thema.

 

Orest begeht – trotz seiner inneren Stimmen – auf Geheiß seiner Schwester Elektra den Mord an Helena. Obwohl er weiß, dass seine Handlung nicht „richtig“ ist, kann er sich nicht aus den Fängen befreien?

 

Die Motive sehe ich hier eher als konstruiert. Alles spitzt sich zu, Orest fragt sich: „Muss ich morden, um frei zu sein?“, um aus dem Leid herauszukommen. Den Mord an Helena sehe ich als Konstrukt: Orest muss die Vorstellung der Schönheit, dem Oberflächlichen, dem materiellen Dasein töten. Vielleicht sogar seine eigene Vorstellung von Ruhm, die damit verknüpft ist. Wie es in Nietzsches Dionysos Dithyramben angelegt ist, die Trojahn diese Oper einfließen ließ. Ein Dialog mit sich selbst, den Zarathustra mit sich führt. Insofern wäre Orest Zarathustra. Er sagt, er müsse der Schuldigste von allen werden. Was kein Freibrief zum wahllosen Mord ist!

Und ein weiterer Aspekt: Auch wie es inszeniert ist, ist Helena in diesem Stück nicht real.

 

Sonst könnte Helena nicht zu einem Stern werden.

 

Richtig. Die Helena wacht wieder auf, sie wird ein Stern. Da trifft sich das Reale nicht mehr ganz mit dem Konstruiert-Philosophischen. Nur, wenn Helena tot ist, kann sie die Schönste von allen bleiben, so drückt es auch Dionysos aus. „Nur das Vergängliche ist schön“.

 

Der zweite Mord, der an Hermione, gelingt ihm Orest nicht mehr – der Beginn seiner inneren Befreiung?

 

Hermiones Blick trifft Orest „wie ein Blitz, der vom Abgrund in den Himmel steigt“, wie es bei Nietzsche heißt. Das ist der Augenblick, der alles verändert. Einen Menschen zu treffen, der einen zutiefst erschüttert in allen Grundfesten, in allen Formen des gekannten Daseins. Das lässt ihn sein ganzes Trauma vergessen. So kann er sich endlich selbst befreien. Nicht im Sinn von „Schuld abwälzen“! Dieses Prinzip hat er zuvor mit Apoll versucht, das hat nicht funktioniert. Aber das Freimachen von Schuld, sich nicht mehr hinter seiner Angst zu verstecken. Das ist die Freiheit, um die es geht. Niemandem mehr Verantwortung für seine Taten zu übertragen. Dann ist der unvermittelte Blick auf den anderen möglich.


Thomas Johannes Mayer als Orest © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

 

Am Ende verwehrt Orest den Göttern seine weiteren Dienste – und kommt ganz untypisch für griechische Mythologie damit durch. Ein Aufruf zu mehr „Zivilcourage“?

 

Zivilcourage auf jeden Fall! Und dazu, für sich selbst einzutreten, ungeachtet der rechtlichen oder moralischen Schuld. Die Strafe zu akzeptieren, aber aus dieser Akzeptanz dennoch bereit zu sein, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und aus dem Kreislauf von Gut und Böse herauszutreten. Eigene Maßstäbe zu setzen, nicht im Sinne von Selbstgerechtigkeit, sondern wie erwähnt, im Sinne von „eigenen Grenzen“. Der Schlüssel zur Selbstverantwortung liegt darin, aus der Vergangenheit Schlüsse zu ziehen und in der Gegenwart zu betrachten, um eine Zukunft mit neuen Lösungen zu finden. Deshalb darf er letzten Endes in die Freiheit und kommt heraus aus dem Gefängnis, das er sich selbst geschaffen hat.

 

Herr Mayer, vielen Dank für das Gespräch und toi, toi, toi für die Vorstellungen!

 

 

 

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