Athens Epidaurus Festival / Peiraios 260
Théâtre du Soleil – Ariane Mnouchkine: Here dwell the dragons / Hic sunt Dracones
Besuchte Vorstellung am 4. Juni
Geschichtsstunde
Am Ende gibt es ein paar vereinzelte, aber lautstarke Buhrufe, die von starkem Beifall und Bravorufen gekontert werden. Es ist die eminent politische Botschaft der Aufführung, die Fürsprache der Regisseurin für die um ihre Unabhängigkeit kämpfende Ukraine, welche Widerspruch hervorruft. Ariane Mnouchkine und ihr Théâtre du Soleil sind bekannt und geschätzt bei griechischen Theaterbegeisterten. In Griechenland gibt es jedoch eine beträchtliche Anzahl russlandfreundlicher Linker. Bei solchen hat Mnouchkines Stück „Here dwell the dragons / Hic sunt Dracones“ offensichtlich Zorn erregt. Es ist eine hochpolitische Geschichtsstunde, die die französische Theatergruppe vor unseren Augen ausbreitet.
Hélène Cinque, Dominique Jambert, Nirupama Nityanandan, Aline Borsari, Alice Milléquant,
Ariane Mnouchkine nimmt sich im ersten Teil einer Trilogie des Jahres 1917 an und befasst sich mit der russischen Revolution. Die Handlung setzt im Februar 1917 ein und endet im Januar 1918. Der Ausgangspunkt des Theaterprojekts ist Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Putin erscheint denn auch zu Beginn als Projektion auf dem rückwärtigen Bühnenvorhang. Das Ganze ist gleichsam als Archivrecherche in Echtzeit angelegt und eine Schauspielerin agiert dabei als Archivarin, die immer wieder in das Geschehen eingreift. Théâtre du Soleils Stück spricht über die russische Revolution unter besonderer Berücksichtigung der Ukraine, welche im zweiten Teil des Abends in den Mittelpunkt rückt. Es bedient sich historischer Quellen und zitiert Historiker, es greift auf ukrainische Lyrik zurück, nutzt Musik und Sound als Kommentar und erfindet Dialoge. Bisweilen werden fast revuehaft szenische Tableaus entworfen, wird so historisches Bildmaterial pointiert verwendet. Masken lassen historische Figuren wiedererstehen, manche Szenen erinnern an ein Puppenspiel. Die Sprache, das Erzählen von Geschichte macht die eigentliche Handlung aus. Die eingespielte Stimme spielt dabei eine wichtige Rolle. Das alles schafft Distanz zum Geschehen und betont das Faktische. Der Betrachter sieht sich einem politischen Theater gegenüber, das nicht Einfühlung, sondern Mitdenken fordert.
Die Aufführung bedient sich verschiedener Sprachen, das multikulturelle Ensemble spricht russisch, französisch, deutsch und englisch. Das Stück ist auf eine Mehrfachperspektive hin angelegt. Darum gibt es auch, um zwei Beispiele aus dem ersten Teil zu nennen, eine Szene mit dem Gefreiten Adolf Hitler im Feld und eine mit dem jungen Joseph Goebbels, welche diesen bei der Lektüre eines rechtsextremen, französischen Autors zeigt. Diese Momente weisen wohl auch auf das, was im weiteren Verlauf des als Trilogie angelegten Projekts verhandelt wird. Wenn dann im zweiten Teil des Abends die Ukraine ins Zentrum des Geschehens rückt, geschieht dies mit einer kritischen Betrachtung der russischen, revolutionären Seite. Es ist dabei vor allem Lenin, der eine denkbar schlechte Figur abgibt. Sehr treffend und manchmal bis zur Travestie verzerrt werden die Machtverhältnisse im russischen Revolutionsjahr dargestellt. Der kritische Blick gilt dabei allen politischen Handlungsträgern und die Pogrome gegen Juden in der Ukraine kommen dabei auch zur Sprache. Es ist eine anregende, hochinteressante Gedankenfolge, welche die Aufführung von Mnouchkines Théâtre du Soleil vor den Betrachtern ausbreitet.
Ariane Mnouchkine steht an der Spitze eines grossen Theaterkollektivs. Viele Köpfe und Hände haben das detailreiche Bühnenbild und die Kostüme erschaffen. Man mag das zu Sehende als eine etwas altmodische Form von Theater bezeichnen, grosse Darstellungskraft hat es in seiner souveränen Bündelung der Theatermittel gleichwohl. Von den vielen Beteiligten sollen nur die genannt werden, die auf der Bühne stehen: Omid Rawendah, Sébastien Brottet-Michel, Seear Kohi, Reza Rajabi, Jean Schabel, Shaghayegh Beheshti, Pamela Marin Munoz, Vincent Mangado, Duccio Bellugi-Vannuccini, Maurice Durozier, Samir Abdul Jabbar Saed, Dimitri Leroy, Andréa Marchant Fernandez, Andréa Formantel Riquelme, Agustin Letelier, Farid Joya, Élise Salmon, Ève Doe-Bruce, Judit Jancsó, Vincent Martin, Seietsu Onochi, Vijayan Panikkaveettil, Xevi Ribas, Ariane Hime, Astrid Grant, Tomaz Nogueira da Gama, Clémence Fougea und Ya-Hui Liang.
Man erlebt einen sehr bemerkenswerten Theaterabend am Athens Epidaurus Festival, ein Stück Theatergeschichte. Das Publikum feiert am Schluss alle Beteiligten.
Ingo Starz (Athen)