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TARTU FEIERT FARBENPRÄCHTIG „150 JAHRE SÄNGERFEST“

Tartu feiert farbenprächtig 150 Jahre Sängerfest

In der Estnischen Stadt Tartu begannen sie vor genau 150 Jahren – die großen Sängerfeste in den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Seither sind sie alle fünf Jahre der kulturelle Höhepunkt in diesen Ländern. Im Vorjahr begingen die drei Staaten das 100. Jubiläum ihrer Eigenständigkeit. Nun begeisterte Tartu – die älteste Stadt im Baltikum mit der ältesten und größten Universität Nordeuropas – das hoch interessierte Publikum mit einem dreitägigen farbenprächtigen Jubiläumsfest. Rund  8.500 Teilnehmer/innen, insbesondere die fabelhaft singenden Kinderchöre, wurden bejubelt. Ein Tanzfestival unter dem sommerlichen Sternenhimmel gehörte ebenfalls zum gelungenen Festprogramm,


Abschlusskonzert mit 8.500 Mitwirkenden, Foto Ursula Wiegand

Um 18:69 Uhr (19:09 Uhr) – passend zum Start vor 150 Jahren – begann am 20. Juni das Eröffnungskonzert in der vor dem Verfall geretteten Marienkirche. Erwähnt sei aber, dass während der 50-jährigen sowjetischen Okkupation die Sängerfeste in den Baltischen Staaten untersagt waren, in Estland von 1944 – 1991. Dennoch haben alle drei Länder haben ab 1988 mit ihren zwischenzeitlich verbotenen Volksliedern gegen die Unterdrückung protestiert und sich so die Freiheit ersungen. Als „Singende Revolution“ ist dieses Ereignis in die Geschichte eingegangen. Nun gehören diese Sängerfeste zum UNESCO-Welterbe.


Komponist Jüri Reinvere, Foto Ursula Wiegand

Im Interview erinnert der estnische Komponist Jüri Reinvere (geb. 1971) an dieses Singen und auch an die rund 600 Kilometer lange, zwei Millionen umfassende Menschenkette am 23. August 1989 durch die drei baltische Staaten, mit der letztendlich die Freiheit ertrotzt wurde.


 Kai Rüütel, Mezzo, sang „Mu Isaama“ von Jüri Reinvere, Foto Ursula Wiegand

Zum Eröffnungskonzert hat Reinvere, der seit Jahren in Deutschland wohnt und arbeitet, mit „Mu isamaa. Mu önn ja rööm“ („Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude“) eine moderne Fassung der estnischen Nationalhymne komponiert und sie auch mit einem neuen, lyrisch-persönlichen Text versehen. Er besingt die Heimat als ein Land, „das fertig ist in seinem Glück, in seiner Freude“. Emotional sang Kai Rüütel mit sattem ausdrucksstarken Mezzo den Solopart. Der Jubel danach für sie, die Kapelle und den anwesenden Komponisten war riesig. Gefeiert wurde auch Triin Koch, Musikdirektorin und Chef-Dirigentin des Sängerfestes.


Triin Koch dirigierte in der Marienkirche, Foto Ursula Wiegand

Offenkundig hat Vaterland, heutzutage lieber Heimatland genannt, bei den Esten nach Jahrhunderten der Unterdrückung einen sehr hohen Stellenwert. Dieses Motiv zieht sich an diesen drei Festtagen durch viele Lieder und Chorwerke. „Heimatliebe ist etwas ganz Wichtiges und Natürliches, bedeutet aber auch, Verantwortung zu übernehmen und ist im internationalen Kontext zu sehen“, betont Jüri Reinvere. Sorgen macht ihm, dass die Liebe zum Heimatland „nun von den Parteien kontaminiert wird“.


 Chor sang Lieder von 1869, Foto Ursula Wiegand

„Diese Heimatlieder sitzen tief im Herzen, und so hat auch die Musik eine ganz große Bedeutung“, fährt Reinvere fort. „In der Musik können sich die Menschen ausdrücken und das äußern, was man nicht schreiben kann oder darf. Die kleinen Völker tun sich mit Heimatliebe jedoch leichter als die großen“, räumt er ein. Eine große Bevölkerung hat andere Probleme.


 Gemischter Chor sang Lieder von 1869, Foto Ursula Wiegand

„Die drei kleinen Baltischen Staaten existieren nur durch ihre Kultur“, hebt er hervor. Daher darf die Digitalisierung die Kultur nicht unterdrücken“, warnt Reinvere, der auch als Schriftsteller, Kommentator  und Opernkomponist bekannt ist. Bekanntlich war Estland nach der Wende das erste Land, in dem elektronisch gewählt werden konnte und alle Formalitäten auf diesem Weg erledigt werden.

Drei Estinnen beim Sängerfest, Foto Ursula Wiegand

Auf die Frage nach den wunderbar hellen Kinderstimmen antwortet Jüri mit einem Lächeln. „In estnischen Familien wird viel gesungen. Kein Geburtstag, keine Feier ohne Gesang, zuletzt vielleicht auf dem Tisch stehend. Die Stimmbänder werden so frühzeitig trainiert, und daher können die Chöre auch komplexe Stücke singen“, erklärt er.

Dass viele deutsche bzw. deutschsprachige Lieder und Chorwerke, ins Estnische übersetzt, weiterhin beliebt sind, fiel im Verlauf des Festivals ebenso auf wie die Namen der Komponisten und Texter Friedrich Brenner, Karl August Hermann, Johannes Kappel, David Otto Wirkhaus und Johann Voldemar Jannsen, um einige Beispiel zu nennen.


Festgottesdienst in der Domruine, Foto Ursula Wiegand

Die meisten Kirchenlieder beim Festgottesdienst in der Dom-Ruine unter freiem Himmel waren mir durchaus bekannt. Ebenfalls Openair erfreute ein Konzert, das Gesänge von 1869 Revue passieren ließ. „Mu isamaa. Mu önn ja rööm“ („Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude“) war nun in der Erstversion, Melodie Friedrich Pacius (1809-1891), zu hören, und kräftig hat das Publikum mitgesungen.


Tanzfest im Kassitoome-Tal, Foto Ursula Wiegand

Auch das Tanzen durfte bei diesem Jubiläum nicht fehlen. Es begann am 21. Juni um 22:00 Uhr im Kassitoome-Tal und wurde recht romantisch. Zunächst zogen die traditionell kostümierten Chöre auf den Hügelwegen entlang, ehe sie auf die Bühne kamen, um dort ihre munteren Volkstänze zu zelebrieren. Auf einer Nebenbühne, einem hohen Holzgestell, war ein nachgestelltes Zimmer zu sehen, und auch dort wurde getanzt. 


Auch Ältere schritten munter voran, Foto Ursula Wiegand

Den Höhepunkt, das Schlusskonzert, mussten sich die rd. 8.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die aus allen Teilen Estlands angereist waren, bei einer zweistündigen Prozession, ausgehend vom Rathaus, tatsächlich erlaufen. Die Kräftigen trugen große Fahnen und Vereinsschilder durch die Stadt und am Fluss entlang. Vergnügt schwenkten alle anderen Bänder in den Landesfarben.


 Fröhliche Kinder bei der Prozession, Foto Ursula Wiegand

Sehr fröhlich waren die rund 35 Kindergarten- und Kinderchöre mit etwa 900 Sechs- bis Siebenjährigen unterwegs, eine Besonderheit von Tartu. Bedenkt man, dass Estland 1,323 Millionen Einwohner hat und nur 69 Prozent, also etwa 910.000,  Esten sind, erstaunt die Zahl der in Chören aktiven Sängerinnen und Sänger noch viel mehr.


 Mädchenchor mit Lehrerin, Foto Ursula Wiegand

Die setzen sich bei diesem Jubiläum wie folgt zusammen: 2000 Sieben- bis Zwölfjährigen gehörten zu 42 Chören. Auch 19 Knabenchöre mit 800 Sängern waren mit von der Partie, außerdem 25 Kinderchöre mit ca. 1.000 Singenden.


Leuchtende Kleider bei der Prozession, Foto Ursula Wiegand

Einige der 35 Frauenchöre fielen durch moderne, leuchtende Kleider auf, während die 18 Männerchöre eher mit Prachtstimmen beeindruckten, mit strahlenden Tenören und tiefschwarzen Bässen. Dazu gesellten sich noch gemischte Chöre und neun Orchester. Ein Männerchor sang auf Estnisch: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten.“  Genau so haben die Esten ihre Freiheit erreicht. 


Männerchor mit Prachtstimmen, Foto Ursula Wiegand

Zum Superfarbfest geriet der Einzug der Chöre ins Stadion. Die Kinder kamen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern und rückten dann auf der Bühne eng zusammen. Fröhlich waren sie, und im Verlauf stieg die Stimmung weiter an. Das flotte „Tahan, ei taha“ (ich will, ich will nicht), unterstrichen mit gut eingeübten Gesten, machte den Kindern und Zuhörern besonderen Spaß.


 Kinder beim Abschlusskonzert, Foto Ursula Wiegand

„ Da capo, da capo“ forderten sie auf estnisch. Auch bei anderen Songs erklatschten die Kleinen und das Publikum eine Wiederholung. Beim lustigen Stück „Tuljak“, dirigiert von Triin Koch, haben sie leicht mitgetanzt. Offensichtlich bereitet das Singen den großen und kleinen Esten viel Vergnügen. Auch viele junge, topfitte Instrumentalisten/innen fielen auf. Gemeinsam bescherten sie dem Publikum an allen drei Festtagen unvergessliche Erlebnisse. Um den musikalischen Nachwuchs muss sich Estland wohl keine Sorgen machen. Ursula Wiegand


 Fitte Chöre bis zur letzten Minute. Foto Ursula Wiegand

Infos unter https://www.visitestonia.com/de/besucherzentrum-in-tartu. Empfehlenswert ist das historische Hotel Antonius in der Altstadt gegenüber der Universität, nur wenige Schritte entfernt vom schönen Rathausplatz, www.hotelantonius.ee

(U.W.) . 

 

 

 

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