Stuttgart: Gauthier Dance
„MEGA ISRAEL“ 7.11.2017 (Theaterhaus) – Verblüffend gegensätzliche Impulse
Minus 16 – Gruppen-Präzision. Copyright: Regina Brocke
Mit diesem Programm eröffnete Eric Gauthiers rühriges Tanz-Ensemble bereits im Sommer die zweite Ausgabe des Tanzfestivals „Colours“, doch konnte es erst jetzt im Rahmen einer weiteren Vorstellungsserie im heimischen Theaterhaus besucht werden. Denn seit Jahren ist die 16köpfige Compagnie mit ihrem beachtlichen Repertoire international renommierter Choreographen mehr und mehr auf Gastspielreisen in aller Welt unterwegs, so dass die gebündelten Aufführungen in Stuttgart umso mehr gefragt sind.
Der Titel „Mega Israel“ ist sicher nicht zu hoch gegriffen, denn vor allem für diejenigen, denen bislang nicht bekannt und bewusst war, was sich in diesem ansonsten sicher nicht mit Ballett assoziierten Land in der Tanzszene abspielt, dürften alle drei präsentierten Stücke in ihrer unverstellt direkten kreativen Kraft und damit verbundenen Wirksamkeit erstaunt und überrollt haben. Ihre drei Choreographen waren allesamt Tänzer in der international bekannten Batsheva Dance Company, Ohad Naharin, der Senior unter ihnen, seit 1990 auch deren Leiter.
Hofesh Schechter wiederum, der inzwischen seine eigene Compagnie in London gegründet hat, gewann von ihm und diesem sogenannten Nationalballett wertvolle Inspiration für sein eigenes Schaffen, dessen Markenzeichen zunächst mal seine Personalunion als Tanzschöpfer, Ausstatter und Komponist ist. Denn zusätzlich zum Tanz hat Schechter auch Percussion studiert und gestaltet daraus seine ganz eigenen Projekte. Auch das hier gezeigte „UPRISING“ (Uraufführung 2006 in London) liegt vollkommen in seiner Hand. Geprägt ist es von seinem auf Dauer sehr basslastigen musikalischen Rhythmus, weshalb vorsichtshalber an jedem Sitz Ohrstöpsel ausliegen. Dieser liefert indes den maßgeblichen Motor für das Zusammensein einer Männergruppe in einem von immer wieder wechselnd ausgerichteten Scheinwerfer-Schneisen markierten Raum. Die Spannung, die sich zwischen diesen 7 Männern im oft unmittelbaren Umkippen von Eintracht in Auseinandersetzung auftut, ist geradezu greifbar. Ganz sanfte Bewegungen, ja Berührungen arten in abrupt schnelle Aktionen aus und fallen genauso plötzlich wieder zurück in ein friedliches Miteinander. Unvorhersehbar sind all die vielen Bewegungsmetaphern, die an unsere unmittelbaren Vorfahren erinnern und doch mehr bedeuten als das Tier im Menschen: uralte Verhaltensweisen zwischen Macht und Unterwerfung. Zuletzt wird sogar ein Revolutionsgemälde von Delacroix zitiert, indem die Männer zusammenhalten und einen von ihnen in die Höhe stützen, der eine kleine rote Fahne empor hält.
Killer Pig – klassisch-minimalistisch. Copyright: Regina Brocke
Rosario Guerra, Réginald Lefebvre, David Rodriguez, Luke Prunty, Alessio Marchini, Theophilus Vesely und Maurus Gauthier, der auch in Naharins Schöpfung als besonders intensiver, total in seinem Einsatz aufgehender Interpret hervorsticht, geben sich Schechters ungewöhnlichem Schrittmaterial mit Selbstverständlichkeit und dem Mut zur gelegentlichen Ironie hin.
Das Choreographen-Duo Sharon Eyal und Gai Behar bedient im 2009 in Oslo aus der Taufe gehobenen „KILLER PIG“ eine ganz anders geartete Schiene und ist im ungewöhnlichen Aufeinander-Treffen von klassischen Ballett-Tugenden und fremdartiger minimalistischer Strenge nicht weniger originell als die beiden anderen Choreographien. Kein Wunder, dass sie mit ihrer 2013 eigens gegründeten L-E-V Dance Company inzwischen weithin beachtete Festival-Gäste sind. Wie fremd gesteuerte Wesen absolvieren 6 Tänzerinnen in hautengen grauen Catsuits eine 35minütige Kür an höchst disziplinärem und dazuhin synchronem Einsatz auf Spitze, unterbrochen von rasch ausbrechenden Soli, deren Direktheit einen Kontrast zur vorigen Unnahbarkeit bildet. Speziell Anna Süheyla Harms fällt mit bewundernswerter Biegsamkeit auf, wenn sie wie in Zeitlupe in den Spagat sinkt und sich unmittelbar darauf gummigleich in Lauerstellung verbiegt. Aber auch ihre Kolleginnen Anneleen Dedroog, Nora Brown, Francesca Ciaffoni, Sandra Bourdais und Barbara Melo Freire tragen dazu bei, dass dieser ungewohnte Effekte schaffende Stil von ein paar wenigen Längen abgesehen, geschlossen zur Geltung kommt. Die rhythmisch etwas leisere und dennoch sehr präzise Klangkulisse stammt von Ori Lichtik.
Uprising – revolutionäres Schlussbild. Copyright: Regina Brocke
Zuletzt Ohad Naharins „MINUS 16“, ein aus verschiedenen Werken der 90er Jahre vom Choreographen immer mal wieder neu zusammengesetztes Allerlei, das bereits beim Betreten des Zuschauerraumes nach der Pause beginnt, wenn Luke Prunty eine köstliche Nummer im Gaga-Stil Naharins abzieht. Später gesellen sich dann die weiteren 15 TänzerInnen hinzu, darunter auch die bislang noch nicht in Erscheinung getretenen Gauthier Dancers Garazi Perez Oloriz, Alessandra La Bella und Jonathan Dos Santos. Sie alle bilden einen Stuhlkreis, auf denen ihre Bewegungen immer wieder wellen-, ja sturzartig ausbrechen, wenn sie den rockig verfremdeten Rundgesang zum Pessachfest „Echad Mi Yodea“ im Chor skandieren und dazu nach und nach ihre Anzüge und weißen Hemden auf einen Haufen in die Mitte werfen. Eine sehr direkte, mitreißende und gleichzeitig bestürzende Symbolisierung von den Bildern der Judenvernichtung. Dieses direkte Miteinander von spielerischem Umgang und in tiefere Schichten vordringender Philosophie macht die blickwinkelreichen Arbeiten Naharins aus. Da verblüfft es kaum mehr, dass auf einen intimen, zu nachdenklichem Vivaldi getanzten Pas de deux und einen Abschnitt zu Chopin-Klaviermusik ein Cha-Cha Gruppentanz erfolgt, in dem auch spontan einige auf die Bühne geholte Zuschauer ihr Können demonstrieren dürfen, und die Gauthier Dance Tänzer schließlich zu einem Arrangement populärer traditioneller Lieder groovend jegliche Hemmungen los lassen. Rhythmisch klatschend fällt das Publikum ein und feiert alle Beteiligten zuletzt im Stehen mit unzähligen Jubel-Vorhängen. Wirklich ein Mega-Abend!
Udo Klebes