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STUTTGART/Schauspiel: DIE FEUERSCHLANGE von Philipp Löhle.

30.10.2016 | Theater

Uraufführung „Feuerschlange“ von Philipp Löhle im Schauspiel Stuttgart

DIE KINDER STEHEN IM MITTELPUNKT
Uraufführung „Feuerschlange“ von Philipp Löhle am 29. Oktober 2016 im Schauspiel/STUTTGART
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Christian Czeremnych und Kinderstatisterie. Copyright: Conny Mirbach

In Philipp Löhles Stück „Feuerschlange“ spielt der Autor virtuos in 15 Episoden mit ganz unterschiedlichen Stilmitteln. Märchen, eine Art Philip-Marlowe-Krimiparodie und altertümelnd-schwäbische Dialektformen halten sich hier die Waage. Zynismus interessert Löhle nicht, er baut eher auf Glaubwürdigkeit, hat aber Sinn für satirische Momente.

„Feuerschlange“ bezeichnet eigentlich eine Waffe aus baden-württembergischer Produktion. In einer kleinen schwäbischen Stadt wird ein Sturmgewehr hergestellt, 640 Personen arbeiten an einem Gerät, das dazu dient, Menschen zu töten. Und auf einer schrägen Bühne mit einem großen Holzgerüst sowie einer Videoleinwand mit überdimensionalem Totenschädel agieren die emotional-temperamentvollen Schauspieler Christian Czeremnych, Berit Jentzsch, Horst Kotterba, Robert Kuchenbuch und Susanne Schieffer wie aus einem Guss, mit einer überwältigend-fließenden Sprachgewalt, die nicht zu bremsen ist: „Ohne mein Gewehr bin ich nutzlos.“ Ein anderer Akteur schwadroniert in hinreissender Weise über die politischen Grundsätze der Bundesregierung und die Lieferung von Kriegswaffen sowie den Export von Rüstungsgütern. Der kleine Betrieb in der schwäbischen Kleinstadt erwirtschaftete tatsächlich im Jahr 2012 235 Millionen Euro. Philipp Löhle macht auch deutlich, dass es in Deutschland sehr strenge Auflagen für Rüstungsexporte gibt. Waffen und Kriegsgerät dürfen nicht einfach so verkauft werden. Darüber ereifern sich die Darsteller in teilweise hektischen Tiraden, unterstützt von einer fulminanten Kindergruppe, die sehr engagiert mitspielt (Rasmus Armbruster, Anna Gesche, Luca Herr, Hosea Hellebrandt, Mia Koenen, Nikolai Krafft, Xenia Leonhard, Amadeus Lerch, Emanuelle Lerch, Katinka Lerch, Lena Neumann, Vildan Rizai, Jan Rohrbacher, Frieda Schwenk). Der Autor Philipp Löhle hinterfragt die Geschehnisse mit psychologischem Hintersinn. Es wird die Frage gestellt, warum das hochmoderne Schnellfeuerwehr aus der Kleinstadt immer wieder in den Krisengebieten der Welt auftaucht. Gelegentlich driftet alles in grotesk-revuehafte Szenen ab, die sich visuell stets verdichten. Selbst Kaiser Wilhelm II. kommt zu Wort, dem Paul Mauser (Büchsenkonstrukteur aus Oberndorf) seine neue Waffe vorstellt.

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Christian Czeremnych, Berit Jentzsch, Susanne Schieffer und Kinderstatisterie. Copyright: Conny Mirbach

Der Regisseur Dominic Friedel macht Zeitungsartikel über deutsche Waffen in Mexiko zu einem weiteren Thema seiner durchaus facettenreichen Inszenierung. Vor 1918 tobt der Krieg, beherrscht die Bühne, die Kinder stürzen atemlos von Ort zu Ort, Waffenpatronen werden mühsam ins Gewehr eingesetzt: „Verrückt, was so eine Technik alles kann!“ Und der Konstrukteur versichert beherzt: „Mein Kaiser, ich bin Geschäftsmann.“ Die Bühne von Peter Schickart (Kostüme: Ann-Christine Müller) scheint sich immer weiter zu vergrößern. Und die Musik und das Sounddesign von Malte Preuss passen sich der stimmungsvollen Choreographie von Berit Jentzsch minuziös an. Man merkt in der Inszenierung rasch, dass es Philipp Löhle um das Unvermögen und die Unzulänglichkeit geht, sich adäquat über die Dinge zu verständigen. Die Kinder mimen auch souverän und fast schon humorvoll Mütter, die sich über ihre Söhne unterhalten, die mit Waffen zu tun haben und sich dann gegenseitig erschießen: „So hätte es sein können, wenn wir Mütter wären.“ Plötzlich schlägt eine Rakete neben der Gruppe ein – und die Inszenierung gewinnt in rasanter Weise an Fahrt. „Wo ist die Feuerschlange?“ lautet die hastige Frage, die niemand beantworten kann. Die korrupte Polizei soll schließlich mit Waffengewalt bekämpft werden. Das Volk jubelt zuletzt und freut sich über das Kriegsende. Ein Veteran erklärt entnervt: „Ich häng‘ mich an den nächsten Strick und räume das Gelände!“ Man denkt gelegentlich auch an das Monster-Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus. Und die Kindergruppe meint in Unisono-Präsenz: „Moral, wer legt die denn fest?!“ Und alles jubelt: „Der Führer tot, die anderen haben gewonnen!“ Alles läuft immer mehr moritaten- und revuehaft ab: „Und so endet diese Geschichte eines großen Mannes, der immer kleiner wurde…“

Zuletzt berührt die Schluss-Szene, wo eine Mutter verzweifelt ihr Kind retten will und es schließlich verlassen muss. Philipp Löhle will den Regisseur hier ganz bewusst vor erhebliche Probleme stellen, die es zu lösen gilt. Rhythmus und Sound hat Dominic Friedel als Regisseur sehr einfühlsam und klar herausgearbeitet. Zuweilen denkt man auch an IS-Terroristen, die mit deutschen Gewehren posieren. Friedel konnte sich die Episoden aussuchen, die er für die Inszenierung besonders interessant findet. Man spürt, dass er viel über die Leute nachdenkt, mit denen er in der Probe arbeitet. Und der Autor Philipp Löhle wollte erst selbst einmal schießen, bevor er sich ans Schreiben dieses ungewöhnlichen Textes machte. „Dies ist die Zeit der fünften Sonne“, erklärt ein Kind. Und man begreift rasch, dass es keine Garantie gibt, dass die fünfte Sonne nicht auch irgendwann vergeht. Für das gesamte Team gab es begeisterten Schlussapplaus aufgrund der starken Bühnenpräsenz.

 
Alexander Walther

 

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