Uraufführung E.Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen im Kammertheater Stuttgart
VON FLIEGENDEN SCHUSTERN UND VERRÜCKTEN LUFTFAHRTPIONIEREN
Uraufführung im Kammertheater von Jan Neumann – „E. Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen“ am 20. Januar 2017/STUTTGART
Manuel Harder, Lea Ruckpaul, Susanne Schieffer, Mark Ortel, Boris Burgstaller. Copyright: JU
Töchter und Söhne Stuttgarts werden in dieser ungewöhnlichen „Stückentwicklung“ von Jan Neumann konsequent beleuchtet. Die fulminanten Schauspieler Boris Burgstaller, Manuel Harder, Mark Ortel, Lea Ruckpaul, Susanne Schieffer und Birgit Unterweger lassen im mit Holzgerüsten ausgestatteten Bühnenbild von Dorothee Curio und den auf Tiere spezialisierten Kostümen von Nini von Selzam sowie der Musik von Thomas Osterhoff das Leben dieser recht skurrilen Stuttgarter Protagonisten Revue passieren. Da erscheint der verrückte Cannstatter Schuster Salomon Idler, der im 17. Jahrhundert bei einem Flugversuch in eine Holzbrücke stürzte. Der Schuster wollte nach dem Tod von vier Hühnern nur noch Poet und Schauspieler sein.
Weitere Luftfahrtpioniere und nationalsozialistische Prähistoriker werden in dieser rasanten, komischen und grotesken Inszenierung messerscharf aufs Korn genommen. Insbesondere Birgit Unterweger steigert sich in ihre Schilderung der Euthanasie-Morde der Nazis in heftiger Weise hinein.
Auch der „Verfasser Katalogkunde“ wird beleuchtet, ganz zu schweigen vom Erfinder der Fliegenklatsche. Kunsterzgießer und Giftgasentwickler stürmen über die Bühne, deren Aussehen sich immer wieder verändert. Es sind Persönlichkeiten, die in Vergessenheit geraten sind und von Neumann wieder mit prallem Leben gefüllt werden. Das ist ein spannender Prozess, der durchaus elektrisierend wirkt und die Zuschauer nicht kalt lässt. Diese Unbekannten und Vergessenen stellen sich hier grell ins Rampenlicht: „Wenige Tage vor Eintritt in den Ruhestand, lang ersehnt, lehnt Emil Bauer, Kriminalhauptkommissar, seinen korpulenten Körper an die mit zarten Blumen verzierte Tapete eines Zimmers…“ Es geht bei dieser ungewöhnlichen Uraufführung um jene Spuren, die wir vom Gewesenen noch lesen können. Vom Leben soll in jedem Fall eine Spur bleiben. Biografien sind auch hier davon geprägt, etwas zu schaffen oder zu zerstören. Die Verstrickungen und Verknüpfungen zwischen den Einwohnern dieser Stadt fesseln die Zuschauer, weil sie spüren, wie sehr dieser Aspekt Jan Neumann interessiert.
Susanne Schieffer, Boris Burgstaller, Lea Ruckpaul, Mark Ortel. Copyright: JU
Im Wikipedia-Eintrag der Stadt hat Neumann diese Töchter und Söhne Stuttgarts gefunden, von denen er sich rasch ein Bild machen kann. Er findet Unsterbliche, die plötzlich in den Listen und Archiven auftauchen. Diese Erkenntnis überträgt er auf seine Inszenierung. Der Mensch wird hierbei in all seiner verrückten Komik und Exzentrik geschildert. Die Biografie wird so zum Magazin der menschlichen Erfahrung. Ein Sammelsurium des Lebens wird so als Welt erfahrbar, was die Schauspieler gut verdeutlichen. Durch Gespräche und Materialien haben Neumann und die Schauspieler gemeinsam versucht, was sie an den Biografien berührt und interessiert. Improvisationen werden deswegen bei dieser Inszenierung großgeschrieben. Erfolge, Misserfolge, Geburt, Tod, Heirat und Krankheiten laufen dabei wie eine Film-Sequenz ab, es ist eine verrückte Reise ins Ungewisse, die von den Schauspielern mit Intensität gemimt wird. Die gemeinsame Erzählung steht deutlich im Mittelpunkt. Es ist eine theatralische Erkundungstour, die spannungsvoll verläuft. Und der Sprung ins Leere gelingt meistens. Luftballons versinnbildlichen die Geburt von Kindern – und wenn sie zerplatzen, wird ihr Tod geschildert. Ein „Erklär-Bär“ tritt zusammen mit Schwein und Krokodil auf, selbst ein Storch ist mit von der Partie, der danach von Kugeln getötet wird. Ein schauspielerischer Paukenschlag, den Birgit Unterweger genussvoll zelebriert. Sie imitiert auch eine bekannte Stuttgarter Radiosprecherin aus den 20er Jahren, deren Gedicht vom „Wassertröpfle“ mit schwäbischem Sarkasmus vorgetragen wird. Selbst Friedrich Hölderlin hat Stuttgart poetisch besinnlich verewigt: „Wieder ein Glück ist erlebt. Die gefährliche Dürre geneset, und die Schärfe des Lichts senget die Blüte nicht mehr…“ Diese seltsame Stückentwicklung entwickelt sich vom Stoff und vom Thema her, dabei entfalten auch die Arbeits- und Spielformen eine ungeheure Aktivität und Präzision. Dies ist auch dann der Fall, wenn der biedermeierlich-pietistische Geist Stuttgarts im 19. Jahrhundert bloßgestellt wird. Die große Anzahl von Geschichten und Figuren gipfelt in der absurden Verwandlung der Menschen in Tiere, die zu krächzenden Papageien mutieren, die „FDP“ und „RAF“ durcheinanderwürfeln. Und die an den einzelnen Holzwänden hängenden Bilder scheinen eine ganz eigene Sprache zu sprechen. Rembrandt lässt auf irritierende Weise grüßen. Scheitern und Erfolg im Leben eines Menschen geraten zu Pointen des Schicksals, die die Zuschauer nachdenklich werden lassen. Man bewundert diese schwäbischen Tüftler und Genies, die massenweise Patente erfunden und die Automobilindustrie entscheidend befruchtet haben. Zwischen russischen Geisterstimmen mit Hall-Effekten erregen kabbalistische Impressionen das Gemüt. Cannstatter Affen machen zudem das Auditorium unsicher. Plötzlich erscheint Prinzessin Antonia von Württemberg, die sich ebenfalls der Wissenschaft verschrieben hat. Zuweilen gelingt Jan Neumann sogar eine liebevolle Sichtweise auf die Stuttgarter Bürger der damaligen Zeit, die sich vergeblich aus der sie umgebenden Enge befreien wollen. 2011 erhielt Jan Neumann nicht umsonst den Förderpreis Komische Literatur Kassel.
Es ist eine Uraufführung, die eigentlich einen schmunzelnden Blick auf das Panoptikum der unergründlichen schwäbischen Seele wirft (Dramaturgie: Carmen Wolfram). Der berüchtigte schwäbische Geiz und die Kleinlichkeiten im Zusammenleben der Menschen geraten in den Fokus des Geschehens. Großen Applaus gab es für diese komödiantischen Höhenflüge, weil auch Jan Neumanns Personenregie neue Wege geht.
Alexander Walther