Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

STUTTGARTER BALLETT: „SHADES OF BLUE AND WHITE“ 1.2. 2024 (WA-Premieren) – von Klassik pur bis zerlegt

03.02.2024 | Ballett/Performance

Stuttgarter Ballett

„SHADES OF BLUE AND WHITE“ 1.2. 2024 (WA-Premieren) – von Klassik pur bis zerlegt

udo2
Klassik in Reinkultur: Elisa Badenes und Adhonay Soares Da Silva im „Königreich der Schatten“. Foto: Stuttgarter Ballett/Roman Novitzky

 

Im Oktober 2018 hat Ballettintendant Tamas Detrich seine Amtszeit mit einem Programm unter dem Titel „Shades in White“ gestartet. Jetzt wurde dieses Motto durch ein blaues Mittelstück erweitert, wodurch nun an einem Abend die ganze Bandbreite dessen zu sehen ist, was Klassik in ihren verschiedensten Formen bedeutet. Gleichzeitig ist es auch die Leistungsschau einer Compagnie, die in allen diesen Ausprägungen zuhause ist, wenn auch die Stärken des Stuttgarter Balletts mehr bei der Neoklassik und moderneren Verzweigungen liegen als beim mit höchster Perfektion verbundenen akademischen Tanz wie im „KÖNIGREICH DER SCHATTEN“. Das Corps de ballet der 24 in Serpentinen von einer Rampe in langsamen Arabesque-Balancen die Bühne erobernden Schatten zeigte sich vor 5 Jahren, damals von Choreographin Natalia Makarova (nach Marius Petipa) persönlich einstudiert, als geschlosseneres, eine einheitlichere Linie bewahrendes Ensemble, wo es jetzt doch den einen oder anderen Mangel an Synchronität, vor allem in den Beinen, zu beobachten gab. Dennoch ist es für eine Compagnie, die die Klassik in Reinkultur nicht tagaus tagein zu ihren Hausaufgaben zählt, auch jetzt wieder eine bewundernswerte Demonstration an Gleichgewichts-Disziplin und musikalischer Einfühlsamkeit.

Die solistisch im Zentrum stehende Bayadere Nikija, die ihrem Geliebten Solor in dessen Opiumrausch als Traumgestalt wiederkehrt, ist auch jetzt wieder bei Elisa Badenes in besten Händen bzw. Beinen, so rollengerecht traumwandlerisch ausgezirkelt ist ihre Spitzen-Agilität sowohl in langsam getragenen wie in atemberaubend virtuosen, diagonal über die Bühne geführten Passagen. In Verbindung mit still anmutiger Präsenz erzielt sie eine Würde, wie sie solchen Geistererscheinungen eigen ist. Als Solor besticht Adhonay Soares Da Silva vor allem als stilsicherer, Sprünge und Drehungen organisch, mühelos und musikalisch erfühlt miteinander verbindender Solist, als Partner begegnet er Badenes nicht ganz auf Augenhöhe, die Hebungen weisen eine hinsichtlich der Körpergrößen des Paares nicht ganz so leichte Form auf. In den drei Solo-Variationen präsentierten sich die Solistinnen Daiana Ruiz und Veronika Verterich sowie an Sicherheit keineswegs nachstehend die jüngst von der Cranko-Schule ohne Eleven-Jahr direkt ins Corps de ballet übernommene Abigail Willson-Heisel als vielleicht künftige Nikijas. Dieser in sich geschlossene weiße Akt aus Petipas „La Bayadere“ beweist auch jetzt wieder seine Berechtigung als getrennte, für sich stehende Ballettkunst.

udo1
Kontrastierendes Paar: Rocio Aleman und David Moore in „Blake Works I“. Foto: Stuttgarter Ballett/Roman Novitzky

Kontrastprogramm nach der ersten Pause: „BLAKE WORKS I“, ein Spätwerk von William Forsythe als Reminiszenz an das klassische Ballett, 2016 vom Ballett der Pariser Oper aus der Taufe gehoben und 2021in Stuttgart zur deutschen Erstaufführung gebracht. Dort wo der Amerikaner 1973 als einer der letzten noch von Cranko engagierten Tänzer begann und auch seine Karriere als Choreograph startete. Einige seiner Arbeiten gehörten hier zum festen Kanon, in den letzten Jahren indes nur noch sporadisch. Umso mehr war jetzt die Freude zu spüren, mit der die Tänzer sich den typischen Aufspaltungen klassischer Formen hingaben und sich vom Rhythmus der Musik, sieben titelgebenden Elektro-Popsongs von James Blake auch mal groovend treiben lassen. In hellblauen Trikots vereinnahmen sie die Bühne in ständig wechselnden Formationen, wechseln fortlaufend die Richtung, neigen die Köpfe mal nach hinten, mal zur Seite und kippen aus Spitzenpositionen immer wieder aus der Achse. Gelenke werden verschoben ausgerichtet, Hüftbewegungen lässig betont, kurze Einstellungen auch mal überakzentuiert oder mit einer Note leichten Spotts gemischt. Aus der Gruppe voller Individualitäten lösen sich auch kurze Soli, wie z.B. eines mit dem mitreißende Fröhlichkeit und Lockerheit vermittelnden Flemming Puthenpurayil. Es bilden sich auch Trios, zwei Sätze sind auf jeweils ein Paar reduziert. Zum einen Elisa Badenes, die hier wieder eine ganz andere Seite ihrer höchsten Kunst demonstriert, an der Seite des in Oliv gehüllten Außenseiters, von Jason Reilly mit überlegenem, aber nicht überheblichem Stimmungs-Profil erfüllt; zum anderen das hinsichtlich Ausdruck etwas divergente, durch diesen Kontrast wiederum Spannung erzeugende Paar Rocio Aleman und David Moore. Herauszuheben sind noch Mackenzie Browns Coolness und auch in kantigen Ausuferungen federnde Gelenkigkeit sowie die ansteckende Glückseligkeit, mit der Matteo Miccini die ganze Bühne auszustrahlen vermag.

Bei aller Auflösung klassischer Linien setzt sich alles wieder zu einem Bild zusammen, das Forsythes Liebe zum Tanz, mal nachdenklich, mal ausgelassen frech begreifbar macht.

udo5
Musikalische Tiefe: Agnes Su und Jason Reilly in „Siebte Sinfonie“ Foto: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Auch Uwe Scholz 1991 hier uraufgeführtes Meisterwerk „SIEBTE SINFONIE“ gehört zu den weißen Balletten, wenn auch nicht im historisch klassischen Zusammenhang. Die weißen Ganzkörper-Trikots, durchwirkt von Farbstrichen des im Hintergrund als Durchlass-Tor nachempfundenen Gemäldes Beta Kappa von Morris Louis, unterstützen darin, ergänzt von den Lichtwechseln, die insgesamt dominierende Helligkeit und lebensbejahende Kraft der Choreographie. Scholz genialer musikalischer Sinn offenbart sich in einer strukturellen Feinnervigkeit, die den motivischen Verflechtungen von Beethovens Musik detailgenau und in Zusammenhängen denkend nachspürt. So wird die in verschiedenen Diagonalen geführte Gruppe, bestehend aus 12 Paaren, wechselnd aufgeteilt und der Musik folgend in wiederholten Formationen zusammengesetzt. Das Erbe lupenreiner Konzentration auf Tanz und Musik von Balanchine erweiterte er um diese innere kompositorische Ebene. Anfangs stehen die Tänzer mit dem Rücken zum Publikum, z.T. die Arme wie zu Flügeln angewinkelt oder nach hinten geneigt. Auffallend sind auch im Spagat über die Bühne gezogene Damen, ausgedehnte Hebungen, aber auch Momente stiller Neigung wie im zweiten Satz, wenn die Tänzer sich auf verdunkelter Bühne um einen Lichtkreis gruppieren.

Das Hauptpaar ist bei Jason Reilly und der debutierenden Agnes Su in besten Händen, er mit seiner enormen partnerschaftlichen Vertrauensgabe, sie mit einem weich schmiegsamen Bewegungs-Stil, der ganz dem Fluss der Musik zu folgen vermag.

An zweiter und dritter Stelle glänzen besonders Miriam Kacerova in ihrem ersten Auftritt nach der zweiten Babypause, apart und berührend wie zuvor, an der Seite des flexiblen Marti Fernandez Paixa sowie die powervolle Daiana Ruiz geführt vom zunehmend stärkeres Profil gewinnenden Fabio Adorisio

Die enormen Herausforderungen in der Kombination von technisch-musikalischer Genauigkeit und tänzerischer Leichtigkeit werden bei dieser ersten Wiederaufnahme seit vielen Jahren auch von der großteils neu zusammen gesetzten Gruppe vollumfänglich erfüllt, dem Sog des Werkes in totaler Übereinstimmung von Klang und Bewegung können sich Tänzer als auch das Publikum nicht entziehen. Und so wollte der Jubel, in den auch das insgesamt sauber spielende und gerade bei Beethoven mehr als nur brav die Noten wiedergebende Staatsorchester Stuttgart unter der inspirierenden Leitung von Mikhail Agrest miteinbezogen wurde, nicht so schnell ein Ende nehmen.

 Udo Klebes

 

Diese Seite drucken