STUTTGART/ Wilhelma-Theater: Musiktheater „Hans und Grete“ von Huihui Cheng im Wilhelmatheater am 21.1.2023/STUTTGART
Viele Eskalationsstufen
1977 fand man im Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim drei tote Inhaftierte, die die Bundesrepublik in den 70er Jahren in Angst und Schrecken versetzt hatten. Das Musiktheater „Hans und Grete“ der chinesischen Komponistin Huihui Cheng beleuchtet Ideen und Taten von einigen Protagonisten der Roten Armee Fraktion (RAF) und untersucht die Parallelen zu unserer heutigen Zeit, die mit den „Klimaterroristen“ um Greta Thunberg konfrontiert ist. Der größte Teil der verwendeten Texte sind Originaltexte von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Holger Meins aus Quellen wie Briefen, Manifesten, Tonaufnahmen und Interviews. Hinzu kommen Zitate aus „Leviathan“ von Thomas Hobbes, „Moby Dick“ von Hermann Melville sowie aus Gerichtsprotokollen, Gesetzen und Arztberichten. Die RAF protestierte mit Kaufhausbrandstiftungen vor allem gegen den Vietnam-Krieg. Dann entführte und ermordete sie den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und erklärte dem Staat den Krieg.
Der Regisseur Bernd Schmitt hat eine Schauspielerin (wandlungsfähig: Lena Entezami) und einen Schauspieler (souverän: Werner Strenger) in zwei Greenscreen-Räumen gefangen, die von Kameras beobachtet werden. Die Bilder werden hier live verarbeitet und im Keying-Verfahren in andere Konstellationen montiert. Gut gelungen ist im Bühnenbild die Silhouette des aus dem Meer aufsteigenden Riesenwales Moby Dick. Moby Dick und Leviathan als Staat und Ungeheuer fusionieren hier in geheimnisvoller Weise. Dabei mutiert Andreas Baader zum legendären Kapitän Ahab, der schließlich vom Wal verschlungen wird. Zur Sprache kommt auch der Skandal um den „Spiegel“-Essay des Schriftstellers Heinrich Böll im Jahre 1972, der mit dem Bildzeitungsartikel „Die Bölls sind gefährlicher als Baader-Meinhof“ endete. Unregelmäßige Rhythmen nutzt die Komponistin Huihui Cheng zu interessanten elektroakustischen Improvisationen mit sechs Sängerinnen und vier Sängern, deren Stimmen und Körper einen voluminösen Resonanzraum bilden.
Unter der musikalischen Leitung von Bernhard Epstein wird diese facettenreiche Klangcollage eindringlich beleuchtet. Alles wird dabei ohne Instrumente interpretiert. Die Vokalpartien besitzen große Intervallspannungen, die von den Interpreten konsequent und auch klangfarbenreich umgesetzt werden. Es sind Studierende der Opernschule und des Studiengangs Neue Musik der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Sopran (Annija Adamsone, Danielle Barash, Dominika Majdanova), Mezzosopran (Jasmin Hofmann, Christina Maier, Elena Tasevska), Tenor (Leopold Bier, Adam Brusznicki, Lars Tappert) und Bariton (Will Kim) zeigen hier einen großen harmonischen Ausdrucksreichtum mit kontrapunktischen Finessen. Vor allem die dramatische Zuspitzung des Geschehens erreicht bei der Misshandlung des Mannes durch die Chorgruppe seinen Höhepunkt. Der im Hungerstreik gestorbene Holger Meins brachte es auf den Punkt: „Unsere letzte und stärkste Waffe ist unser Körper, ihn haben wir kollektiv eingesetzt“.
Der Körper spielt bei der interessanten und abwechslungsreichen Inszenierung von Bernd Schmitt in der Tat eine große Rolle. Man denkt auch an Helmut Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, wo Texte von Gudrun Ensslin verarbeitet werden. Die suggestive Musik von Huihui Cheng beeindruckt mit Hilfe der Live-Elektronik und des Live-Videos durch ihre konsequenten Eskalationsstufen und chromatischen Spitzfindigkeiten. Und das Libretto von Bernd Schmitt stellt die Beschimpfungen der RAF-Mitglieder untereinander heraus, die sich „Fotzenbedürfnisse“ und das Verhalten einer „scheinheiligen Sau“ vorwarfen. Ulrike Meinhof ging an den Angriffen von Gudrun Ensslin zugrunde. „Hans und Grete“ bezieht sich als Titel auch auf das Märchen „Hänsel und Gretel“ der Gebrüder Grimm. Geister, Dämonen und Alpträume quälen hier vor allem den Mann, der zum Opfer dieser Körperklänge wird. Sprache, Atem, Herzschlag und Muskelkontraktion werden in den kompositorischen Prozess eingebunden. Vampirismus und Zwangsernährung kommen vor allem im Zusammenhang mit Holger Meins zum Vorschein. Der Sounddesigner Felix Nagl stellt die surrealen Klangeindrücke immer wieder hypnotisch heraus. Man kann darüber streiten, ob der Einsatz von Instrumenten dieses Werk nicht noch interessanter machen würde. So ist ein beklemmendes Werk entstanden, das beim Publikum seine Wirkung nicht verfehlte.
Alexander Walther