Puccinis „La Boheme“ mit der Opernschule der Stuttgarter Musikhochschule im Wilhelma-Theater am 2. Februar 2025/STUTTGART
Drama unter dem Sternenhimmel
In der Regie von Franziska Severin rückt die bewegende Geschichte der bitterarmen Frau Mimi deutlich in den Mittelpunkt. Sie ist wie Musetta auf der Suche nach dem Glück. Und die vier jungen Männer um sie herum sind nicht bereit, sich anzupassen. Doch Mimi weiß hier auch ganz genau, was sie will. Denn erstmals betritt eine Arbeiterin die Opernbühne, was bei dieser Inszenierung deutlich wird. Näherinnen lebten in Paris am Rande des Existenzminimums. Die Tuberkulose, an der sie stirbt, ist eine Berufskrankheit. Rodolfo fühlt sich der Verantwortung gegenüber Mimi nicht gewachsen und flüchtet sich in Eifersuchtsdramen. Die Beziehung zerbricht, kaum zwei Monate nachdem sie begonnen hat. Mimi stirbt zuletzt an Tuberkulose. Bühne und Kostüme von Michael S. Kraus beachten nicht nur die Atmosphäre der Künstlermansarde, sondern auch die umtriebige Stimmung der bunten Menge am Weihnachtsabend auf den Straßen des Quartier Latin bis hin zum einsetzenden Konfettiregen. Die Schluss-Szene in der Dachkammer wird umrahmt von einem Sternenhimmel und einem seltsamen Tor mit einem angedeuteten Vampirgesicht, das alles verschlingt.
Diese seltsame Atmosphäre hat sich schon in der schneerieselnden Winterfrühe der Barriere d’enfer angekündigt. Naturalismus und Echtzeitdramaturgie gehen ineinander über, könnten aber auch noch stärker akzentuiert werden. Das ständige Thema des Hungers und der Armut tritt grell hervor. Rasmus Baumann zaubert als umsichtiger Dirigent mit dem Hochschulsinfonieorchester der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart das stimmungsmäßige Moment dieser Oper einfühlsam hervor. Die Fülle kleiner Themen und Motive blüht immer wieder auf, sie werden zu einem ausdrucksvollen harmonischen Gewebe verbunden. Die Geigen agieren mit geradezu leidenschaftlicher Melodik. Auch die Rhythmik ist hier in einem ständigen Wechsel, der den Hörer unmittelbar fesselt. Dies überträgt sich auch auf die Sängerinnen und Sänger – allen voran Lisa Eisenreich als Mimi. Die Liebesszene zwischen Mimi und Rodolfo im ersten Bild überzeugt aufgrund ihrer fortwährenden Ausdruckssteigerung. Und auch der Musette-Walzer im zweiten Bild gerät zu einem überaus stimmungsvollen Kontrastmoment. Im dritten Bild spürt man dann das geheimnisvolle Schneetreiben an der Barriere d’enfer. Die Herzen der Protagonisten sind belastet. Im Schlussbild überzeugt nochmals das Duett Rodolfos und Marcellos sowie Collines Mantellied. Musetta bringt den Muff und lässt Mimi in dem Glauben sterben, es sei ein Geschenk von Rodolfo. Die Erinnerungsmotive leuchten hell hervor. Die große Sogkraft von Puccinis Melodik überträgt sich hier auch auf die anderen Sängerinnen und Sänger. So besticht der Walzer der Musetta mit Elena Salvatori mit strahlkräftigen Kantilenen. Nicolas Calderon als Rodolfo kann sich dem Melos mit starker Höhenlage mühelos anpassen. In weiteren Rollen fesseln Arthur Adams-Close als Marcello, Marius Sebastian Aron als Schaunard, Shunya Goto als Colline, Hannes Nedele als Alcindoro, Paolo Maria als Parpignol, Marko Korpela als Sergente sowie Jonathan Paulsen als Doganiere. Der Chor agiert voller Emotion und Emphase.
Rasmus Baumann gelingt es mit dem Ensemble sehr gut, die Gegensätze der Handlung in der Musik wiederzugeben. Themen und Melodien werden kurz und bedeutsam wiederholt. Der zweite Akt gleicht hier einem stürmischen Scherzo, während der dritte wie ein zartes Andante wirkt, das bis in die Schluss-Szene hineinklingt. Der Streit zwischen Musetta und Marcello wird überaus temperamentvoll und heftig ausgefochten. Es ist eine ungestüme und oberflächliche Affäre, die im Gegensatz zur tiefen Liebe von Mimi und Rodolfo steht. Sehr berührend gelingt Lisa Eisenreich als sterbende Mimi das Zitat aus Rodolfos Arie – das Leimotiv ihrer erwachenden Liebe. Natürlich spürt man das Zeitalter des Verismus, aber Puccinis „Boheme“ ist auch hier deutlich mehr lyrisch wie etwa „Tosca“. Puccini war übrigens über die ersten Rezensionen seines Werkes verärgert. Ein führender Turiner Kritiker meinte gar, dass“La Boheme“ in der Geschichte „unserer Oper“ kaum Spuren hinterlassen würde. Ein Kritiker aus Genua betonte jedoch: „Vielleicht bin ich ein Optimist, aber ich sage dieser Oper eine glänzende Karriere voraus.“ Womit er Recht behalten sollte. Die Nähe zu Puccinis „Manon Lescaut“ ist immer wieder deutlich zu spüren. Jubel und viele „Bravo“-Rufe für diese gelungene Produktion der Opernschule.
Alexander Walther