Stuttgarter Ballett „VERFÜHRUNG!“ 4.3. 2017– Neue An- und Einsichten
Abgesehen vom finalen „Bolero“, dessen faszinierender Wirkung es unabhängig von der Besetzung schwer fällt sich zu entziehen, gehörte die zentrale Aufmerksamkeit an diesem Abend der Halbsolistin Rocio Aleman. Die Spanierin hatte nämlich gleich zwei Debuts zu absolvieren, die in ihren Ansprüchen nicht gegensätzlicher sein könnten. Das erste betrifft ihren recht umfangreichen Pas de deux-Part in „DARK GLOW“. Das erste Auftragswerk an Katarzyna Kozielska für die große Bühne und mit Live-Orchester hat leider auch bei der dritten Betrachtung nicht mehr Positiva zutage gefördert als bei der Uraufführung vor vier Wochen. Ihrer ambitioniert nach neuen Mustern des klassischen Spitzentanzes suchenden und durchaus musikalischen Handschrift steht die überwiegend dunkel gehaltene und musikalisch einseitig düster abgründige Musik von Gabriel Prokofiev eher sperrig gegenüber, wo zur Konkretisierung der beiden Seiten medialer und religiöser Verführung Kontrastwirkungen gefragt wären.
Doch nun zu Rocio Aleman, die sich unterstützt von ihrem gewissenhaft exakten und sicher führenden Partner David Moore in ihren Part fallen lassen und eine Spannung aufzubauen vermochte, die der wie erwähnt etwas einseitig ausgerichteten Choreographie wertvolle Impulse gibt.
Völlig andersartig gefordert war die aufwärts strebende Tänzerin in Marco Goeckes eigenwilliger (Auf-)Fassung von „LE SPECTRE DE LA ROSE“. Hier gelang es ihr über den wie unter Dauer-Motorisierung vielfachst variierter Flatter-Bewegungen der Arme und Hände stehenden Körper hinaus eine Seele einzuhauchen und das Erspüren des Rosengeistes fühlbar zu machen. Ihr soweit es die Choreographie ermöglicht präzises Reagieren auf Webers Musik und ihr lustvolles Aufgreifen des spielerischen choreographischen Umgangs mit rhythmischen Akzenten weist sie als Tänzerin mit klarem Profil und künstlerischer Einfühlsamkeit aus. Da dürften die Hauptrollen des Repertoires nicht mehr allzu ferne liegen. Auch mit Louis Stiens, der den zentralen Part ebenso plastisch prägnant wie locker durchgeformt mit einem Schuss Magie auszufüllen vermag, spricht diese Kreation aller Irritationen, Brüche und der unnötigen Erweiterung durch Webers „Beherrscher der Geister“ zum Trotz als immer wieder Staunen machendes, weil von den Tänzern so brillant ausgefülltes Kunstwerk für sich selbst.
Wie der „Bolero“ erweist sich Sidi Larbi Cherkaouis den ursprünglichen Kulturkreis sprengender „FAUN“ unabhängig von den Interpreten als fesselnder Hingucker. Entscheidend ist deren Bewegungsqualität gepaart mit zumindest einem Schuss Sinnlichkeit. Beim jüngst zum Solisten erhobenen Adhonay Soares Da Silva kommt noch die Optik eines Teenagers hinzu, der bei der Erkundung seines Körpers und der Begegnung mit der verweltlichten Nymphe die Sexualität entdeckt. Mit seinem ebenmäßig gebauten Körper und seiner fließend funktionierenden Technik setzt er die geerdete und in ihren verschlungenen Pfaden doch immer wieder schwebend leichte Choreographie ebenso anschaulich wie geschmackvoll um. Auf derselben Qualitäts-Ebene befindet sich die Halbsolistin Agnes Su, einer weiteren nachwachsenden Hoffnungs-Trägerin der Compagnie.
Alicia Amatriain in“Bolero“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Die führende Melodie des „BOLERO“ lag diesmal in weiblichen Händen, was die ursprüngliche Besetzung des Stückes mit einer Frau wieder ins Bewusstsein ruft. Erst später wurde dieser Repertoire-Knüller zum Inbegriff männlicher Erotik im Spiel mit deren muskulösen Oberkörpern. Was letztlich zählt, ist eine langsam anschwellende, dauerhaft aus dem Körper heraus erfolgende Schwingung sowie eine unablässige Verknüpfung der unterschiedlichst ausgerichteten Bewegungsformen. Alicia Amatriain ist in ihrer unendlich scheinenden Biegsamkeit wie geschaffen dafür und lässt ihre lange Berufserfahrung einfließen. Andererseits bekommt die Wiedergabe durch ihren eher herb ausgerichteten Charakter einen wilden, fast hexenhaften Anstrich, der zum weichen Motions-Fluss der Ersten Solistin irritierend kontrastiert. Aber wie schon gesagt: die Gesamtwirkung garantiert hier selbstredend für sofort ausbrechende und viele Vorhänge fordernde Begeisterung. Darin einbezogen wurde auch das Staatsorchester Stuttgart, das unter der Leitung von James Tuggle diesmal auch Ravels soghaft an Farbe gewinnende Melodie ungetrübt zum Klingen brachte.
Udo Klebes