Wiederaufnahme „Der Idiot“ von Dostojewskij am 1. November 2025 im Theater Atelier/STUTTGART
Konzentrierte Handlung auf den Punkt gebracht

Copyright: Stuttgart Theater Atelier
In der Inszenierung von Vladislav Grakovskiy erlebte „Der Idiot“ nach Fjodor Dostojewskij seine Wiederaufnahme. Der 26-jährige Fürst Lew Myschkin kehrt nach einem fünfjährigen Aufenthalt in einem Schweizer Sanatorium nach Russland zurück, um in Sankt Petersburg nach dem Tod eines Verwandten eine Erbschaftsangelegenheit zu klären. Obwohl seine Epilepsie erfolgreich behandelt wurde, haben sich durch seine Isolation kindlich-naive Verhaltensweisen erhalten. Er gilt deswegen in der Gesellschaft als „Idiot“, als weltfremder Sonderling. Diesen Aspekt verdeutlicht Grakovskiy in seiner Inszenierung sehr überzeugend. Kostüme und Ausstattung von Lara Kamysina unterstreichen diese Situation in ihrer berührenden Schlichtheit. Schicksalhaft erfolgt die Bekanntschaft Myschkins mit dem durchtriebenen Kaufmann Rogoschin. Er lernt auch Aglaja, die Tochter des Generals Jepantschin, kennen. Vor allem nimmt er an der Geburtstagsfeier der sozial ausgegrenzten Geliebten des reichen Großgrundbesitzers Tozkij, Nasstassja Filippowna Baraschkowa, teil. Rogoschin bietet für Nastassja Filippowna 100000 Rubel. Auch Myschkin wirbt um sie, weil er ein vorhersehbares Unglück der Beteiligten verhindern möchte. Am nächsten Tag verlassen der Fürst, Nastassja und Rogoschin Petersburg – und es entwickelt sich zwischen ihnen eine tragisch endende Liebesbeziehung.
Es ist der Vorzug dieser Inszenierung, dass die komplizierten Beziehungen zwischen diesen Protagonisten konzentriert auf den Punkt gebracht werden. Während sich der Fürst aktiv um Nastassja bemüht hat, geht bei der Konkurrenzbeziehung die Initiative von Aglaja aus. Dies steht im Zusammenhang mit Nastassjas Plänen. In ihrer widersprüchlichen Art möchte sie Myschkin zu seinem Glück verhelfen. Deshalb schreibt sie Aglaja, die bereits eine Zuneigung zum Fürsten empfindet, dieser sei in sie verliebt und sie solle ihn heiraten. Die Inszenierung fokussiert sich also ganz auf diese vier Figuren. Die Situation eskaliert, als Nastassja in einem hysterischen Anfall ihre persönliche Macht demonstrieren möchte und Rogoschin befiehlt, zu verschwinden. Gleichzeitig fordert sie den Fürsten auf, sie zu heiraten. Jetzt geht die eifersüchtige Aglaja auf Nastassja los. Fürst Myschkin ist unfähig, dieser Situation Herr zu werden. Kai Plaumann gelingt es im Laufe des Stückes immer besser, den psychischen Verfall des Fürsten Myschkin herauszustellen. Die Inszenierung unterstreicht die seelischen Stimmungsschwankungen der Protagonisten mit starken Lichtwechseln und imaginären Straßengeräuschen. Aglaja verlässt tief enttäuscht das Haus, weil für sie die Ehefrage gelöst ist. Marja Rothenhöfer als Nastassja und Ksenia Lakmut als Aglaja haben gerade bei diesen persönlichen Auseinandersetzungen ihre stärksten darstellerischen Momente. Femi Morina als Rogoschin stellt auch den skrupellosen Charakter dieser Figur heraus, die durchaus dämonische Züge besitzt, weil sie Myschkin in den Abgrund reißt. Myschkins und Nastassjas Hochzeit wird Anfang Juli terminiert, das Paar erscheint plötzlich mit lautem Glockenläuten vor der Kirche. Doch die Braut kehrt vor der Kirche um – und fährt mit Rogoschin in sein Haus nach Petersburg, wo er sie ersticht. Als Myschkin dort ihre Leiche findet, wird er wahnsinnig und muss in das Schweizer Sanatorium zurückgebracht werden.

Copyright: Stuttgart Theater Atelier
Im Roman integriert der Erzähler die Informationen realistisch in die Handlung. Vladislav Grakovskiy unterstreicht diesen Aspekt in seiner insgesamt gelungenen Inszenierung, indem er ein polyperspektivisches Bild berücksichtigt. Gleichzeitig wirkt die Handlung durch die gestrichenen Nebenschausplätze sehr viel direkter und intensiver. Fürst Myschkin erscheint auch hier als armer Ritter, dessen distanzlose Lauterkeit und Toleranz in dieser gnadenlosen Gesellschaft immer wieder aneckt. Ein Scheitern dieser Figur ist deshalb vorprogrammiert. Gerade das schlicht gestaltete Bühnenbild lässt viel Freiraum für den intensiven Blick auf die Protagonisten. So konnte diese Wiederaufnahme das Publikum überzeugen und es gab „Bravo“-Rufe.
Alexander Walther

