Stuttgarter Ballett: „NACHT / TRÄUME“ 17.4.2025 (Premiere im Schauspielhaus) – Musik als wesentliche Inspiration
Mit Grenzwelten befassen sich die vier Choreographien, die jetzt als Wiederaufnahmen zu einem Ballettabend zusammen gespannt und so zum jährlichen Beitrag des Stuttgarter Balletts im Schauspielhaus wurden. Vier Stücke, die zwar ohne live gespielte Musik auskommen, aber diese als wesentlichen Ausgangspunkt für ihren bewegungstechnischen Ablauf bewusst machen.
Einmütiges Ensemble in „Sospesi“ von Vittoria Girelli. Foto: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
In „SOSPESI“ (=schwebend) der Halbsolistin Vittoria Girelli bildet die gleichnamige Auftragskomposition von Davidson Jaconcello mit ihren zunächst etwas mysteriös idyllisch anmutenden Naturlauten und sodann neu arrangierten Serenaden von Elgar, Schubert und Chopin die Atmosphäre einer unbestimmten Zone zwischen Himmel und erde, einer Metamorphose aus Mensch und Tier, die sich u.a. in flügelartig abgewinkelten Armen oder geneigten Körperhaltungen abzeichnet. Francesca Sgaribaldis von sich rampenartig aufwärts schwingenden Wänden begrenzter Bühnenraum katapultiert die Tänzer rutschend oder hangelnd ins Zentrum. In Paarkonstellationen sichern die Männer ihre emporkletternd horizontal ausgerichteten Partnerinnen oder lassen sie über Kopf ineinander verwickeln. Matteo Miccini und Mackenzie Brown, Martino Semenzato und die seit ihrer langen Verletzungspause bei jeder Wiederbegegnung auf wieder größere Aufgaben Hoffnung machende Diana Ionescu, Eduardo Sartori und Irene Yang ziehen dabei alle am gleichen Strang eines präzise und in Gruppenvereinigung synchronen Ensembles, in das sich auch Ruth Schultz nahtlos einfügt.
Elisa Badenes und Lassi Hirvonen in „La jeune fille et les morts“ von Sasha Riva und Simone Repele. Foto: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Sasha Riva und Simone Repele, beide u.a. ehemalige Tänzer in John Neumeiers Hamburg Ballett, haben 2002 für den Junge Choreographen-Abend in Stuttgart „LA JEUNE FILLE ET LES MORTS“ als Beitrag von Nachwuchs-Tanzschöpfern kreiert. Damals auch selbst mit einer Kollegin als Gast interpretiert, wurde der Pas de trois nun drei Stuttgarter Tänzern überlassen. Elisa Badenes veranschaulicht mit all ihrer wandlungsfähigen Darstellungskraft die Veränderung einer Frau von kindlicher Unschuld zur Erfahrung von Sinnlichkeit – flankiert von zwei Gestalten, die für diese beiden Kräfte stehen. Das berühmte Andante aus Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ liefert mit seinem schwermütigen Klangcharakter die ideale Grundlage für ein aus klassischen und modernen Elementen sowie mimischen Beigaben fließend aufgebautes Mini-Handlungsballett mit Wechselwirkungen aus Lichtschneisen und einem wehenden schwarzen Vorhang. Badenes in Weiß wird von Lassi Hirvonen und Martino Semenzato eindringlich und tänzerisch entschieden verkörperten teuflisch verführenden Kräften in Schwarz in immer neue Konstellationen verwickelt – ein kurzweilig bewegender Akt wesentlicher Veränderung im Leben einer jungen Frau.
Mackenzie Brown und Henrik Erikson in „Nachtmerrie“ von Marco Goecke. Foto: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Wie andernorts kehrte nun Marco Goeckes Schaffen auch ins Stuttgarter Repertoire zurück, nachdem Gras über die Hundekot-Attacke von Hannover gewachsen war. Sein hier 2021 nach dem langen Lockdown uraufgeführter Pas de deux „NACHTMERRIE“ hat es besonders verdient, entpuppte er sich doch auch jetzt wieder als eines seiner griffigsten, weil zeitlich nicht zu ausgedehnten Werke, in dem der sogenannte Alptraum zur durchaus positive Kräfte freisetzenden Ebene wird. Im mit den Jahren noch mehr verfeinerten Flatterstil, verstärkt durch Keith Jarretts lockere musikalische Note (Budapest Concert) und einem Song von Lady Gaga, werden allerlei aufkeimende Erinnerungen eines Paares lebendig. Der Einsatz wiederholt aufflammender Streichholz-Lichter taucht diese Aktionen in ein mystisches Licht zwischen Tag und Nacht. Mackenzie Brown und Henrik Erikson haben schon vor vier Jahren als Nachwuchstänzer den Eindruck idealer Interpreten hinterlassen. Jetzt als inzwischen gestandene Erste Solisten verfestigen sie diesen mit nachgewachsener körperlicher Spannkraft und noch persönlicherem Profil.
Am Ende dieses Programms kehrte mit „LOST ROOM“ die letzte Choreographie des Solisten Fabio Adorisio auf die Bühne zurück – eine Kreation, die ihre Basis in aus Erinnerungen zurück geholten Menschen und Ereignisse hat und sowohl positiver als auch negativer Natur Bilder aus der Vergangenheit zurück holt. Spürbar angetrieben vom Sog, aber auch der Sensibilität zweier von Marc Strobel bearbeiteten Cello-Sonaten von Rachmaninow und Grieg lässt Adorisio sieben von Thomas Mika in weite schwarz glänzende Hosen und knappe Tops eingekleidete TänzerInnen in einem durch schräg zueinander gestellte Wände eingekapselten Raum aufeinander treffen. In einem recht sportiven, mit klassischen Elementen durchsetzten Stil wechseln sich kleine Soli, Duos und Gruppenformationen ab, fließen ineinander über und sorgen so für ein unablässig spannendes Vibrieren. Hände werden vors Gesicht gehalten, die Körper bäumen sich aus Boden-Positionen auf oder preschen unisono voran. Egal ob Agnes Su, abwechselnd mit David Moore und Adhonay Soares Da Silva, Mizuki Amemiya mit Matteo Miccini oder Eva Holland-Nell mit Christopher Kunzelmann – alle lassen sowohl ihren Charakter hervor treten als auch Sinn für die Fähigkeit gemeinsamen Wirkens erkennen.
Die Wirkung aller dieser nächtlich-träumerischen Beiträge entlud sich in entsprechend lang anhaltender Würdigung und Begeisterung.
Udo Klebes