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STUTTGART/ Stuttgarter Ballett: „MAHLER X DREI MEISTER“ 15.1. (Premiere) – eine herausfordernde musikalische Basis

17.01.2025 | Ballett/Performance

Stuttgarter Ballett: „MAHLER X DREI MEISTER“ 15.1. (Premiere) – eine herausfordernde musikalische Basis

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LIED VON DER ERDE:  Elisa Badenes, Jason Reilly, David Moore, Ensemble. Copyright: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Lange Zeit galt die Vertanzung von Kompositionen Gustav Mahlers als undenkbar, seine Musik als unangreifbar oder wurde verpönt wie in den 1960er Jahren in England Sir Kenneth MacMillans „DAS LIED VON DER ERDE“, weshalb John Cranko den Kollegen einlud, seine Choreographie für das Stuttgarter Ballett zu verwirklichen. Dort kam es jetzt im Rahmen eines Programms, das ausschließlich Werke zu Musik des visionären Österreichers vereint, nach rund zehn Jahren zu einer Neueinstudierung durch keine Geringere als Marcia Haydée, für die MacMillan 1965 den weiblichen Hauptpart kreiert hatte und das Stück in seiner thematischen Abstrahierung verschiedener Lebens-Stationen bis zum Tod als Meisterarbeit betrachtet. Dies kann jedoch nicht ausschließen, dass die einzigartige Gestalt von Mahlers Lied-Symphonie durch die starke Präsenz der Vokalstimmen die Betrachtung des Zuschauers außergewöhnlich heraus fordert und die freie und neue Formen suchende choreographische Auslegung des bedeutungsschweren musikalischen Gehalts so manches Rätsel hinterlässt. So bleibt auch jetzt wieder ein Geheimnis um den sogenannten „Ewigen“, der in Halbmaske für das Unbekannte eines vielleicht göttlichen Lenkers, Gehilfen oder auch wie eine Macht des Bösen steht. David Moore gibt ihm mit einigen raumgreifenden Sprüngen, beachtlicher Körperspannung und einer wechselvollen Mimik von Güte und Strenge viel Profil. Als bereits erwähnte im Mittelpunkt stehende Frau weiß Elisa Badenes im Verbund von feinst exekutierten Bourrés und schwebenden Arm-Bewegungen viel Inneres zu vermitteln, quasi eine Geschichte ohne konkreten Inhalt zu erzählen. Ob es am Ende des fast die Hälfte des Stückes ausmachenden „Abschied“-Satzes zu einer Vereinigung mit dem im Zentrum der beiden Trunkenheits-Lieder stehenden Mann, von Jason Reilly mit gewohnter Souveränität in Technik und Ausdruck erfüllt, kommt, bleibt offen. Auch wenn in diesem langen Abschied ein langsames Verdämmern und Ersterben liegt, hat MacMillan doch ein Zeichen der Hoffnung weitergehenden Lebens gesetzt, indem die drei Protagonisten mit gebeugten Knien im Zeitlupentempo Richtung Rampe schreiten. In weiteren solistischen Positionen ragen Miriam Kacerova mit unvermindert bezaubernd lyrischem Strahl und Agnes Su in ihrer Allround-Intuition heraus. Für Letztere war es wie für die komplette Gruppe, angeführt von Martino Semenzato, Satchel Tanner, Mizuki Amemiya und Veronika Verterich ein Rollendebut. In kleinen, verschieden zusammen gesetzten  Ensembles zeigte sich das Corps de ballet bestens sowohl auf die feinstimmig, wie mit Pastellfarben gezeichneten Details der beiden Episoden von der Jugend und der Schönheit als auch die etwas erdigeren Passagen in den anderen Sätzen vorbereitet.

Von den Bühnenrändern verschafften sich die beiden Gesangsolisten überwiegend Gehör gegenüber der starken Instrumentierung: Airam Hernandez mit gut sitzendem, höhensicherem, nur manchmal etwas Nuancierung vermissen lassendem Tenor und Anna Werle mit klar artikulierendem, lyrisch beseeltem Mezzosopran, der bei zunehmender Kraft etwas an Tonschönheit verlor.

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LIEDER EINES FAHRENDEN GESELLEN:  Henrik Erikson und Marti Paixa. Copyright: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Bei den LIEDERN EINES FAHRENDEN GESELLEN“, die Maurice Béjart 1971 für Rudolf Nurejew und Paolo Bortoluzzi kreiert hatte und 1976 ins Repertoire des Stuttgarter Balletts Eingang gefunden haben, ist die textlich/inhaltliche wie auch musikalisch transparente Vorlage Mahlers durchaus konkreter, doch bietet sie den beiden Tänzern immer noch sehr viel Auslegungs-Spielraum in der Verkörperung des durch die Lande ziehenden, von der Liebe enttäuschten und an seinem verschiedene Funktionen einnehmenden Partner Halt findenden Gesellen. Die Neueinstudierung besorgte Béjarts langjähriger Tänzer und Nachfolger Gil Roman. Statt des vorgesehenen, aber leider verletzten Friedemann Vogel rückte eine der Cover-Besetzungen nach vorne: Henrik Erikson, in der Physiognomie wie ein junger Nachfahre des Stuttgarter Premieren-Interpreten Egon Madsen wirkend, gibt der für Béjarts Verhältnisse introvertiert angelegten Partie eine Innigkeit und körperliche Intensität, die mit zunehmendem Verlauf tief berührte. Subtil schwankt seine Miene zwischen kurzer gelöster Heiterkeit und Trübsinn, ehe er am Ende wie traumverloren in einem Blick zurück einen Kuss an die Welt andeutet, von seinem Partner nach hinten weggezogen. Diese  nicht eindeutige, teils deckungsgleich agierende, dann wieder abwartend nachsinnende Figur zwischen Spiegelbild, Freund oder gar unterschwelliger Gefährlichkeit füllt Marti Paixa mit bestechender Genauigkeit der Bewegungen und entsprechend fluoreszierendem Charisma aus, wie es wohl einst auch der zweite Stuttgarter Erstaufführungs-Interpret Richard Cragun getan hatte. Nicht ohne Grund dürfte dessen Darsteller im Cranko-Film der Katalane gewesen sein.

Den vokalen Part steuerte Yannick Debus dunkel sonorer, legatofähiger und dynamisch eingesetzter Bariton bei und bot damit genauso viel Hörfreude wie es die Tänzer visuell vollbrachten.

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SPUREN: Marti Paixa, Elisa Badenes, David Moore (von unten). Copyright: Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Die wohl größte Spannung und Erwartung lag über den „SPUREN“, John Crankos im Rahmen des letzten Ballettabends vor seinem Tod 1973 uraufgeführte Choreographie, die damals wohl aufgrund noch nicht aufgearbeiteter Kriegsereignisse für Unmut und wohl die einzigen Buhrufe seiner Stuttgarter Tätigkeit sorgte. Das komplette Stück zum Adagio aus Mahlers unvollendeter Zehnter Symphonie konnte nicht mehr rekonstruiert werden, doch dank der damals Beteiligten wie Marcia Haydée und auch dem späteren Intendanten Reid Anderson ließ sich eine zentrale Szene, eine Art von Pas de trois, wieder herstellen. Mahlers zwischen melodischer Schönheit und quälerischem Ausbruch bis zum Schmerzensschrei pendelnde Musik bot dem Choreographen die ideale Grundlage für die skizzierte Geschichte einer aus einem totalitären Staat geflohenen Frau, die sich ihrem Partner noch nicht richtig öffnen kann, solange sie die Geister der schrecklichen Vergangenheit nicht loslassen (kann). Höhepunkt der düsteren Erinnerungen ist der Moment unter einer grellen Scheinwerfer-Batterie, wo Statisten ihre Umhänge fallen lassen und auf ihren Rücken eingebrannte Nummern sichtbar werden. Diese Gefangenen-Assoziation führte auch zur Widmung des Stückes für das in Russland eingesperrte und der Ausreise harrende Tänzer-Paar Galina und Valery Panov.

Damals hatte wohl niemand ahnen können, dass die Thematik fünfzig Jahre später wieder von trauriger Aktualität sein wird. Zumal, wenn es von der Protagonistin Elisa Badenes mit so erschütternder Lebendigkeit zwischen Klammern an den Partner und einigen kühnen Hebe-Figuren in den Händen des Repräsentanten der Vergangenheit umgesetzt wird, die noch einmal an Crankos Pas de deux-Innovationen erinnern. Wie von einem inneren Geist geschüttelt macht die Alleskönnerin ihre Situation greifbar. Für Friedemann Vogel übernahm hier David Moore die Rolle des die Gegenwart vertretenden Partners mit passend gediegener bürgerlicher Eleganz, während Marti Paixa mit kahlgeschorenem Kopf und attackierend zupackender Form das Ungeheuer der Vergangenheit herauf beschwor. Fünf Tänzerpaare aus dem Corps de ballet setzen als mehrmals herein und wieder hinaus gleitende Party-Gesellschaft (Kostüme: Jürgen Rose) einen Kontrapunkt unbeschwerter Feierlaune. Wie schon bei der Erst-Präsentation im Rahmen der Gala zu Crankos 50. Todestag im Juni 2023 wurde der Aufführung eine kurze Film-Dokumentation vorangestellt, in der der Choreograph sich zu seinem Stück äußert und kurze Sequenzen aus dem Ballettsaal und von der Uraufführung zu sehen sind. Am Ende nähert sich das Paar einem sich im Hintergrund öffnenden Lichttor, die Hoffnung auf ein wieder normales Leben besteht!

 

Einen gewichtigen Part hatte das Staatsorchester Stuttgart zu bestreiten. Unter Mikhail Agrests stringenter Leitung wurde der unermessliche Kosmos seiner symphonischen Kunst vielfach farbenreich und um Durchhörbarkeit bemüht freigelegt, die Spannung seiner spätromantisch exzessiven wie auch hauchzart sensiblen Instrumentierung aufgeschlüsselt.

Die begeisterte Aufnahme durch das Publikum erstreckte sich zuletzt auch auf die Leistungen im Orchestergraben.

                                                                                                                      Udo Klebes

 

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