Stuttgarter Ballett: „KYLIAN / VAN MANEN / CRANKO“ 27.10. (Premiere) – Drei choreographische Maler
In seiner Jubiläumssaison möchte Intendant Reid Anderson Stücke präsentieren, die ihm besonders am Herzen liegen. Neben einigen Handlungsklassikern gehören dazu natürlich auch kürzere und modernere Werke, die aber allesamt den Status einer klassischen Zeitlosigkeit einnehmen. Bei der Zusammenstellung zu einem Ballettabend müssen sie nicht zwingend durch eine dramaturgische Klammer verbunden sein, jede Choreographie kann für sich alleine stehen. Irgendein verbindendes Glied lässt sich letztlich immer finden, so auch bei diesen Wiederaufnahmen als erste Premiere der laufenden Saison kurz vor dem Start zu einer vierwöchigen Asien-Tournee der Compagnie. Alle drei Choreographen wurden durch bedeutende Maler zu ihren tänzerische Kreationen angeregt: Jiri Kylian von Edvard Munch, Hans van Manen (im allgemeinen) von Pit Mondrian und John Cranko von Gustav Klimt.
Mit Attacke durch den Totentanz: Angelina Zuccariini und Louis Stiens in „Vergessenes Land“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Jede Begegnung mit „VERGESSENES LAND“, das Kylian 1981 für das Ensemble seiner Anfänge als Tänzer und Choreograph geschaffen hatte, macht die Tiefe des Ausdrucks in der Verbindung zur ausgewählten Musik noch deutlicher bewusst. Als ob Brittens 1940 im amerikanischen Exil komponierte und uraufgeführte Sinfonia da Requiem für ihn geschaffen wäre, finden die in einem steten Fluss gehaltenen und ununterbrochen aufeinanderfolgenden drei Teile aus der Totenmesse ihre optimale Deckung in der Choreographie. Wie eine Mahnung bestimmt der rückwärtige Prospekt einer Eis-Szenerie am Ufer eines vom Meer bedrohten Landes den Bühnenraum, in dem sechs Tänzer-Paare zunächst geschlossen und dann in wechselnder Abfolge mit ihren manchmal flügelartig eingeknickten Armen wie gestrandete Vögel oder abhebende Menschen, wie Wanderer in einer vergessenen, sich immer wieder erneuernden Welt wirken. Kylians spezielle Verbindung von klassischen Formen und modernen Elementen ermöglicht erst die frappierende, im wahrsten Sinn des Wortes bewegende Mitteilsamkeit und Tiefe, die von Brittens elegischer, aber impulsiver Musik ausgeht. Auch die neuere Generation der Stuttgarter Tänzer nimmt sich dieses hochsensiblen und gleichzeitig technisch herausfordernden Futters mit einer Leidenschaft und aufgrund weiter entwickelter körperlicher Möglichkeiten noch erhöhten Dynamik an. Wie unter Strom gesetzt vergehen die 20 Minuten vom anfänglichen Trauermarsch über den Totentanz bis zum gedämpfteren Wiegenlied in Windeseile, angetrieben von der Energie der 12 TänzerInnen, die all die vielfachen phantasievollen Paar- Kombinationen an Sprüngen, Drehungen und Hebungen, gebeugten Knien oder nach oben ausgestreckten Armen so leicht erscheinen lassen. Von den größeren Parts ragen Daniel Camargo und Hyo-Jung Kang mit besonders zündender Linie heraus, Alicia Amatriain und Jason Reilly stehen für das große Drama, Friedemann Vogel und Miriam Kacerova bilden den lyrisch fließenden Ruhepol, Angelina Zuccarini und Louis Stiens sorgen für Attacke. Rocio Aleman und Roman Novitzky sowie Elena Bushuyeva und Matteo Crockard-Villa komplettieren das Dutzend ohne nennenswerten Leistungsabfall.
Mit Pfiff und Gewandtheit: Pablo von Sternenfels in „Solo“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Für eine gleichfalls besonders hoch entwickelte Musikalität steht der Altmeister der zeitgenössischen Choreographen, Hans van Manen. In seinen über 100 geschaffenen Werken hat er eine riesige kompositorische Spanne durch mehrere Jahrhunderte tänzerisch durchleuchtet, ihr kühl kalkulierte, aber dennoch nah am Herzschlag des Menschlichen bleibende Schritte unterlegt, bei allem Ernst meist mit einer Prise Ironie und Heiterkeit gewürzt. So auch bei den erst 2012 fürs Niederländische Nationalballett geschaffenen und bei der letztjährigen Silvester-Gala erstmals in Stuttgart gezeigten „VARIATIONS FOR TWO COUPLES“ . Als geometrische Form, die ebenfalls Markenzeichen seiner Gesamtkunstwerke sind, wird die Bühne von einem geteilten Lichtbogen dominiert, zu dem die beiden Paar-Konstellationen in unterschiedlichen kurzen handlungslosen Episoden in Bezug gesetzt werden. Vier erste Solisten machen im Konterkarieren von klaren eleganten Formen und einknickenden Schultern oder gelassenen Gesten gute Figur, wobei Anna Osadcenko und Jason Reilly die spannkräftigere, Alicia Amatriain und Constantin Allen die elastischere und flüssigere Variante beisteuern. Das Timing stimmt ebenso exakt wie bei den drei neuen Jungs in van Manens immer wieder faszinierendem „SOLO“, das er 1997 ursprünglich einem Tänzer anvertrauen wollte, aufgrund des einen Einzelnen auch wegen der immer mehr zunehmenden Geschwindigkeit von Bachs Violin-Solosuiten überfordernden Schrittmaterials schließlich auf drei Solisten verteilt hat – eine Abfolge rasanter Sequenzen, perfekt in quirlige Bewegungen verwandelt. Kaum zu glauben, dass mit Daniel Camargo, Pablo von Sternenfels und Louis Stiens drei Tänzerhierarchien gemeinsam am Werk sind – so ausgeglichen, mit Lust und Laune, Pfiff und Herz stürzen sie sich in diesen Taumel, jeder mit eigener Akzentuierung und angemessener Brillanz an Selbstdarstellung. Ausgelassener Jubel, der sich auch auf den mal wieder extra angereisten Choreographen ausweitete.
Sue Jin Kang (Diva) vereint mit ihren Liebhabern: Roman Novitzky, Jason Reilly, Constanine Allen, Marti Fernandez Paixa und Friedemann Vogel (von oben) in „Poème de l’extase“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Schließlich noch Crankos Handlungs-Einakter „LE POEME DE L’EXTASE“ im malerischen, an Gustav Klimt orientierten Jugendstil-Ambiente von Jürgen Rose, der zum Schlussapplaus auf die Bühne kam – eine Neueinstudierung auch als Hommage an Sue Jin Kang, die im Sommer 2016 ihre Tänzer-Karriere nach verdienten 30 Jahren beenden wird. Mit der alternden Diva, die sich von einem sie anbetenden Jüngling zunächst geschmeichelt fühlt, ihn aber nach ihrer träumerischen Erinnerung an ehemalige Liebhaber und dem Bewusstsein eines erfüllten Lebens abweist, kommt sie der Widmungsträgerin der Uraufführung von 1970, Margot Fonteyn, altersmäßig ganz nahe und verkörpert so äußerst glaubhaft eine Persönlichkeit, die trotz ihrer Reize erkennt, dass ihre Zeit für junge Liebe vorbei ist. Mag die eine oder andere Hebung nicht mehr so leicht gelingen wie früher, so beherrscht sie jederzeit ihren Körper mit einer Fragilität und einer Selbstverständlichkeit an Charisma, dass sie auch die Corps de ballet-Gesellschaft begehrt. Den Jüngling gibt Friedemann Vogel mit der von ihm gewohnten klassischen Ausgewogenheit an sauberen Linien und klar gesetzten Sprüngen und Pirouetten, gepaart mit einer darstellerischen Sehnsucht, die zum Glück ohne Pathos auskommt. Die Palette der vier Visionen, die sich in hautfarbenen Trikots und farbschillernden Umhängen jeweils zu einem kurzen Pas de deux mit ihr einfinden, reicht von Jason Reillys geballter Athletik, über Constantine Allens exotischen Charme bis zu Roman Novitzkys solider, nach langer Verletzungspause noch nicht wieder ganz erstarkter Version. Dass diesen drei ersten Solisten der erst im letzten Jahr als Eleve zur Compagnie gestoßene Marti Fernandez Paixa kaum nachsteht und in bemerkenswerter Reife und Form Technik und Ausstrahlung vereint, lässt auf eine baldige Beförderung schließen.
Das Staatsorchester Stuttgart brachte Brittens aufwühlende Anklage und Skrjabins schwül berauschende Symphonik unter der Leitung von James Tuggle entsprechend zum Klingen.
Udo Klebes