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STUTTGART/ Stuttgarter Ballett: „ANNA KARENINA“ – mit zwei ehemaligen Hamburgern als Gästen

26.10.2025 | Ballett/Performance

Stuttgarter Ballett: „ANNA KARENINA“ 19.nm.+24.10. – mit zwei ehemaligen Hamburgern als Gästen

Zwischen zwei Ferntourneen in die USA und nach China begann die neue Saison beim Stuttgarter Ballett etwas verspätet und leider begrenzt auf vier weitere Vorstellungen des nach Leo Tolstois Roman konzipierten Balletts. Im März dieses Jahres erlebte John Neumeiers 2017 für das Hamburg Ballett geschaffene Choreographie ihre Stuttgarter Erstaufführung.

Ein ob der Verlegung in eine amerikanische Gegenwart (die Bühne und fast alle Kostüme hat Neumeier selbst entworfen) zunächst zwiespältig betrachtetes Werk, das sich bei jeder weiteren Begegnung als in sich stimmiges, trotz aller Komplexität und personalintensivem Aufwand immer wieder kammerspielartig verdichtetes Drama erweist. Die kontrast- und atmosphärenreiche Musikauswahl (Tschaikowsky, Schnittke, Cat Stevens) sowie die schnellen, die einzelnen Szenen filmschnittartig  verbindenden Bühnenverwandlungen tragen zu einem fließenden Ablauf bei. Dennoch geht die Spannung aufgrund einiger etwas ausufernder Abschnitte manchmal etwas verloren.

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Miriam Kacerova (Anna) + Edvin Revazov (Wronski). Copyright: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Personell gesehen gab es jetzt die seltene Gelegenheit, Gasttänzer zu erleben. Im Falle von Edvin Revazov, dem langjährigen Ersten Solisten des Hamburg Ballett sogar jenen Künstler, für den die Partie des Wronski kreiert wurde. Dieses Privileg und seine reife und als Erscheinung individuelle Persönlichkeit machten sich in seiner charakterstarken und bis ins Detail wissenden Verkörperung des Grafen durchgehend bemerkbar. Glaubhaft verkörpert er einen Mann, der wohl weiß, was die Affäre mit der verheirateten Anna bedeutet und dies in differenzierten Blicken und Gesten veranschaulicht. Intuitiv nützt er Spielräume in Momenten, die ihm in der Spätphase seiner Karriere technisch nicht mehr so ganz leicht fallen, ohne dadurch im Gesamtbild Abstriche zu erzielen. Auch das ist eine Kunst!

Die Kombination mit der Stuttgarter Premieren-Interpretin der Titelrolle, Miriam Kacerova, stellt sich als ideal heraus, weil sie sich als auch schon sehr erfahrene Ballerina und gestandene Frau auf einer Ebene mit Revazov bewegt. Ihre lyrische Sensibilität, egal ob im Dialog mit Ehemann, Sohn oder Geliebtem, gepaart mit einer selbstbewussten Präsenz kommt auch jetzt wieder zum Tragen.

David Moores Karenin überzeugt erneut als im Wahlkampf schnittig genau Stolz und Machtstreben präzisierender Politiker wie als etwas zurückhaltend unnahbarer Ehemann. Auch Mitchell Milhollin machte bereits bei der Premiere als quicker bubenhafter und liebesbedürftiger sowie sprungtechnisch agiler Serjoscha in dieser seiner ersten Solorolle auf sich aufmerksam.

Henrik Eriksons stets durchschimmernde Fröhlichkeit im Träumen von aber auch Leiden mit seiner späteren Frau Kitty macht seine Auftritte als Landwirt Lewin besonders liebenswert. Seine bodenständigen Bewegungen sind kongruent dazu von einer durchgehenden Leichtigkeit bestimmt. Als labile Kitty weiß die frisch zur Solistin beförderte Abigail Wilson-Heisel ebenso zu berühren wie in ihrem ersten Auftritt vor der Verlobung mit Wronski federnden Spitzentanz zu beweisen.

Veronika Verterich vereint Einfühlsamkeit und Expressivität in Kittys ehelich frustrierte, von den Kindern dann doch zum Verbleib in der Familie bestärkte Schwester Dolly. Als ihr Mann und Annas Bruder Stiwa kehrte Clemens Fröhlich nach seiner Verabschiedung als Solist im Sommer noch einmal auf die Bühne zurück und verkörperte ihn trotz seiner latenten Untreue als galanten Verfolger des weiblichen Geschlechts. Jason Reilly verleiht dem als böses Omen Annas und Wronskis Wege kreuzender Muschik (ein Arbeiter im Müllmann-Overall) bedrohlich düstere Kontur und Ausdruckskraft.

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Elisa Badenes (Anna) + Jacopo Bellussi (Wronski). Copyright: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Fünf Tage später zeigte Jacopo Bellussi, ehemaliger Erster Solist des Hamburg Balletts und jetziger Intendant des Ballettfestivals in Nervi (Genua), wo das Stuttgarter Ballett erst im Juli gastierte, als ebenfalls erfahrener Interpret des Wronski wieder andere Perspektiven der Partie. Was sicher auch seinem jugendlicheren Wesen entspringt. Er liebt und leidet sanft und doch intensiv, wirkt im Detail etwas weniger wissend und reflektiert, mehr spontan und ist ein versierter Partner, der es mit Elisa Badenes als Anna wiederum sehr leicht hat, weil sie sich in ihrer chamäleonartigen Wandlungsfähigkeit und technisch bedingten Geschmeidigkeit jedem Tänzer anzupassen vermag. Die Harmonie stimmt auch bei ihnen, weil Alter und Temperament entsprechen.

Aufgrund der Verletzung eines Kollegen bekam Clemens Fröhlich die Gelegenheit nach dem Stiwa auch den erst für die letzten beiden Vorstellungen im Frühjahr einstudierten Karenin zu festigen und jetzt eine rundum geschlossene Leistung an Charaktergrundierung und körperlicher Form zu zeigen. Das Zusammentreffen mit Anna und Wronski am Bett nach der Geburt des Kindes wurde auch dank ihm zu einem fesselnden Höhepunkt geballter Emotionen, ebenso profitierte von seiner Hingabe der zuvor noch nicht so berührend und Mitleid erweckend erfüllte Pas de deux mit seiner ihn tröstenden Assistentin in Gestalt von Alicia Torronteras.

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Leon Metelsky (Serjoscha) – ein aufgefallenes Nachwuchs-Talent. Copyright: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

In seinem ersten Solo-Einsatz stellt sich Leon Metelsky als nicht ganz so viel Kindlichkeit und großzügige Sprung-Eloquenz aufbietender Sohn Serjoscha vor, gibt ihm aber eine fast schon erwachsen wirkende Tiefe und Dringlichkeit in der Zerrissenheit zwischen der vermissten Mutter und dem ihn für sich fordernden Vater.

Als Lewin ist Matteo Miccini ein ähnlich auf leise Art humoriger und doch auch melancholische Züge aufweisender Landwirt, die Kitty von Mizuki Amemiya fast eine Spur zu entrückt in ihrem nervlichen Zusammenbruch, aber später liebevoll und dankbar sowie voll zärtlicher Anmut im Tanz.

Daiana Ruiz ist eine mütterlich gesetzte und mit Bedacht und Haltung Akzente setzende Dolly, Martino Semenzato ihr etwas trockener, nicht ganz so viel Profil zeigender Mann Stiwa.

Einen wiederum in seiner Jugend beklemmend schleicherisch beweglichen und verstörend Selbstgespräche führenden Muschik gestaltet Lassi Hirvonen.

Alle weiteren Kleinrollen-Vertreter wie auch das vielseitig zwischen Lacrosse-Spiel und feiner Abendgesellschaft in entsprechend divergierenden Stilen von der klassischen Schule bis zu alltäglichen Chiffren geforderte Corps de ballet sorgten für einen dichten Ablauf der Handlung.

Auch das Staatsorchester Stuttgart unter Leitung von Wolfgang Heinz (19.10.) bzw. Nathanel Carré (24.10.) trug mit der Dringlichkeit seines reibungslos und übersichtig angeleiteten Spiels von selteneren Tschaikowsky-Kompositionen und psychologisch passend verstörenden Klängen von Alfred Schnittke zum den Zuschauer fordernden Gehalt dieses Neumeier-Oeuvres bei. 

Anerkennender Jubel war beiden Besetzungs-Varianten differenziert verteilt sicher.

Udo Klebes

 

 

 

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