Stuttgart: Gauthier Dance
„BIG FAT TEN“ 2.3.2017 (Premiere 1.3.) – Viel Neues zum 10. Geburtstag
Kaum zu glauben, dass Eric Gauthier dem Stuttgarter Ballett schon vor 10 Jahren abhanden gekommen ist, um eine eigene Compagnie zu gründen. Die Vorgeschichte des mutigen Unterfangens, der Kontakt zu zwei erfahrenen, in der Nähe von Stuttgart ansässigen Tanzexperten und das entscheidende Gespräch mit Werner Schretzmeier, dem Leiter des Theaterhauses, unter dessen Dach Gauthier Dance angesiedelt ist, wurde vor der Bühne in kurzen Szenen nachgespielt. Zuschauer aus der ersten Reihe durften dabei kurzerhand die Rolle der genannten Personen übernehmen. Zuletzt gab es noch die nachgebaute Hoteltreppe, auf der Eric Gauthier und sein berühmter Mentor Egon Madsen oft bis spät in die Nacht hinein über Ideen für die neue Compagnie sinniert hatten. Während die beiden ein Glas Rotwein genossen, ließen links und rechts der Bühne eingeblendete Aufnahmen aller 41 je dabei gewesenen Tänzer viele Erinnerungen Revue passieren. Aus dem anfangs mit sechs Tänzern noch bescheiden bestückten Ensemble ist heute ein 16köpfiges geworden, das seinen Erfolg nach und nach über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus mit zahlreichen Gastspielen zu internationaler Wirkung ausgeweitet hat. Darauf kann Eric Gauthier, aber auch sein Publikum, das mittlerweise weite Kreise über die größten Ballett-und Tanzliebhaber hinaus gezogen hat, wahrlich stolz sein. Das Repertoire hat sich nach einer zuerst auf mehr Unterhaltung denn Intellekt setzenden Basis durch die Gewinnung vieler bedeutender Choreographen zu absolut konkurrenzfähiger Reputation entwickelt.
Ensemble bei „Streams“. Copyright: Regina Brocke
Für das Zehnjahr-Jubiläumsprogramm ist es Gauthier gelungen gleich vier Tanzschöpfer für Neukreationen zu beauftragen. Zum ersten Mal dabei der jüngst zum Leiter des Griechischen Nationalballetts in Athen bestellte Andonis Foniadakis, der die dort notwendigen neuen Impulse in seiner Gruppen-Choreographie „STREAMS“ geradezu greifbar macht. In einem weiten Bogen steigern sich die Tänzer vor einem glitzernden, vom Wind leicht bewegten Lamellen-Vorhang organisch fließend aus zuerst weichen Formationen zu einem entfesselten, wie getrieben wirkenden Totaleinsatz mit teilweise noch etwas unübersichtlichen Strukturen. Die Musikauswahl liefert in der Entwicklung von dezentem Jazz zu immer dringlicher werdenden elektronischen Klängen die passende dynamische Komponente. Auch die im Licht leicht golden glänzenden Hosen der Männer und Trikots der Frauen tragen zum mitreißenden, unablässigen Strömen dieser Choreographie bei, die nur gegen Ende etwas zu sehr ausgedehnt wird. Etwas weniger wäre da mehr gewesen.
Dieses Abschluss-Stück des Abends steht ebenso für die geschlossene Qualität des Ensembles aus gleichwertig hohen Tänzer-Individuen wie das vor der Pause gezeigte „THEY’RE IN YOUR HEAD“. Der ehemalige Stuttgarter Tänzer Alejandro Cerrudo, seit einigen Jahren Residence Choreographer bei Hubbard Street Dance in Chicago, überließ Gauthier Dance bereits zwei erfolgreiche Arbeiten und gratulierte jetzt mit einer in den einzelnen Elementen etwas auseinander driftenden Kreation. Umhüllt von dumpfen Science fiction-Klängen rappeln sich die Tänzer wie nach einer Katastrophe darnieder liegend langsam auf und formieren sich in verschiedenen Kombinationen zu nun musikalisch friedlich gestimmten, aus dem Körper heraus fließenden Bewegungsmustern. Warum die Szene bis auf eine schneisenartige Lichtquelle von hinten so im Düsteren verharrt, wo zunehmend Hoffnung und Optimismus aus der Situation sprechen, bleibt fraglich. So kommt die im Prinzip eigenständige Handschrift des Choreographen hier nicht so recht zur Geltung.
Alle weiteren Programmpunkte richteten die Aufmerksamkeit auf die einzelnen Solisten und ihre Leistungen. Johan Inger hat in „SWEET, SWEET“ das aus der griechischen Mythologie stammende Drei Grazien-Motiv der Fotografin Sally Mann aufgegriffen und sie in vertikal nach vorne führenden Lichtbahnen als selbstbewusste und emanzipierte Frauen in kniefreien Glitzerkleidern in Szene gesetzt. Einknickende Gliedmaßen, aber auch wie in Zeitlupe ausgeführte große Schritte sowie eine vielsagende Mimik und Gestik boten der exzentrischen Garazi Perez Oloriz, der ironischen Anneleen Dedroog und der adretten Francesca Ciaffoni genügend Raum, um ihre Persönlichkeiten, begleitet von Jeff Buckleys gleichnamigem Song, auszuspielen.
Rosario Guerra, Jonathan dos Santos. Copyright: Regina Brocke
Itzik Galili, im Repertoire von Gauthier Dance schon mehrfach mit seinen humorig schrägen Arbeiten vertreten, lieferte mit „MY BEST ENEMY“ eine köstliche Persiflage auf die von überkandideltem Moderatoren-Gequassel geprägten Unterhaltungs-Shows. Rosario Guerra und Jonathan dos Santos, beide mit reichlich Charme und Spiellust ausgestattet, übersetzten ihre wortreichen (englischen) Ansagen gleichzeitig in comicartig aufgedrehte choreographische Auswüchse, zwischendurch abgelöst von Alessandra La Bella als optisch perfekter Nachzeichnung einer wasserstoff-blonden Assistentin. Das Publikum durfte beim Countdown von 60 auf 0 mit machen und die letzten 5 Sekunden so laut es ging ansagen.
Anna Süheyla Harms. Copyright: Regina Brocke
Keine Uraufführung, aber eine bedeutende Erstaufführung bildete „PRELUDE À L’APRÈS-MIDI D’UN FAUNE“ in der Fassung von Marie Chouinard, denn zum ersten Mal hat die führende moderne Tanz-Ikone Kanadas eines ihrer Stücke einer deutschen Compagnie vergeben. Bei der Beschäftigung mit dem berühmten Faun-Mythos setzt sie auf deutliche Bezüge zum Original von Waslaw Nijinski, indem sie ihn als ominöses Fabelwesen mit Bockshorn und langen Nägeln auftreten lässt. Allerdings nicht in einem schwülen nachmittäglichen Hain, sondern wie auf einem Laufsteg von links nach rechts und zurück sich bewegend, eingehüllt in einen orange leuchtenden Nebel, der immer wieder von schmalen Lichtschneisen von oben durchdrungen wird. Kurios ist die Besetzung mit einer Frau, wobei es der mit ungeheurer innerer Spannung agierenden Anna Süheyla Harms gelingt, eine faszinierend androgyne Wirkung zu erzielen und zwischen einknickenden Beinen und mehrfachem Wiederaufbäumen Sinnlichkeit zu erzeugen.
Sandra Bourdais. Copyright: Regina Brocke
Von Nacho Duato kam der auf Galas viel präsentierte, ungewöhnliche Pas de deux „VIOLONCELLO“, einem Ausschnitt aus einer abendfüllenden Bach-Hommage des spanischen Choreographen. Wie die Tänzerin hier zum Instrument des in Zopfperücke auftretenden Komponisten wird, indem er den Bogen über ihren Körper streicht und dieser dabei als Resonanzkörper fungiert, ist auch nach wiederholter Begegnung immer noch originell. Maurus Gauthier und in erhöhtem Maße die mit sehr viel Flexibilität, Geschmeidigkeit wie auch Genauigkeit geforderte Sandra Bourdais behaupten sich dabei als einfühlsame Interpreten.
Barbara Melo Freire, Theophilus Vesely. Copyright: Regina Brocke
Schließlich noch Eric Gauthier selbst, der es nicht lassen konnte, zu seinem Jubiläum selbst choreographisch tätig zu werden. In Fortsetzung seines mittlerweise Klassiker-Status geniessenden „Ballet 101“ entstand mit „BALLET 102“ nun eine Übertragung von 102 klassischen Ballett-Positionen auf ein Paar, in dem er immer wieder Zitate aus berühmten Balletten einfügte (u.a. den sterbenden Romeo, die abweisende Tatjana) und die letztlich immer beliebiger werdende Abfolge der Positionen wiederum rasant steigerte, bis die beiden quasi vor dem drohenden Herzinfarkt stehen. Die gelungene Schlusspointe, weitab von der explosionsartigen Zerlegung des Tänzer-Körpers im Vorgänger-Stück, soll absichtlich nicht verraten werden. Barbara Melo Freire und Theophilus Vesely lieferten sich miteinander ein Vergnügen mit Herz und dem erwünschten Schuss Ironie. Die Begeisterung war ihnen dafür ebenso sicher wie am Ende für die gesamte Compagnie mit Eric Gauthier in der Mitte. Durch einen über den Zuschauern niedergehenden Konfetti-Regen wurde die Feierstimmung noch zusätzlich angeheizt. Auf weitere 10 anregende Jahre, die meisten davon dann hoffentlich im geplanten Neubau direkt hinter dem Theaterhaus. Herzlichen Glückwunsch!
Udo Klebes