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STUTTGART/Studiotheater: WIDERFAHRNIS von Bodo Kirchhoff

Konfrontation und Überlebenskampf

02.11.2019 | Theater


Ursula Berlighof, Dietmar Kwoka. Foto: Daniela Aldinger

STUTTGART:  Bodo Kirchhoffs „Widerfahrnis“ am 1. November 2019 im Studiotheater/STUTTGART 

Konfrontation und Überlebenskampf

Die Italiensehnsucht eines älteren Liebespaares wird in dieser preisgekrönten Novelle von Bodo Kirchhoff mit der Flüchtlingskrise 2015 auf unmittelbare und packende Weise konfrontiert. Der von Dietmar Kwoka sehr emotional gemimte ehemalige Verleger Julius Reither lebt jetzt in einer Wohnanlage am Alpenrand. Eines Abends steht eine unbekannte Frau vor seiner Tür – die von Ursula Berlinghof höchst souverän gespielte Leonie Palm. Der Regisseur Christof Küster (Ausstattung: Anne Brügel) hat diese Handlung sehr vielschichtig inszeniert. Man blickt hinter die Kulissen, erkundet als Zuschauer in subtiler Weise das Seelenleben dieser Figuren.

Als Erzählerin fungiert Mariam Jincharadze, die schildert, dass Reither nicht nur den Verlust seines Verlages zu verkraften, sondern sich als junger Mann auch noch gegen das Überleben seines ungeborenen Kindes entschieden hat. Er wollte damals einfach keine Unordnung. Und auch Leonie Palm hat ihren Laden geschlossen, weil es an „Hutgesichtern“ fehlt. Die beiden beschließen ganz spontan, einfach loszufahren ins Ungefähre. Unterwegs sehen sie viele Flüchtlinge, die über die Grenze wollen. Als sie in Sizilien ankommen, bemerken sie ein Mädchen, das vor ihrer Unterkunft steht.

Und damit beginnt der verzweifelte Überlebenskampf dieses seltsamen Paares, das mit der ungewollten Situation nicht mehr zurecht kommt. Die Schauspieler steigern sich hier immer intensiver in ihre verzwickten Rollen hinein. Es sind atemlose Situationen, die die Zuschauer dabei regelrecht überfallen. Selbst beim romantischen Fischessen in Catania ist das Mädchen wieder da – stumm und fordernd zugleich. Mariam Jincharadze verkörpert dieses Flüchtlingsmächen, das in Videosequenzen und im Hintergrund hinter einem Vorhang immer wieder in geheimnisvoller Weise sichtbar wird. Musik von Max Richter, Paul Anka, Ludovico Einaudi, Daniel Hope, Unavantaluna, Canzioniere Grecanico Salentino und Chilly Gonzales unterstreicht die verschiedenen seelischen Stimmungen der Protagonisten in eindringlicher Weise. Der reduzierten Aufgeräumtheit, die plötzlich in sein Leben einbricht, ist Reiher nicht gewachsen. Das macht Dietmar Kwoka als Darsteller in ganz hervorragender Weise deutlich. Er steigert sich in die Ausweglosigkeit geradezu hemmungslos und unerbittlich hinein. Das Paar trifft immer öfter auf Flüchtlinge. Aber von dem Mädchen im roten Fetzenkleid kommt es nicht mehr los. Es besteht eine geradezu magische Anziehungskraft. Das Leben bricht hier unmittelbar ins andere Leben ein.

Die Flüchtlingswellen sorgen für gewaltige gesellschaftliche Veränderungen, die Bodo Kirchhoff in seiner Novelle suggestiv beschreibt. Das macht auch Christof Küster als Regisseur deutlich. Das Leben, das uns fremd ist, wird mit Füßen getreten. Am Ende fährt der orientierungslos gewordene Reither sogar ohne Leonie Palm weiter, die er im Hafengetümmel verloren hat. Als schließlich auch noch die junge Frau des Nigerianers mit ihrem Baby auftaucht, ist dies für Reither ein Moment von „Widerfahrnis“. Der Streit mit dem jungen Mädchen eskaliert, er wird an der Hand verletzt und jammert. Als Reither Leonie Palm durch Zufall wieder am Bahnhof trifft, übergibt sie ihm den Schlüssel zu ihrer Wohnung mit der Forderung: „Lass sie in meine Wohnung“.

Das Ende der Geschichte bleibt also offen. Und man weiß auch nicht, ob Reither bei seiner großen Liebe Leonie bleibt. Deutlich wird aber auch, dass das Land nicht bleiben kann, was es ist. Es muss zu tiefgreifenden Veränderungen kommen.

Viel Begeisterung im Publikum, der Autor Bodo Kirchhoff war bei der Premiere anwesend. 

Alexander Walther

 

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