STUTTGART/ Studiotheater: STÜCK PLASTIK – EIN PERFEKTES ABHÄNGIGKEITSVERHÄLTNIS
Premiere: „Stück Plastik“ von Marius von Mayenburg im Studiotheater am 12. Oktober 2016/STUTTGART
Jennifer Lorenz, Lisa Wildmann. Copyright: Stefan Haase
Gestresste Mittelstandsmenschen stehen im Mittelpunkt von Marius von Mayenburgs Stück „Stück Plastik“, wo es nur vordergründig um Schmutz, Abfall und Müll geht, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben. Die ungesunden Ausmaße übertragen sich blitzschnell auf die menschliche Seele, was in der durchaus subtilen Regie von Benjamin Hille hier oftmals drastisch zum Vorschein kommt. Und so wird von dem Ehepaar Ulrike und Michael, das Lisa Wildmann und Stefan Müller-Doriat facettenreich und emotional mimen, plötzlich eine Putzkraft engagiert. Jennifer Lorenz mimt diese Putzfrau mit stoischer Ruhe. Sie lässt zunächst nicht ahnen, zu was sie wirklich fähig ist. In der Ausstattung von Leonie Mohr und Hannes Hartmann übertragen sich die beengten Wohnverhältnisse auf das Sozialverhalten der Figuren. Die Sauberfrau aus Halle hört immer wieder nur zu anstatt zu reden und ist Kummerkasten für die ganze Familie. Aber sie putzt auch den letzten Dreck weg. Ulrike wirft ihr schließlich vor, dass sie stinke. Das führt zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem Ehepaar. Außerdem regt sich Ulrike über Geld auf, das einfach nur so herumliegt. Letztendlich unterstellt sie der Putzfrau, dass sie auf die Scheine scharf ist und sie stehlen will. So spitzt sich die Situation immer mehr zu. Der von Florian Wilhelm glaubwürdig gespielte, stark pubertierende Sohn Vincent filmt die Putzfrau beim Duschen mit der Kamera, was seinen Vater zu einem Tobsuchtsanfall herausfordert. In diesen Momenten sieht man die Figur der Putzfrau als überdimensionalen Schattenriss. Das sind starke Bilder. Als auch noch Ulrikes künstlerischer Arbeitgeber Haulupa (furios: Stefan Wancura) in die Szene hereinplatzt, ist es um den Frieden im Haus geschehen, denn er bekommt rasch Wind von der Reinemachfee und macht sie an. Der Provokationsmodus des Konzeptkünstlers eskaliert immer mehr, er entpuppt sich sogar als schamloser „Pornomann“, der alle Frauen ficken möchte. Es kommt zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen den beiden Männern. Manches geschieht hier in spannungsreicher Zeitlupe, wirkt aber zuweilen fast etwas übertrieben. Ulrikes Gatte, der als Arzt und Wohlstandsspießer bei „Ärzte ohne Grenzen“ mitmacht, ist zuletzt psychisch völlig überfordert und sucht bei der Putzfrau Trost, die ihn in die Arme nimmt. Doch der Konzeptkünstler heizt die brenzlige Situation immer mehr an, greift Beuys‘ Idee der „sozialen Plastik“ auf. Und der pubertierende Sohn erhält von der Reinemachfrau Jessica plötzlich ein Frauenkleid. Benjamin Hille gelingt es hier, zwischen den einzelnen Personenkonstellationen geradezu elektrisierende Spannungsmomente zu schaffen, die den Zuschauer ungemein fesseln. Die Bühne wird zuletzt regelrecht umgewandelt, man zieht einfach die Tapetendecke weg. Und die Figuren verlieren so endgültig den Boden unter den Füßen. Die seltsame Putzfrau antwortet auf alle Spitzfindigkeiten und Vorwürfe immer wieder nur: „Muss Ihnen nicht peinlich sein, ich putz das einfach alles weg, ich schau da gar nicht länger hin.“ Doch zuletzt schaut sie dann sehr wohl genau hin, denn sie vergiftet die gesamte Familie nebst dem durchgeknallten und grob überschätzten Konzeptkünstler Haulupa mit einer Suppe. Der gesellschaftliche Verfall erreicht hier ein groteskes und unfassbares Ausmaß. Es kommt zu einer „selbstkannibalistischen Ausbeutung“.
Es gab starken Schlussapplaus für alle Darsteller.
Alexander Walther