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STUTTGART/ Studiotheater: „Komm Ma Janz Nah Bei Mir“

02.12.2022 | Theater

Premiere von „Komm Ma Janz Nah Bei Mir“ mit Sabine Dotzer am 1. 12. 2022 im Studiotheater/STUTTGART „

Gänsebraten mit Oma Herta

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Sabine Dotzer, Anna Breidenstein. Foto: Studiotheater

Bienchen pass ma uff, dit is dein Leben und da kann dir keena rinreden, aber eens sag ick dir, pass schön uff und imma mit Gummi!“ Über den Charme der berühmten Berliner Schnauze kann man in der autofiktionalen Erzählung von Sabine Dotzer (Kunstkollektiv 1027) viel erfahren. Oma Hertas Ratschlag ist für die Elfjährige sehr wichtig. Und Herta ist ebenfalls eine resolute Mutter, die ihre Kinder vor bösen Lehrern schützt. 1960 zieht Oma Herta dann von Ost-Berlin weg: „Nee, nich wegen de Politik. Bei uns jabs fiese Matenten, deswegen ham wa uns rüba jemacht!“ Und man erfährt viel von den Observationen der Staatssicherheit – und auch darüber, dass sich angeblich niemand vor der Mauer fürchten muss. Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl schwärmt hier sogar von „blühenden Landschaften“. Die Schauspielerin Sabine Christiane Dotzer findet nach dem Tod ihrer Großmutter Herta Scheidungsdokumente aus den 60er Jahren. Der Prozess gegen deren Mann Kurt Malü wird akribisch aufgerollt. Da er Beziehungen zu anderen Frauen hatte, eskaliert die Situation. Das Geschehen beeinflusst auch die Beziehung zu ihrer  Enkelin. Ein poetischer Dialog mit viel Musik beginnt, die die Geigerin Anna Breidenstein gestaltet. Von Eugene Ysaye erklingen Auszüge aus der Violinsonate Nr. 4 – und der meditative Auszug aus „Fratres“ von Arvo Pärt passt ebenfalls zum Geschehen. Die Toccata aus der Partita für Violine solo op. 12 von Vytautas Barkauskas sowie Ausschnitte aus Johann Sebastian Bachs Sonate Nr. 3 für Violine Solo ergänzen diesen reichen melodischen Reigen mit kontrapunktischem Feinschliff.  Breiten Raum nimmt außerdem „das Kochbuch aus Berlin“ ein. Und man erfährt hier viel von der markanten Zubereitung des berühmten Gänsebratens: „Der Berliner hatte von jeher eine innige Verbindung zu seinem geliebten Federvieh, den ersten Platz nahm dabei bis auf den heutigen Tag der Gänsebraten besonders zu Weihnachten ein.“ Dabei entfaltet der Reiz des Gänsebratens aufgrund des ironisch-präzisen Spiels von Sabine Dotzer einen unbeschreiblichen Zauber. Die Liebe zum Federvieh zeige auch die in Berlin nach dem Krieg voll angelaufene Hähnchenwelle. Ihr berühmter Initiator, Hühner-Hugo, sei in diesem Jahr verstorben. Berlin war und sei Umschlagplatz dieses Geflügels für den mitteleuropäischen Raum. Auf der Bühne sieht man neben einem Totenkopf, einem Kinderwagen, Stühlen und einem Tisch einige Fernsehapparate, die viel vom Seelenleben der Protagonistin erzählen (Video: Antonio Lallo). Dann wird außerdem das Geschehen des Zweiten Weltkriegs reflektiert – und der Schrecken geschildert, als die Russen kamen. Dieses Stück lebt ganz von den intensiven Momentaufnahmen des Lebens: „Du bist nackich uff die Welt jekomm und nackich musste eben ooch wieder jehn.“ Sabine Dotzer erzählt hier virtuos und witzig von Filmen mit Terence Hill und Bud Spencer – und man erfährt, dass Arnold Schwarzenegger auch vor einem Totenkopf keine Angst hat. Und als Kind erlebt die Protagonistin eine Oma, die Pornos anschaut. Die Situationskomik der Handlung steigert sich noch ganz erheblich, als die Schauspielerin eine Zuschauerin aus dem Publikum auf die Bühne holt und Karten liest. Dazu wird das griechische Getränk Uzo gereicht. Als sie vom Sterben ihrer geliebten Oma erzählt, gewinnt das Spiel von Sabine Dotzer eine immer größere Intensität. Und auch das Geigenspiel von Anna Breidenstein scheint plötzlich immer leiser zu werden und zu sterben. Bei diesem Stück kann man dem Berliner jedenfalls ganz tief in die Seele blicken. Und deswegen kam der Abend beim Publikum auch sehr gut an.

Alexander Walther

 

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