Premiere „Das wirkliche Leben“ am 20. Februar 2025 im Studiotheater/STUTTGART
Rettung aus der Gewaltspirale
Leonore Magdalena Lang. Foto:S tephan Haase
„Eine Frau muss sich immer wieder gegen die Welt durchsetzen, auch wenn sie das zerbricht“. Dieses Zitat von Simone de Beauvoir prägt auch den Roman von Adeline Dieudonne, dessen Theaterfassung in der subtilen Regie von Yassin Trabelsi jetzt Premiere hatte. Im Zentrum steht hier eine junge Frau, die nicht nur gegen die Strukturen ihrer Familie, sondern auch gegen ihre eigene Angst und Ohnmacht kämpft. Selbstbehauptung und Emanzipation haben dabei eine zentrale Bedeutung. Leonore Magdalena Lang als Erzieherin und Adeline gelingt es dabei hervorragend, das Leben dieser jungen Frau lebendig werden zu lassen. In einer Vorstadtsiedlung wird sie von ihrem von Sebastian Schäfer glaubwürdig verkörperten Vater und ihrer emotional abwesenden Mutter (als „Maman“ wandlungsfähig: Sabine Christiane Dotzer) mit Schweigen und Missachtung gestraft. Die Mutter wird auch körperlich angegriffen – und die Erzählerin erlebt als Adeline durch ihren Vater ebenso physische Gewalt. Der kleine Bruder Gilles (ebenfalls überzeugend: Robin Kümmel) hellt den Alltag auf. Und die junge Frau versucht, den Bruder vor der väterlichen Gewalt zu schützen. Als sie den tragischen Tod eines alten Eisverkäufers (Sebastian Schäfer in einer unheimlichen weiteren Rolle) miterlebt, spitzt sich die Situation dramatisch zu. Der Sahnespender explodiert und zerfetzt das Gesicht des alten Eismannes. Dann sieht man nur noch einen blutigen Totenschädel. Zuvor hat Peter Tschaikowskys „Blumenwalzer“ den hereinfahrenden Wagen des Eisverkäufers begleitet. „Das wirkliche Leben“ wird unerträglich. Nacht sowie Licht und Schatten fesseln hier in atemloser Weise den Zuschauer. Das Gesicht der Erzählerin erscheint immer wieder im gespenstischen Scheinwerferlicht
Die Schauspieler agieren auch im Publikum, stellenweise kann man Realität und Fiktion in der Dunkelheit gar nicht mehr unterscheiden. Das Bühnenbild von Corentin „Coco“ Muller zeigt neben einer Fernseh-Attrappe mit „Tagesschau“-Szenen zudem ein Hirschgeweih-Arsenal, das auf den verrückten Jagd-Instinkt des Vater hinweist. Manchmal öffnet sich die Bühne und gibt damit weitere alptraumhafte Szenarien frei – so beispielsweise das Säure-Attentat auf eine junge Frau. Gewalt und Brutalität sind an der Tagesordnung – vor allem dann, als der Vater seine Kinder kurzerhand zu Testpersonen von Mutproben im Wald erklärt. Die Tochter möchte ihren Bruder retten, während die Mutter an der bedrückenden Atmosphäre seelisch zerbricht. Bei einer weiteren heftigen Auseinandersetzung wird der verhasste Vater von Gilles erschossen.
Die gepeinigte Familie kehrt damit ins „wirkliche Leben“ zurück. „Das wirkliche Leben“ als Coming-of-Age-Roman zeigt, wie es der Protagonistin schließlich gelingt, ihr Leben nach ihren eigenen Regeln zu gestalten. Die Frage, wie weit man gehen muss, um endlich Freiheit zu erlangen, erweist sich von zentraler Bedeutung. Die Musik von Sven Daniel Bühler verdichtet die beklemmende Atmsophäre. In weiteren Rollen überzeugen Sabine Christiane Dotzer als Monika, Feder und Yaelle, Robin Kümmel als Dowka sowie Sebastian Schäfer als Champion und Professor. Adeline schläft zuletzt mit dem Champion und lässt sich von einem Professor als hochbegabte Musterschülerin in Quantenphysik unterrichten. Zeitgleich arbeitet sie als Babysitterin, um die Nachhilfestunden zu bezahlen. Auch ihren Hund nimmt sie vor dem gewalttätigen Vater in Schutz. Man merkt den Darstellern die Freude am Spiel deutlich an, was zur Qualität dieser Produktion entscheidend beiträgt. Es wird mit Herzblut und Engagement agiert. Die plakativen Szenen werden filmisch erzählt. Das gelingt weitgehend treffsicher, es gibt kaum Schwachstellen.
Zuletzt viele „Bravo“-Rufe, geradezu Jubel!
Alexander Walther