Stuttgarter Ballett: „STRAWINSKY HEUTE“ 13.3. 2015 (Premiere) – Vom freien Umgang mit Handlungen
Bei Igor Strawinsky bedarf es keiner Jubiläen oder Todestage, um an ihn zu erinnern – der durch die Zusammenarbeit mit dem Impresario Sergej Diaghilew zum bedeutendsten Ballettkomponisten des 20. Jahrhunderts avancierte Komponist ist immer aktuell, seine Musik alleine ist es schon wert, den neuesten dreiteiligen Abend des Stuttgarter Balletts zu besuchen. Das unter der Leitung von Musikdirektor James Tuggle alle Register an technischem und gestalterischem Können entfaltende Staatsorchester Stuttgart darf denn – ohne die tänzerischen Leistungen des Abends zu schmälern – gut und gerne am Beginn dieser Wertung stehen. So wie Strawinsky in vielen Stilen zu Hause war bzw. sie kunstvoll miteinander verquickte, so unterschiedlich begegnen auch die Choreographen von heute der körperlichen Kraft seiner Kompositionen.
Crankos „Jeu de cartes“, Tetleys „Sacre du printemps“ und Balanchines „Apollo“ sind bereits unersetzbarer Bestandsteil des Repertoires, somit oblag den beauftragten beiden Hauschoreographen Marco Goecke und Demis Volpi sowie auch dem nach langem zeitlichem Ringen endlich für Stuttgart gewonnenen Sidi Larbi Cherkaoui die Auswahl für eines der anderen Stücke des Strawinsky-Oeuvres. Ob Zufall oder Absicht – alle drei entschieden sich für Stücke, zu denen der Komponist später eine Fassung in Form einer Suite geschaffen hatte, die somit losgelöst von den ursprünglichen Handlungen sind. Die dadurch gegebene größere Freiheit hätten die drei indes nicht unterschiedlicher nutzen können und entsprachen damit auch der schillernden Vielfalt, die bereits die Musik in sich birgt.
Vogelähnliches Gebaren: Daniel Camargo in „Le Chant du Rossignol“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Am meisten losgelöst von der Geschichte entfaltet Marco Goecke seine Neufassung von „LE CHANT DU ROSSIGNOL“ (die erste Version entwarf er 2009 für das Leipziger Ballett), von der Geschichte mit dem kranken chinesischen Kaiser, der durch den Gesang einer Nachtigall den Kampf mit dem Tod überlebt ist nur noch das Vogel-Symbol übrig geblieben. Die Assoziation Flügel schlagender, flatternder, mit dem Kopf nickender und pickender Wesen ist denn seit je her mit Goeckes nervös unruhigem Stil verbunden. Diesen hat er inzwischen auf den ganzen Körper erweitert und im Aufgreifen musikalischer Akzente verfeinert. Vieles wirkt jetzt subtiler, großzügiger und spannungsfördernder. Durch den völligen Verzicht von Farben beginnt die Choreographie nach einem starken, von einem Lichtblitz in Gang gebrachten Auftakt mit aufregend die Unruhe der Musik aufgreifenden Einsätzen mehr und mehr zu stagnieren. Vieles bleibt zu geheimnisvoll und wenig greifbar auf der wieder einmal dämmrig ausgeleuchteten Bühne. Zwei Tänzer mit einer auf den freien Rücken aufgemalten Sonne geben ebenso Rätsel auf wie der zum Schluss einsetzende Regen, unter dem Daniel Camargo ein abstrakt gesehen ausdrucksgesättigtes Solo abliefert. Der Erste Solist führt denn insgesamt das zehnköpfige Ensemble aus größtenteils Gruppentänzern/innen (akkurat hervorstechend: Louis Stiens) sehr profiliert und vertraut mit der kleinteiligen choreographischen Sprache an. Schnäbelnde Geräusche, der Einsatz einer Kunstsprache, das vom Choreographen schon öfter verwendete Pfeifen und das aus einem von einem Tänzer über die Bühne geschobenen Kästchen dringende Tirillieren legen den Fokus ganz auf die Präsenz des Titel gebenden Vogels. Seine auf den Menschen auswirkenden magischen Kräfte bleiben jedoch unbeleuchtet, so wie das 20minütige Stück auf Dauer zu sehr im Dunkeln verharrt.
Alicia Amatriain (Teufel) umgarnt Marti Fernandez Paixa (Soldat) in „Die Geschichte vom Soldaten“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Wesentlich mehr eingefallen ist Demis Volpi zu „DIE GESCHICHTE VOM SOLDATEN“. Der hochbegabte Argentinier hat sich denn auch wirklich die Mühe gemacht, die beiden Ebenen des Stücks, die inhaltliche und die musikalische, aufzuschlüsseln, gegeneinander zu setzen und letztlich doch zu vereinen. Für heutige Verhältnisse bedient er sich dafür ungewöhnlich vieler Requisiten. Zahlreiche altertümliche Truhenschränke sowie weitere an Seilen zusammengehaltene Attrappen schaffen die Atmosphäre einer Wanderbühne, für die Strawinsky das Stück mit dem waadtländischen Dichter Charles Ferdinand Ramuz mit geringem künstlerischem Personalaufwand kreiert hatte, um nach dem enteignungsbedingten Verlust seines Vermögens schnell wieder an Geld zu kommen. Zehn Gruppentänzer greifen in meist diagonalen Formationen den Marschrhythmus des Soldaten auf, so simpel in der Anlage und doch kompliziert wie die Taktstruktur der von nur 7 Instrumentalisten bestrittenen Musik. Aus den Truhen erwachsen Scherenschnitte häuslicher Kultur, aus einer anderen schält sich der Teufel in schlangengleichen Bewegungen heraus. (Ausstattung und Kostüme: Katharina Schlipf) Die ursprünglich verschiedenen Stationen von dessen Begegnung mit dem Soldaten fasst Volpi zu einer einzigen, sich beständig steigernden Konfrontation, zu einem ungewöhnlichen Pas de deux sich überkreuzender Details zusammen. Sieger dieses Kampfes, bei dem der Teufel dem Soldaten im Gegenzug für seine Geige ein Zauberbuch mit der Verheißung großen Reichtums verspricht, bleibt natürlich das Böse. Eine Paraderolle für Alicia Amatriain, die unterstützt von einer Gesichtsmaske, weißer Schminke und im Ansatz erkennbaren Hörnern mit beschwörend mäandernder Dämonie und gleichzeitig höchst geschmeidiger Lustbarkeit die Grenzen eines von Knochen bestimmten Bewegungsradius aushebelt. Gegen die zerstörerische Macht weiß sich der Soldat lange die Seele seines Geigenspiels zu bewahren, ehe er die Kraft verliert und nach dem Verlust des in den zuletzt echten Flammen landenden Instruments tot zu Boden fällt. Eine großartige Chance für den Eleven Marti Fernandez Paixa, die er so weitreichend nutzt, dass seine Ausstrahlung und der Wandel seines Wesens von jugendlicher Frische zu Altersmüdigkeit neben dem famosen Teufel bestehen können. Die Verteidigung des Künstlertums, ja der Kunst und ihrer schöpferischen Kräfte, vertreten durch die Violine, als Essenz des Stückes bringt Volpi, angeregt durch die so einfache und doch so rhythmisch komplexe Musik und durch die Mischung mit volksnahen Elementen sehr anschaulich auf den Punkt. Und setzt gar noch eines drauf, indem er dem genüsslich einen Joint rauchenden Teufel Franz Schuberts „Holde Kunst“ mit Maria Theresa Ullrich warm schimmerndem Mezzosopran als unsichtbarer Stimme entgegenhält und so ein deutliches Bekenntnis für die Unsterblichkeit der Künste abgibt!
Fest der Sinne: Rachele Buriassi und Jason Reilly in Cherkaouis „Feuervogel“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Ist danach noch eine Steigerung denkbar? Ja, „DER FEUERVOGEL“ macht es möglich. Allein schon durch den dynamischen Umfang seiner Musik, das Miteinander von Spätromantik und Diatonik. Und zusätzlich in der mit Spannung erwarteten Version des belgisch-marokkanischen Choreographen Sidi Larbi Cherkaoui, dessen aus vielen Kulturen gespeister fließender Stil die ideale Basis für ein Stück ist, das von Vögeln und dem Grundelement des Feuers handelt. Cherkaoui benötigt indes gar nicht die Märchenhandlung um den Zarewitsch Iwan, die Prinzessinnen, dem Zauberer Kastchej und dem geheimnisvollen Titelrollenträger, die Musik mit ihren fluoreszierenden Farben bietet ihm genügend Material, um die Stimmung, den Energiefluss aufzugreifen und mit Hilfe von sechs verschieb- und drehbaren vulkanförmigen Elementen, in deren rückwärtigen Spiegeln und mit Unterstützung eines regenbogenartigem Beleuchtungsspektrums die Bewegungen vervielfacht erscheinen zu lassen (Bühne und Licht: Willy Cessa) und damit das unablässige Flackern von Flammen zu illustrieren. Die Kostüme des Designers Tim van Steenbergen greifen die Vogelsymbolik in gerippeähnlichen Oberkörper-Tops auf, die bei den Herren schwarze Hosen und bei den Damen meist helle cremefarbige dreiviertellange Röcke ergänzen. Sowohl bodenbehaftete Motionen wie auch irrsinnig viele Hebungen sind pausenlos wie in einem unendlichen Kreislauf miteinander verkettet. Wallende Tücher, die die Tänzer ausspannen und den orange leuchtenden Feuervogel umschließen befördern noch dieses Fest der Sinne, bei dem alle Komponenten so fließend wie die Choreographie selbst ineinander münden. Das reichhaltige Futter des Choreographen wurde von den Tänzern spürbar aufgesaugt und mit Lust an der Balance und am Abheben in die Luft umgesetzt. Hier waren natürlich die ersten Solisten/innen gefragt, mit Anna Osadcenko in der Titelrolle an der Spitze, gefolgt von Miriam Kacerova, Rachele Buriassi und Elisa Badenes, bei den Herren Jason Reilly, Friedemann Vogel und Daniel Camargo, ergänzt von weiteren drei Damen und 6 Herren des Ensembles. Sie alle sind gleichberechtigt eingesetzt, keiner hat ein auffallendes Solo, was natürlich auch die Geschlossenheit, den Fluß des Werkes und schließlich auch die Gesamteinwirkung auf die Sinne unterstützt.
Wahrscheinlich waren die Zuschauer ob so viel berauschender Harmonie und Vollkommenheit buchstäblich gebannt und sprachlos, dass die in der Luft gelegene Euphorie am Schluss dann doch nicht so feurig ausbrach und die beiden Hauschoreographen in der Publikumsgunst kaum zurückstehen mussten.
Udo Klebes