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STUTTGART/ Staatsoper: „WERTHER“ – dichtes Kammerspiel mit Fragwürdigkeiten

16.06.2022 | Oper international

Staatsoper Stuttgart: „WERTHER“ 15.6.2022 – dichtes Kammerspiel mit Fragwürdigkeiten

Vor knapp einem Jahr war Jules Massenets populärste Oper nach Goethes Briefroman Corona-bedingt verspätet zur Premiere gekommen. Felix Rothenhäusler hatte das lyrische Drama zufällig so spartanisch in Szene gesetzt, dass es den damaligen Pandemie-Auflagen entsprach.

Im Bühnenhintergrund ist das Orchester platziert, den gesamten vorderen Bereich nimmt als Spielfläche eine hell beleuchtete große weiße Scheibe ein, die von allen Seiten mit einem Schritt betreten werden kann. Jegliche szenische Verortung und Requisiten fehlen, die Handlung findet nur in einem rein gedanklichen Raum statt und überlässt den Zuschauern eigene Phantasien. Somit sehr hautnah ans Publikum herangeholt, kann sich das Geschehen in kammerspielartiger Dichte entfalten. Das Hauptaugenmerk richtet sich ganz auf die Personen. Einschränkend, ja teilweise enervierend sind die häufigen Umkreisungen der Personen, unmotiviert wirken die manchmal wiederholten Umrundungen der Scheibe, irritierend einige unlogische Auf- und Abtritts-Vorgaben. Während die Genreszenen der trinkfreudigen Kumpane des Amtmanns eliminiert sind, sitzen in den vorderen Reihen verteilt die Kinder und einige ebenso die Sitze überkletternde Statisten, deren Funktion ebenso fragwürdig bleibt wie der Amtmann in einer Arbeitsmontur mit der Aufschrift „Security“ und Charlottes Schwester Sophie als Geschäftsfrau im grünen Mini-Kostüm mit Aktenkoffer (Kostüme: Elke von Sivers). Als Höhepunkt verbleibt die Sterbeszene, in der es rote Blüten als Symbol für das vergossene Blut als auch der Naturverbundenheit Werthers regnet, und in deren Bett Werther und Charlotte endlich zueinander finden – zu spät.

Dieses Konzept ist als Ganzes betrachtet trotz aller Fragezeichen eines längeren Verbleibs im Repertoire würdig.

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Rachael Wilson, Atalla Ayan. Foto: Martin Sigmund

Das Hauptinteresse galt Atalla Ayan, der in dieser Aufführungsserie sein Rollendebut als Werther feierte. Der dem Haus seit vielen Jahren verbundene Brasilianer erfüllt die Anforderungen mit seinem ausgeprägt attraktiv sonnigen Timbre und der Mühelosigkeit der Registerverblendung überaus glücklich und punktet immer durch die offene Strahlkraft in der Mittellage und sicher gestützten Höhe. Dennoch hätte der etwas häufigere Gebrauch dynamischer Schattierungen und feiner Piano-Phrasen der sensiblen Seele des Dichters noch besser angestanden, auch der teilweise instrumental unterlegten Nuancierung Massenets noch mehr entsprochen. Szenisch macht er als oft hilflos Blicke werfender Naturreligiöser mit bis zur Todesszene krampfhaft umklammertem roten Rosenstrauß eine mal mehr, mal weniger überzeugende Figur.

Wie schon in der Premierenserie erweist sich auch jetzt wieder Rachael Wilson als tragendes Ereignis der Aufführung. Ihre Charlotte (im weißen Hosenanzug mit rockartig übergestreiftem Schleier) ist in der Darstellung äußerlich fraulich zart und innerlich stark zugleich, vielfach subtil in der Mimik zwischen aufblühender leuchtender Emphase und düsterem Zweifel. Allein vokal durchlebt sie die Rolle mit Intensität in allen Lagen, sprachlich erfüllter Phrasierung, fließenden hell-dunkel-Schattierungen, die mal einen Sopran, mal einen Mezzosopran vermuten lassen, entsprechender Dynamik und voller Inbrunst, doch nie streng ausartenden genau den Kern treffenden Spitzenausbrüchen. Die Amerikanerin ist ein wahrer Ensemble-Schatz.

Aoife Gibney hat als Sophie über ihre Rollenzeichnung hinweg an vokalem Schliff und Differenzierung ihres kräftigen lyrischen Soprans gewonnen, Pawel Konik dagegen als mal finster missbilligender, mal süffisant beobachtender Albert an baritonaler Rundung und idiomatischer sprachlicher Behandlung etwas verloren. Shigeo Ishino ergänzt als im Schatten verbleibender Amtmann, der Kinderchor der Staatsoper mit leichter Tongebung in der weihnächtlichen Gesangs-Probe.

Am Dirigentenpult steht Cornelius Meisters Assistent Killian Farrell, der dem Staatsorchester Stuttgart sowohl den romantischen Überschwang als auch die fast impressionistische Zerbrechlichkeit entlockt, den Solisten den nötigen Freiraum gewährt und in den Vor- und Zwischenspielen stimmungsmalerische Zeichen symphonischen Charakters setzt.

Jubel für das Hauptpaar im leider kaum zur Hälfte gefüllten Opernhaus.

Udo Klebes

 

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