Live-Stream: „Verzauberte Welt“ von Maurice Ravel am 19.2.2021 in der Staatsoper/STUTTGART
Mathematik im Flimmerkasten
Verzauberte Welt ~ Staatsioper Stuttgart ~ Das Kind (Diana Haller), Der Kater / Die Standuhr (Elliott Carlton Hines) ~ Foto: Matthias Baus
Wütend über Hausaufgaben und Liebesentzug randaliert hier ein Kind, bis die von ihm misshandelten Dinge und Tiere Widerstand leisten. Maurice Ravels selten aufgeführte Oper „Das Kind und die Zauberdinge“ reflektiert in raffiniert-impressionistischer Weise die Grenzerfahrungen eines Heranwachsenden. Das Werk wurde von Schorsch Kamerun zu einem Spielparcours erweitert, bei dem 24 Stuttgarter Kinder mitwirken. Gemeinsam mit den Erwachsenen verwandeln sie den einsamen Protest in einen wundersamen Gegenzauber gegen die Reglementierungen dieser Welt. In der Multiperspektive wird dabei die Kamera ausgesprochen kunstvoll eingesetzt. Das Kind rettet schließlich ein Eichhörnchen und wird dann wieder in die schwierige Welt der Erwachsenen aufgenommen.
Das Bühnenbild von Katja Eichbaum und die Kostüme von Gloria Brillowska werden Schorsch Kameruns Intentionen voll gerecht, der sich immer noch als „Punker“ versteht, obwohl er schon Opern inszeniert hat. Laut eigener Aussage hat dieses Werk auch mit ihm selbst viel zu tun. Denn er spielt nicht umsonst ebenfalls ein Kind. So ist eine bunte, schillernde und ausserordentlich einfallsreiche Produktion entstanden, die den Zuschauer immer wieder fesselt und mitreisst. Dazu trägt auch der frühere Generalmusikdirektor Dennis Russell Davies bei, der mit den Musikern des Staatsorchesters Stuttgart vor allem auch den unbeschreiblichen Klangzauber von Ravels Märchensuite „Ma Mere L’Oye“ beschwört. Reizende Themen kommen hier im wahrhaft opulenten Klanggewand daher.
Claudia Muschio. Foto: Matthias Baus
Und die Sängerinnen und Sänger werden von ihm auf Händen getragen. Allen voran Diana Haller als herrlich aufmüpfiges Kind, die sich mit ihrer Mutter (facettenreich: Maria Theresa Ullrich) ein köstliches Duett liefert. Maria Theresa Ullrich brilliert zudem in weiteren Rollen als Chinesische Tasse und Libelle. Es gibt hier hervorragende Passagen, die man nicht vergessen kann. Dazu gehört in jedem Fall das herrlich expressive „Feuer“ mit der ausgezeichneten Koloratursopranistin Claudia Muschio, die zu immer neuen und waghalsigen chromatischen Höhenflügen startet. Claudia Muschio begeistert auch noch als Nachtigall und Prinzessin. Für einen weiteren Glanzpunkt sorgt Charles Sy als altes Männchen, das in einem unglaublichen Flimmerkasten die „Mathematik“ beschwört und deswegen von den Kindern verspottet wird. Die rhythmischen Finessen dieser Passage sind beachtlich. Weitere Höhepunkte sind die elegische „Pavane für Dornröschen“, die atemlose Passage vom kleinen Däumling sowie der dritte Satz von „Ma Mere L’Oye“, der das Leben von Laideronette beschreibt, der Kaiserin der Pagoden. Der vierte Satz besticht schließlich als charakteristisches Bild von „La Belle et la Bete“, die durch ihre Liebe ein unglückliches Tier erlöst. Als dunkelgetönter langsamer Walzer kommt dabei die schmerzvolle Melodik daher. Der wunderbare „Feengarten“ führt schließlich zu einer dynamisch gewaltigen Steigerung im Stil einer Zauberstimmung. Die feinsten Reize einer ausgeklügelten Melodie beschwören ebenfalls Carina Schmieger (die Bergere, Schäferin, Eule, Fledermaus), Linsey Coppens (Katze, Eichhörnchen, Schäfer), Jasper Leever (Sessel, Baum) sowie Elliott Carlton Hines (Standuhr, Kater). Schorsch Kamerun agiert hier selbst als Erzähler und eigenwilliges Kind und trägt seine witzig-hintersinnigen Texte vor.
Hinzu kommen Mitglieder des Staatsopernchores sowie der Kinderchor der Oper Stuttgart, die das polyphone Klanggewölbe nuancenreich ausfüllen (Leitung: Bernhard Moncado). Klarheit, Helle und Durchsichtigkeit des mediterranen Geistes überzeugen in dieser überaus fantasievollen Inszenierung von Schorsch Kamerun, bei der das Libretto von Colette durch Kameruns eigene Songs und Texte erweitert wird. Eine vital-temperamentvolle Reaktionsfähigkeit beherrscht dabei das Geschehen in bunten Fantasiekostümen und seltsamen Haarfrisuren, die manchmal wie ein orientalischer Turban aussehen. Selbst das Foyer der Staatsoper Stuttgart wird hier für das wilde Treiben im Stil eines imaginären „Sommernachtstraums“ verwendet. Die reich gefärbte Klangpalette nutzt Schorsch Kamerun in seiner ausgeklügelten Regiearbeit auch optisch. Abgerissene Melodiewendungen tauchen wiederholt in flackerndes Licht, mattschimmernde Arabesken unterstreichen die fast schon surrealistischen Effekte.
Alexander Walther