
Simone Schneider (Salome). Foto: A.T.Schaefer
Gewalt des Patriarchats
Anlässlich der Freilassung von Kirill Serebrennikov aus dem Hausarrest in Moskau zeigt die Staatsoper dessen „Salome“-Produktion in einer Wiederaufnahme. Kirill Serebrennikov stellt die Geschichte einer kaputten Familie in einer kaputten Welt ins Zentrum seiner Inszenierung von Strauss‘ Oper. Im Zuge der Wohlstandsverwahrlosung wird die Gewalt des Patriarchats in den Mittelpunkt einer modernen Fernsehwelt gerückt. Jochanaan ist ein IS-Kämpfer, die Figur ist als Stimme und als Körper zu erleben. Im Fernsehen sieht man neben Donald Trump auch Angela Merkel, das gesamte Weltgeschehen wird ad absurdum geführt. Salome begehrt immer wieder gegen ihre Familie auf – sie langweilt sich bei ihren Eltern Herodes und Herodias. Die Begegnung mit dem Propheten Jochanaan ist für Salome in dieser Inszenierung eine Art Befreiungsschlag (szenische Leitung der Wiederaufnahme: Carmen C. Kruse). In suggestiven Video-Sequenzen von Ilia Shagalov (Bühne: Pierre Jorge Gonzalez) werden islamische Konflikte in beklemmender Großaufnahme gezeigt, es kommt zu handgreiflichen Übergriffen und Bedrohungen, die den Zuschauer unmittelbar fesseln. Schließlich verlangt Salome von Herodes den Kopf des Jochanaan, weil sich dieser ihr verweigert hat. Sie konnte seinen Mund nicht küssen.
Foto: Martin Sigmund
Der Schleiertanz von Salome wird hier mit Insektenflügeln und Totenkopf nur angedeutet. Das gehört insgesamt zu den schwächsten Szenen der Inszenierung. Alles wirkt maskenhaft, in der oberen Etage vergnügt sich Herodias im Bett mit muskulösen schwarzen Männern. Die Szene mit Jochanaans abgeschlagenem Kopf wird in der Inszenierung auf offener Bühne gespielt, im Hintergrund sieht man monströse Aufnahmen von verschiedenen Gesichtern, die sich gegenseitig zu ergänzen scheinen. Sexuelle Begehrlichkeiten werden hier nur angedeutet, es gibt aber auch lesbische Tendenzen. Der in Salome unglücklich verliebte Hauptmann Narraboth zerbricht schließlich an Salomes fatalem erotischem Interesse an Jochanaan.
Unter der emotionalen Leitung von Roland Kluttig kann sich das Staatsorchester Stuttgart sehr gut entfalten. Das organisch Fließende und die freie Polyphonie dieser Musik kommen dabei überzeugend zur Geltung. Dies nutzt auch den Sängern – allen voran Simone Schneider als überaus stimmgewaltiger Salome sowie Matthias Klink als höchst erregtem Herodes. In weiteren Rollen fesseln ferner Josef Wagner als Jochanaans Stimme (Jochanaans Körper: Luis Hergon) sowie Maria Riccarda Wesseling als mondäne Herodias. Die Farbenpracht der Tonsprache vermag Roland Kluttig (ab 2020 Chefdirigent der Grazer Philharmoniker und der Oper Graz) in jeder Hinsicht zu bündeln und organisch sinnvoll zu gestalten. Kontrapunktisch reizvolle klangliche Entwicklungen sind so vorprogrammiert. Sinfonisch verdichtete Linien können sich wirkungsvoll entfalten. Eine visionäre Tonsprache beherrscht ferner den „Tanz der sieben Schleier“. Bei Salomes Schlussmonolog kann Simone Schneider das unendlich strömende Melos ganz hervorragend verdeutlichen. Hier verschmelzen Singstimme und Orchester zu einer intensiven Einheit.
In weiteren Gesangsrollen gefallen ferner Elmar Gilbertsson als verzweifelter Narraboth sowie Ida Ränzlöv als markanter Page. Die Juden sind mit Torsten Hofmann, Heinz Göhrig, Kai Kluge, Minseok Kim und Andrew Bogard fulminant besetzt. Auch die kleinen Rollen stechen hier heraus. David Steffens und Moritz Kallenberg als Nazarener, Pawel Konik und Michael Nagl als Soldaten sowie Jasper Leever als Kappadozier und Aoife Gibney als Sklave bieten facettenreiche Rollenporträts. Das dichte Geflecht von Leitmotiven wird unter der Leitung von Roland Kluttig immer wieder stimmungsvoll entwirrt, äußere und innere Dynamik ergänzen sich. Die wie Schreie wirkenden Motive werden von einer nervösen Gesangslinie durchbrochen. In dem turbulenten Geschehen ragen die monumentalen harmonischen Blöcke wie wuchtige Quadern hervor – doch die Singstimmen werden vom Staatsorchester Stuttgart nie zugedeckt. Wie in einer Stretta erfolgt der letzte scharfe Zusammenstoß der unvereinbaren Gegensätze von Jochanaan und Salome: „Deinen Mund begehre ich, Jochanaan!“ Im Schlussmonolog von Salome gelingt es Simone Schneider glänzend, den musikalischen Wettstreit zwischen den beiden extremen Tonarten As-Dur und Cis-Dur herauszuarbeiten. Auch der streng symmetrische Aufbau des Judenquintetts wird von Roland Kluttig nie vernachlässigt. Zuletzt gab es Jubel für alle Beteiligten.