Staatsoper Stuttgart: „RUSALKA“ 9.6.2022 (Premiere 4.6.) – Unvereinbare Welten im Spiegelglanz
Esther Dierkes (Rusalka) und Reflekta (Dragdarsteller). Foto: Matthias Baus
Figurenverdoppelungen sind ein inzwischen ziemlich aus-, wenn nicht gar überreiztes Stilmittel auf der Opernbühne. Im Falle von Bastian Kraft, der jetzt an der Stuttgarter Oper das seit rund 40 Jahren nicht mehr am Haus gespielte Hauptbühnenwerk Antonin Dvoraks in Szene gesetzt hat, darf diese Anwendung zumindest teilweise verteidigt werden. Das wesentliche Thema des Stücks, das Jaroslav Kvapil nach Hans Christian Andersen als Libretto eingerichtet hatte, ist der Wunsch und die Sehnsucht nach Anderssein, die Verwandlung und letztlich die Unvereinbarkeit zweier Welten. Und so schlüpfen Drag-Darsteller in Lackleder und Plateau-Schuhen mit schillernden Applikationen als Inbegriff der nicht eindeutigen Trennung der Geschlechter mit in die Rollen der Wasserwelt, doubeln die Sängerdarsteller mit choreographisch geprägten Bewegungen und formen deren Gesang mit den Lippen nach. Letzteres verdeutlicht zwar ihren Drang sich Gehör zu verschaffen, lenkt denn aber auch teilweise von den Solisten ab, vor allem wenn sie dicht beieinander stehen oder sich umkreisen.
Die Trennung zweiter Welten markiert auch die von Peter Baur eingerichtete weigeschossige Bühne. Unten ist Rusalkas Welt angesiedelt, wo sich eine wannenförmige Fläche mit den Elfen und dem Wassermann spiegelt und im Licht wie ein kleiner See glitzert. Das bedient die märchenhafte Seite des Stückes. Ein Stockwerk darüber treten die Sänger in zu ihren Doubles farbimmanenten Gewändern ans Geländer. Im zweiten Akt fährt dieses Podium für die Szene in der Menschenwelt so weit nach unten, dass nur eine schmale Unterbühne für kriechende Bewegungen bleibt. Zu sehen sind sonst nur zwei Schminktische und Kleiderständer. In dieser Garderobe erscheint auch der in Schwarz zur Hochzeit versammelte Chor (Kostüme: Jelena Miletic). Der Staatsopernchor Stuttgart, einstudiert von Manuel Pujol, gibt diesem recht kurzen Auftritt neben gewohnt tadellosem vokalem Zuschnitt auch szenisches Profil. Beide Welten sind durch einen linksseitigen Leiterturm miteinander verbunden, was für die Menschendarsteller einige Kletteraktionen bedeutet. Abgesehen von einem kurzen Video mit der Ansicht eines mit einer Barbiepuppe mit Fischschwanz spielenden Jungen zum Orchestervorspiel verzichtet der Regisseur dankenswerterweise auf zusätzliche Beigaben und Ablenkungen. Die Hexe ist eine schillernde Frau in langem Mantel und mit einer üppigen violetten Lockenperücke, die Fremde Fürstin eine etwas plakativ im roten Kleid und mit High Heels auftretende Verführerin. Der Prinz zuerst in rotem Anzug, dann in schwarz mit Hosenträgern und weißem Hemd, Rusalka selbst in langem dunkel grün-blauem Kleid, ihr Double mit zusätzlich verflochtenem Haar und langem weißem Schleierrock zum Fest im zweiten Akt. Überhaupt muss die Leistung von Reflektra, einem Dragdarsteller mit tänzerisch geschmeidigem Bewegungsduktus, extra gewürdigt werden. Am Ende, wenn Rusalka und der Prinz verdorben mit dem ganz einfachen Trick der Bühnenversenkung verschwunden sind, schminkt er sich ab, steigt auf der Leiter hinauf in die Menschenwelt und schwimmt/schwebt zu den letzten Takten der Musik als Puppe mit Fischschwanz weiter auf der Suche. Ein nachdenklich stimmender Schlusspunkt auf eine Inszenierung, die in Bezug auf das aktuelle Thema der Diversität neue Perspektiven eröffnet und in der Umsetzung zumindest wesentliche Elemente erfüllt.
Mit Rusalka vollzieht Esther Dierkes einen weiteren Schritt in Richtung ihres Wechsels ins Zwischenfach und zeigt sich sowohl in der Substanz als auch in klangmalerischer Hinsicht dieser Aufgabe gewachsen. Sie verfügt zwar über keinen expliziten, in dieser Partie gerne gehörten silbrig schimmernden Sopran, aber einen mit durchaus sinnlichen Reizen im lyrisch fein ausgearbeiteten Bereich und einer überwiegend vorhandenen Strahlkraft im oberen Register. Ihre Gefühle kann sie auch neben einem so starken Double durchaus tragend vermitteln.
Ihrer fürstlichen Konkurrentin gibt Allison Cook mit leicht geschärftem, dramatisch staffiertem und die Höhenklippen konsequent aussingendem Sopran sowie herausforderndem Gebaren den passenden Anstrich. Katia Ledoux verleiht der Hexe Jezibaba mit ihrem weich strömenden Mezzosopran, dunkel leuchtender Tiefe und auch in den Spitzen gewahrter Tonschönheit ein ungewohntes vokales Flair, das indes durch die so zur Figur gegebene Doppelbödigkeit, auch in Bezug auf ihre starke Ausstrahlung besonders fasziniert.
Dem gütigen, aber der Menschenwelt mit Vergeltung drohende Wassermann gibt Goran Juric sämiges und oftmals warm gefüttertes bass-baritonales Gewicht, mit würdig strömendem Tonfall und nur anfangs gegebener Überreizung in den Höhen. Im zweiten Akt mischt er sich ganz vorne an der Rampe als zu trösten versuchender Vater ins Geschehen.
So wie Rusalka nur in ihrem Umfeld als zauberhaftes Wesen den Prinzen fasziniert, so erscheint dieser auch nur in ihrer Phantasie im Wald als entsprechende Erscheinung. Demgemäß müssen wir die herkömmlichen Vorstellungen eines Prinzen aufgeben und David Junghoon Kim rein als Mensch mit einer unstillbaren Sehnsucht betrachten. Mit gedrungener untersetzter, durch seine Maske kaum Charisma zulassender Gestalt lässt der Koreaner die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die stimmliche Äußerung lenken. Im lyrisch zarteren Bereich erfüllt sein Tenor die Ansprüche an poesievolle Phrasierung. Sobald mehr Kraft verlangt ist und je höher die Tessitura klettert, umso mehr verhärtet und verengt er sich und verliert an Klang-Qualität. Da hat die Stuttgarter Oper bei Gästen schon ein wesentlich glücklicheres Besetzungshändchen bewiesen.
Natasha Te Rupe Wilson, Catriona Smith, Leia Lensing und Goran Juric (Wassermann). Foto: Matthias Baus
Natasha Te Rupe Wilson, Catriona Smith und Leia Lensing sind ein homogenes Elfen-Terzett, die obwohl als Sänger etwas an den Rand gedrängt, trotzdem sehr beteiligt am Elfenreigen teilnehmen. Warum Torsten Hofmann (mit agilem Charaktertenor) als Heger und Alexandra Urquiola (mit adäquat leichtem Mezzosopran) als Küchenjunge in Müllmänner-Montur agieren, wo ihre Rollen doch genau bezeichnet sind, bleibt eine der offenen Fragen an den Regisseur. Angel Macias (mit schon recht klangvollem Tenor für größere Aufgaben) komplettierte als Jäger im gleichen roten Habit wie der Prinz. Ein Pauschallob für die weiteren Drag-Darsteller: Alexander Cameltoe (Wassermann), Judy LaDivina (Hexe) sowie Vava Vilde, Lola Rose und Purrja (Elfen).
Viel zu erwarten war und wurde auch komplett eingelöst von Oksana Lyniv als musikalischer Leiterin. Die im letzten Jahr als erste Frau am Dirigentenpult bei den Bayreuther Festspielen in die Geschichte eingegangene Ukrainerin ließ die tonmalerische Pracht der Musik Dvoraks mit ihren fein gesponnenen Themen und ihrem warmen Herzenston mit unverstellter, nie aufgetragener Natürlichkeit verweben, fließen und mit den kontrapunktisch kräftigeren Elementen in einem Guss zu großer Oper verschmelzen. Da werden mit den MusikerInnen des Staatsorchesters Stuttgart klare Akzente gesetzt, die Stimmen so dynamisch getragen, dass es trotz der dichten Instrumentierung auch in den Ballungsmomenten zu keinen Forcierungen kommt. Und wo das Orchester mal ganz alleine gefragt ist, darf sich dieses ungehemmt entfalten.
Der Einsatz der Drag-Darsteller mag vielleicht zusätzliches Publikum gelockt haben, aber das rundweg begeistert gefeierte Ensemble mit einer Sonderovation für die Dirigentin war deutliches Zeichen allgemein hoher Anerkennung auch seitens des (Abo-)Stammpublikums.
Udo Klebes