„Rusalka“ von Antonin Dvorak am 4. 6. 2022 in der Staatsoper/STUTTGART
In einer geheimnisvollen Parallelwelt
Die im Jahre 1901 in Prag uraufgeführte Oper „Rusalka“ von Antonin Dvorak lebt ganz vom böhmischen Musikantentum und seiner Einfallsfrische. Aber auch die Tiefe der Spätromantik bleibt immer spürbar. In der Regie von Bastian Kraft und im fantasievollen Bühnenbild von Peter Baur (Kostüme: Jelena Miletic; Video: Sophie Lux) kann sich das Geschehen in einer Art Parallelwelt voll entfalten, den handelnden Personen werden imaginäre Gestalten zur Seite gestellt. Körper und Stimme werden hier auseinandergerissen, die Hexe bekommt Rusalkas Stimme.
Überhaupt erhält die Hexenszene in dieser farbenfrohen Aufführung durchaus walpurgishafte Züge. Die Bühne hebt und senkt sich, es entstehen immer wieder neue Bilder und geheimnisvolle Assoziationen. Später sieht man im Spiegelbild sogar den Orchestergraben mit der Dirigentin Oksana Lyniv, dann den Zuschauerraum in der Oper. Die Figuren werden auch von oben aus betrachtet wie in der hiesigen „Madame Butterfly“-Inszenierung von Monque Wagemakers. Aber Bastian Kraft findet dafür natürlich andere Assoziationen. Seine Inszenierung überzeugt durch innere Geschlossenheit, einzig die „Drag Queen“-Szenen wirken manchmal aufgesetzt. Es gibt außerdem Verbindungen zu Wagners „Rheingold“ hinsichtlich der Wassernixen. So gewinnt auch die künstliche Vision von Männlichkeit und Weiblichkeit immer größere Intensität. Eine doppelte Ebene behauptet sich mit Hintersinn. Nach dem Abschied der Wassernixen verrät Rusalka dem aus der Tiefe aufsteigenden Wassermann ihren Kummer. Sie liebt einen Prinzen, der sich im Bade erfrischt und möchte mit ihm in einer menschlichen Gestalt vereint sein.
Die Elfen beobachten zunächst alles auf der oberen Empore. Sie hofft auf die Hilfe der Hexe, die sie in ein berückend schönes Mädchen verwandelt. Im zweiten Akt wird die Hochzeit Rusalkas auf dem Schloss gefeiert. Man sieht die Hochzeitsgäste in Großaufnahme, die sich für die bevorstehende Feier zurechtmachen. Man raunt jedoch, dass die Liebe des Prinzen bereits erloschen sei und er sich der fremden Fürstin zuwende. Rusalka schüttet dem Wassermann ihr Herz aus, der dem treulosen Prinzen ein baldiges Ende voraussagt. Die Hexe meint, dass Rusalka nur der Tod des Prinzen den wahren Frieden wiederbringen könne. Und der Prinz sucht jetzt verzweifelt nach Rusalka, was die Inszenierung gut herausarbeitet. Der Prinz will sie küssen, obwohl sie ihn abwehrt. Er tut es dennoch und stirbt. Für einen Augenblick durchströmt Rusalka die ganze Seligkeit der Liebe. Man sieht zuletzt eine männliche Gestalt, die sich als menschlicher Fisch immer weiter in die Höhe erhebt. Diese Figur hat zuvor die Gestalt Rusalkas als imaginäre „Reflektra“ angenommen. Überhaupt spielen die suggestiven Videoprojektionen bei dieser durchaus märchenhaften Inszenierung eine große Rolle. Das Meer wird hier in all seiner unglaublichen Vielgestaltigkeit sichtbar, die sich ebenso in imaginären Spiegelbildern offenbart. Das Seelenleben der Meerjungfrau Rusalka wird so bis in seine kleinsten Regungen durchleuchtet und hinterfragt. Bilder in Großaufnahmen zeigen Rusalka und ihre Rivalin, die fremde Fürstin. Männliche und weibliche Fantasien gehen fließend ineinander über. In einer überdimensionalen Großprojektion sieht man zuletzt ein silbernes und blutendes Reh, das von einem Pfeil durchbohrt worden ist. Diese Sequenz trägt durchaus alptraumhafte Züge, die aber nicht im Vordergrund stehen. Tiefenpsychologisch hat man denn auch so manche Fragen an den Regisseur, dessen Inszenierung vor allem durch seine große und fast magische Bildgewalt beeindruckt.
Musikalisch ist dieser Abend aber wirklich eine Offenbarung, weil die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv am Pult steht. Sie entlockt der Musik Antonin Dvoraks eine leidenschaftliche Emphase und rhythmische Perfektion, die bemerkenswert ist. Das unheilvolle Drohen des Wassermanns ist schon im Orchesterprolog zu spüren, dessen Anklänge an Brahms und Wagner Oksana Lyniv mit dem Staatsorchester Stuttgart nicht verleugnet. Auch die Liebessehnsucht Rusalkas wird von der hervorragenden Sopranistin Esther Dierkes gesanglich leuchtkräftig und wandlungsfähig verkörpert. Als zweite Figur ist ihr „Reflektra“ als weitere Protagonistin und „Drag Queen“ symbolhaft zur Seite gestellt. Reflektra wird sich zuletzt abschminken und wieder ganz ihre ursprüngliche männliche Gestalt annehmen. Der Verlust der eigenen Stimme ist überhaupt das zentrale Motiv in „Rusalka“. Die Wald- und Wasserwesen performen so ihre eigene Stimmlosigkeit als Drag Show mit Lip-Sync-Elementen. Das ist eine Version, die zwar originell, aber manchmal auch gewagt ist. Doch damit lässt sich natürlich auch Unterdrückung und Widerstand ausdrücken. So arbeitet Oksana Lyniv die packenden dramatischen Effekte dieser Musik überzeugend heraus.
Esther Dierkes als Rusalka gestaltet ihre Arie „Gleitender Mond, du, so silberzart“ ausgesprochen berührend. Und im zweiten Akt wird der fast satirische Charakter der Spieloper jedoch nicht übertrieben. Selbst die ritterliche Festmusik besitzt hier einen ironischen Unterton. Vor allem die gewaltigen dynamischen Steigerungen hat Oksana Lyniv mit dem Orchester voll im Griff. Auch Rusalkas heftige Klage „Verstoßen von euch“ gewinnt Esther Dierkes in der Titelrolle zielsichere stimmliche Höhenflüge ab. David Junghoon Kim (Tenor) als Prinz gestaltet seine Partie ebenfalls strahlkräftig und klangfarbenreich. In weiteren Rollen überzeugen ferner Allison Cook (Sopran) als fremde Fürstin, Goran Juric (Bass) als fulminanter Wassermann (sowie Alexander Cameltoe als seine choreographische Entsprechung), Katia Ledoux (Alt) als Hexe Jezibaba (tänzerische Entsprechung: Judy LaDivina), Torsten Hofmann mit schelmischem Parlando (Heger), Alexandra Urquiola ebenfalls mit heiterem Parlando (Küchenjunge), Natasha Te Rupe Wilson (erste Elfe) und Vava Vilde (choreographische Ergänzung), Catriona Smith (zweite Elfe) und Lola Rose (choreographische Ergänzung), Leia Lensing (dritte Elfe) und Purrja (choreographische Ergänzung) sowie Angel Macias (ein Jäger). Die subtile Choreograhie der Elfen stammt von Judy La Divina und die Choreographie der Rusalka von Reflektra/Joel Small. Manuel Pujol hat den Staatsopernchor Stuttgart wieder kraftvoll und höhensicher einstudiert.
Weitere musikalische Höhepunkte sind die Arie Rusalkas in F-Dur im dritten Akt, wo sie zum wesenlosen „Irrlicht“ wird und das überaus kantable Lied des Wassermanns im zweiten Akt, wo seine Hilflosigkeit in Form der präzis herausgearbeiteten Quintfallsequenz deutlich wird. Auch die Polka im zweiten Akt beim Auftritt Hegers und des Küchenjungen überzeugt mit elektrisierender Rhythmik.
Zuletzt großer Jubel, „Bravo“-Rufe und Ovationen.
Alexander Walther